Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Albert Camus — und ein Europa "in Revolte"

1969 wohl ließ man mich zum erstenmal für Geld an der Universität arbeiten (auf einer “Hilfskraft”-Stelle natürlich) und als Student der...

1969 wohl ließ man mich zum erstenmal für Geld an der Universität arbeiten (auf einer “Hilfskraft”-Stelle natürlich) und als Student der mittleren Semester war ich über die Maßen stolz darauf. Nur eine, gar nicht so kleine Verlegenheit folgte aus dieser Anerkennung: der Professor für Romanistik, an dessen Lehrstuhl ich untergekommen war, forschte – wie man das geisteswissenschaftliche Nachdenken damals noch entschiedener als heute nannte – und schrieb über Albert Camus, was in den Augen der progressiven Freunde ein dubioses Licht auf meine neuen Aktivitäten warf.

 

Camus war im Januar 1960, noch nicht siebenundvierzig Jahre alt, bei einem Autounfall ums Leben gekommen (wie James Dean, Jackson Pollock und soviele andere der großen Intellektuellen oder Künstler jener Zeit). Er starb im Nachleuchten des ihm 1957 verliehenen Nobelpreises für Literatur, doch der Ruhm verblaßte schnell. Die sich selbst so bedingungslos ernst nehmenden “Studentenrevolution” nahm es Camus übel, dass er als Existentialist philosophisch auf Probleme des individuellen Lebens konzentriert geblieben war, statt “Gesellschaft” und “Politik” als Bezugsrahmen des Denken anzuvisieren. Sein um 1950 vollzogener Bruch mit den Ideologien und Parteien des Kommunismus galt uns bestenfalls als naiv und meistens einfach als Verrat, zumal Jean-Paul Sartre zu beweisen schien, dass es auch einem ehemaligen Existentialisten möglich war, seinen linken politischen Optionen aus der Nachkriegszeit treu zu bleiben (Sartre sollte sich in dieser Hinsicht während der späten siebziger Jahre mit seinem Engagement für die “Rote Armee Fraktion” selbst überbieten). Schließlich war uns die Form der literarischen Texte von Camus nicht der Rede wert, denn soviel Lesbarkeit und Transparenz wollten wir höchstens den Autoren des sozialistischen Realismus zugestehen, während politisch weniger festgelegte Dichter allein durch komplizierte Form-Experimente (mit Unlesbarkeits-Folgen) Respekt gewinnen konnten. Als Camus-Forscher also mußte mein Vorgesetzter wie ein Fossil aus entschieden überwundener – und das hieß damals fast immer: aus der jüngsten – Vergangenheit wirken, und es bedurfte täglich eines großen argumentativen Aufwands, um den drohenden Verdacht des Konservatismus oder Opportunismus wenigstens einermaßen in Schach zu halten.

 

Mittlerweile hat die historische Figur von Albert Camus einen Teil jener Anerkennung zurückgewonnen, welche sie während der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts umgab, aber – das ist jedenfalls mein Eindruck – eher im Status eines permanenten “Geheimtips” aus der Geschichte als im Rahmen einer philosophisch konzentrierten Wiederentdeckung, die auf Gegenwartsprobleme bezogen ist. Daran wird sich wohl solange nichts ändern, wie Interpreten meiner Generation die Weichen und Schaltstellen kulturellen Erfolgs besetzt halten, weil eine Camus-Renaissance für sie ja die Verpflichtung einer expliziten Kritik von eigenen vergangenen Urteilen mit sich brächte. Seit der Implosion des Staats-Sozialismus im späten zwanzigsten Jahrhundert vor allem erinnert man immerhin gelegentlich daran, dass Camus zu den erstaunlich wenigen öffentlichen Intellektuellen gehörte, welche 1956 die brutale Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung durch die Rote Armee anklagten. Als in Algerien geborener Franzose (als “pied noir,” wie man in der Nachbar-Nation Deutschlands bis heute sagt) ist Camus durch seine Interventionen aus den fünfziger Jahren auch zum Vorläufer eines auf wechselseitiges Verstehen — statt Gewalt — setzenden Prozesses der Entkolonisierung geworden. Vor allem aber findet das frühe Engagement gegen die Todesstrafe heute Anerkennung, mit dem Camus in damals radikaler Minderheitsposition seit etwa 1950 zur Enstehung eines inzwischen nicht mehr in Frage gestellten europäischen Konsensus beitrug. So hatte sich Albert Camus Verdienste erworben, um noch viel zentraler und deutlicher, als es bisher der Fall ist, neben Politikern wie Robert Schuman und Konrad Adenauer als ein Gründer des institutionellen Europas unerer Zeit gelten zu können.

 

Doch eine solche, erst zögernd einsetzende Kanonisierungsbwegung bliebe ganz vergangenheitsbezogenen. Wichtiger wäre die Freilegung eines Zukunftspotentials in Camus’ Büchern, das solange zu verschwinden droht, als er den jüngeren Generationen bestenfalls in der Rolle einer historischen Figur gegenwärtig bleibt – statt wieder gelesen zu werden. Entscheidend für Camus’ intellektuellen Bruch mit dem Kommunismus und Marxismus war das 1951 erschienene Buch “L’Homme Révolté” (“Der Mensch in der Revolte”). Dort kritisierte er jene Konzeption von Zeit, die wir immer noch im Sinn haben, wenn wir das Wort “Geschichte” verwenden, weil sie auf der einen Seite das Verstehen der Gegenwart und das Handeln in ihr von der Vergangenheit abhängig machen will und andererseits fordert, dieses Handeln im Blick auf aus der Vergangenheit hochgerechnete Zukunftsvisionen zu vollziehen. Eine solche komplexe Verfugung der drei Zeitdimensionen sei unterstellt, wenn wir “Revolutionen” als entscheidende “historische Wendepunkte” feiern, und von Revolutionen unterscheidet Camus die “Revolte” als punktuelle, flexible und individuelle Reaktion auf die Gegenwart. Genau um die Konzentration auf die Gegenwart aber geht es ihm und um das Engagement für Menschen, die am Leben sind — anstelle von Opfern (auch von Menschen-Opfern), die von einer geschichtlichen Weltsicht als Preis für die Verwirklichung vager Zukunftserwartungen gefordert werden:

 

Ohne die Lösung aller Probleme ins Auge zu fassen, sieht die Revolte den Problemen zumindest ins Gesicht. Wenn wir dies tun, dann wird das helle Licht des Mittags über die Konzeption von “Geschichte” fließen. Um sie als verzehrende Glut bewegen sich immer wieder die Schatten der Vergangenheit, um dann zu verschwinden und Blinde zu hinterlassen, die ihre Augenlider reiben und rufen, daß dies “Geschichte”  sei. Die Menschen von Europa haben sich den Schatten hingegeben und wenden ihren Blick vom konkreten Ort des Lichtes ab. Sie vergessen die Gegenwart für die Zukunft, das Opfer des Seienden für den Rauch der Macht, das Elend der Vorstädte für eine scheinende Zitadelle, die tägliche Gerechtigkeit für das verheißene Land. Sie glauben nicht mehr an die Freiheit der Individuen und träumen von einer eigenartigen allgemeinen Freiheit; sie vergessen den Tod der einzelnen und fordern Unsterblichkeit als eine wundervolle kollektive Endvision.

 

 

Was Camus’ kraftvolle, oft plötzliche Einsichten aufreißende Sprache beschreibt, das war auf Realitäten und Utopien einer sozialistischen Gesellschaft als Gegenpol bezogen, wie sie das einundzwanzigste Jahrhundert fast überall glücklich hinter sich gelassen hat. Und dennoch zeigt fast jede politische Rede, fast jedes Historiker-Buch unserer Zeit, dass wir weiter in einer Konzeption von Zeit leben, die uns durch Schatten der Vergangenheit und Horizonte der Zukunft von der Konzentration auf die Gegenwart ablenkt – mit dem Unterschied nur, dass unsere kollektive Vergangenheit und unsere kollektive Zukunft heute fast ausschließlich von der Wirtschaft und kaum mehr von Ideologien getönt sind. Ein kosmischer Reisender würde sich vielleicht die Augenblider reiben, wenn er sähe, wie der Begriff von Europa seit Jahren schon zwischen der Taxierung wirtschaftlicher Vergangenheitslasten und der Absicherung einer gemeinsamen wirtschaftlichen Zukunft aufgeht. Sich dem zu verweigern. Europa wieder anders zu denken, den Einwand nicht zu akzeptieren, dass die Wirtschaft eben Vorrang haben müsse, sich auf das Lokale und Individuelle zu konzentrieren, die immer schon erwartete Bemerkung zurückzuweisen, dass jedes Abweichen von gewohnten Bahnen “unrealistisch” sei – all dies wäre “Revolte” im Sinn von Albert Camus; es wäre eine Revolte, die sich im Bewußtsein und in den Körpern der einzelnen vollziehen müßte, ohne in Gedanken an demographisch relevante Auswirkungen verloren zu gehen, eine Revolte auch, die unserem Moment verblaßter Werte und verdunkelter Horizonte gut tun könnte. Wo Camus am Ende von “L’Homme révolté” versucht, für sich selbst einen solchen Moment der Revolte in der Gegenwart zu denken und vorzustellen, verbindet er sein Bild mit dem Namen von Ithaka, der kleinen Insel im Mittelmeer, zu der Odysseus nach dem trojanischen Krieg und endlosen Irrfahrten als einem Ort der herben Freude und der bitteren Nahrung zurückkehrte. Für Camus war Ithaka eine Vision von Europa — aber davon müssen sich unser Denken und unsere Imagination ja nicht begrenzen lassen:

 

Im hellen Mittagslicht des Denkens verweigert sich die Revolte jeder Gottheit, um Teil gemeinsamer Kämpfe und eines gemeinsamen Schicksals zu sein. Wir entscheiden uns für Ithaka, das Land, dem wir treu bleiben, für das mutige und nüchterne Denken, die klare Handlung, für die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Licht bleibt die Welt unsere erste und unsere letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter demselben Himmel, die Gerechtigkeit lebt. So wird jene eigenartige Freude geboren, die uns zu leben und zu sterben hilft und die wir nun nicht mehr auf die Zukunft verschieben. Sie ist das lebendige Unkraut, welches auf dem Land unserer Schmerzen wächst, die bittere Nahrung, der harte Wind der See, das alte und das neue Morgenrot. Mit dieser Freude berühren wir die Seele unserer Zeit und erreichen ein Europa, das nichts und niemanden ausschließt.