„Mode” – das sind und waren vor allem nicht die Unterschiede in den Formen und Farben der Kleidung, die wir sehen, wenn wir den Alltag historisch entfernter Kulturen entdecken wollen. Römer trugen Togen, mittelalterliche Adlige warfen sich lange Schärpen über, die Bürger des Barock zwängten sich in beängstigend enge Beinkleider, während ihre Nachfolger zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nur selten ohne einen Zylinder auskamen — aber sie alle hielten ihre Gewänder für (dem jeweiligen sozialen Stand entsprechend) „richtig,” ja wohl für alternativenlos — und hätten deshalb kaum die Frage verstanden, ob sie denn „zeitgemäß” angezogen waren. Erst in dem Jahrzehnt zwischen 1850 und 1860 kam ein nach Paris ausgewanderter englischer Schneider namens Charles Frederick Worth auf die Idee, seinen Kunden Kleidung anzubieten, deren Stil sich zwar regelmäßig verändern, aber zugleich rasch aufeinander folgenden „Kollektionen” eine jeweilige Einheit und schließlich dem Namen seiner Firma durch allen Wandel hindurch eine Identität geben sollte. Mit Worths schnell einsetzendem und bald schon über die Grenzen Frankreichs hinaus ansteckendem Erfolg war geboren, was wir bis heute „Mode” nennen.
Zweimal im Jahr, das wurde zum eisernen und zugleich aktivierenden Gesetz der Mode, wechselten die Formen und Farben der Kleidung, und der Rhythmus wies beständig eine Frage ab, welche gebildete Zeitgenossen damals leidenschaftlich und obsessiv an die ebenfalls bewegte Geschichte stellten, nämlich ob Regelmäßigkeiten im historischen Wandel zu beobachten wären, die es ermöglichten, die je nächste Veränderung vorherzusehen. Gewiß, in dem Maß, wie der Mode unruhiger Wellenschlag all jene Frauen und Männer erfaßte, die sich Partizipation leisten konnten und wollten, schwoll das Handwerk der Schneider zur Mode-Industrie; aber die unter säuerlich aufstoßenden Intellektuellen bald üblichen Deutungen und Abwertungen der Mode als kapitalistischer Profit-Maschine oder als Generator sozialer Distinktion unterboten in ihrer harmlosen Flachheit die Komplexität des Phänomens ziemlich erbarmungslos. Immer natürlich war die Mode ein Kind des Hoch-Kapitalismus gewesen, dafür spricht ja schon der Moment ihres historischen Auftakts – und daneben die Tatsache, dass in der Epoche des Kalten Krieges nie auch nur ein einziger Mode-Trend in den Staats-sozialistischen Ländern einsetzte (trotz bestgemeinter Bemühungen seitens der Kulturschaffenden). Um die Mode zu verstehen, tut man besser daran, sie sich als ein Dispositiv der kollektiven Aufmerksamkeits-Schärfung in Selbst- und Fremdwahrnehmung vorzustellen. Selbst der erfolgreichste Mode-Designer oder die wirtschaftsmächtigste Mode-Firma konnten nie davon ausgehen, dass ihre Form- und Farboptionen für die je nächste Saison erfolgreich sein würden – und das damit für Industrie und Einzelhandel verbundene Risiko erklärte die manchmal grotesk anmutenden Margen zwischen Herstellungs- und Verkaufpreis. Niemand durfte glauben, die kommende Mode-Farbe wirklich erahnt zu haben – bevor eine der neuen Farben (die erahnte oder eine andere eben) beim Publikum einschlug. Und keine der regelmäßig von der High Fashion lancierten Erneuerungen konnte als Erfolg gelten, ohne dass sie Resonanz auf der Ebene und in der Dimension der Massenproduktion gefunden hatte. Vor allem galt jeder Versuch seitens einzelner Kunden, mit Kleidern etwas – zum Beispiel eine „Identität” — „ausdrücken” zu wollen, als Anzeichen unerträglich schwerfälligen Geschmacks. Eher sollte es den Mode-Bewußten darum gehen, in einer Welt des Wechsels und der Leichtigkeit den jüngsten aufscheinenden Trend möglichst früh zu entdecken, um sich ihm zu unterwerfen und ihn so zu verstärken – vielleicht mit einer minimalen Distanz: wenn sie es nur wagte, dann machte die modische Frau auf sich aufmerksam, indem sie die Farben der Saison trug – mit einem Schaal, der nicht ganz dazu paßte.
Nichts war mehr Teil und Symptom der kapitalistischen Lebensform mit ihrem Rausch und ihren Risiken, ihren ständig schwankenden Inklusionen und Exklusionen, ihrer Härte und Behendigkeit, ihrer Atemlosigkeit und ihren Ekstasen als die Mode – und deshalb vielleicht beginnt sie heute, sich zu verflüchtigen und zu brechen. Einer Milliardärsgattin in San Francisco, lese ich, gelte die Bewunderung der ähnlich Reichen, weil sie „klassische Modelle” sammle, junge Designer unterstütze, deren Talent für Markterfolge zu fragil sei, und so ihren Traum verwirkliche, Mode voller ästhetischem Verantwortungsbewußtsein in die Bahnen des eigenen Hoch-Geschmacks zu lenken. Soviel Verkrampfung erinnerte mich gleich an jenen anderen Milliardär, der sich für die Hochzeit seiner Stieftochter einen anspruchsvoll-komplizierten Anzug hatte schneidern lassen, um zu zeigen, dass er wie eine zeitgenössische Version des Sonnenkönigs aussehen konnte. Noch haben Wachsblüten solcher Art die Mode-Maschine nicht ganz zum Stillstand gebracht, aber Anlaß zu vorwegnehmender Melancholie gab mir der Moment, als höchstens zehn der etwa hundert achtzehn- bis zwanzigjährigen, meist „gut angezogenen” Studentinnen in meiner Vorlesung wußten, was die Modefarben der laufenden Saison sind. Vor ein paar Jahren hätte ein kurzer Blick auf den Hörsaal die schlagende Antwort gegeben. Aber nun trägt Mark Zuckerberg, der ein älterer Freund meiner Studenten sein könnte, bequeme Flanellhemden, wie sie wohl schon sein Vater in den fünfziger Jahren comfy gefunden hat, während noch die bewundernde Erinnerung an die nie endende Serie der schwarzen Rollkragenpullover (auf mittlerem Preisniveau) wach ist, mit denen Steve Jobes seine treue Neigung zum Zen-Buddhistischen sichtbar machen wollte. Vorerst bleibt es noch der Rede wert, was die Reichen tragen, und ist nicht immer ganz leicht zu entscheiden, wie man sich selber anziehen möchte zur Vorlesung oder für das date – nur die anonyme, provozierende, uns vereinende, gegeneinander aufhetzende und immer anschärfende Mode von früher ist jedenfalls zerplatzt in die Dispersions-Bewegung eines unendlichen Schwarms von Individual-Ausdrücken.
Ändern läßt sich das kaum – und dem Gemeinwohl (dem europäisch-sozialdemokratischen zumal) kann dieses schleichende Ereignis ja auch gar nicht schaden. Die Mode-Industrie wird überleben, falls es ihr gelingt (was ich für wahrscheinlich halte), neue Markstrategien zu entwickeln, und wer wirklich traurig ist, der kann dann entweder dem noch abebbend lebendigen Puls der Mode folgen, solange er spürbar bleibt, oder das Wochenende in einer der immer häufiger zu findenden Ausstellungen oder Museumsflügel verbringen, die der Geschichte der Mode gewidmet sind. Die Dispersion der Kleidungstrends, ihre sich entspannt entfaltende Semiotik des Individualität-Ausdrucks passen ganz gut in unsere sich progressiv und behäbig verbreiternde Gegenwart. Alle Vergangenheiten sind dort präsent und so mühelos elektronisch abrufbar, dass es der Kultur-Konjunktur historischer „Gedenktage” schon bald nicht mehr bedürfen wird. Thomas Hobbes, der sich das Zusammenleben der Menschen wie ein Rudel beißender Wölfe vorstellte, als man die Ellenbogen der kapitalistischen Gewalt zum erstenmal sah, Thomas Hobbes können wir jetzt per e-mail über die Jahrhunderte mitteilen, dass wir bukolische Kuschel-Schafe füreinander sein wollen – und oft schon geworden sind. Nur was die Zukunft bringen soll, wissen wir nicht so recht – kaum etwas Gutes, glaubt man zu ahnen. Für morgen Abend haben wir jedenfalls erstmal die alljährliche Oscar-Verleihung auf dem Bildschirm, dann eine Reality Show, die im nächsten Monat zu einem Ski- oder Südsee-Urlaub gesteigert werden soll. Bis die Pisten im global warming endgültig schmelzen und die Strände untergehen, könnte das Leben ja schon zuende sein (so schnell geht das manchmal). Zeit also, um in einer frühen Fassung meines Testaments anzumerken, dass ich – je nach Tages-Präferenz – statt eines gestärkten Leichenhemds einen schwarzen Rollkragenpullover oder ein Flanellhemd im Sarg tragen will. Oder vielleicht doch ein Leichenhemd?