Vielleicht hat es ja mit dem Alter zu tun. In drei Monaten kann ich mich an meinen vierundsechzigsten Geburtstag erinnern, und dann mag die Stimmung Wirklichkeit sein, die so angenehm klang, so unaufdringlich und so fern, als die Beatles „When I am sixty-four” sangen. Seit einiger Zeit jedenfalls und immer häufiger kommen mir Fragen in den Sinn wie die, was ein schöner Tag, ein vollkommen schöner Tag sei, ob ein bestimmter Tag wirklich schön und glücklich gewesen ist, und manchmal auch, was ich denn tun kann, um einen schönen Tag zu haben. Das sind keine dramatischen Gedanken, ohnehin nicht wichtige Gedanken in irgendeiner Hinsicht, aber sie kommen beinahe hartnäckig wieder und hängen wohl zusammen mit der Ahnung, dass ich manches von dem, was mir ein bestimmter Tag jetzt bringt, zum letzten Mal erlebt haben werde, ohne es zu wissen – und natürlich auch, dass mir immer weniger glückliche Tage bleiben. Ganz anders, als ich es mir in der Mitte des Lebens vorgestellt habe, und ganz anders, als diese Sätze aussehen mögen, ist das eher ein angenehmer Horizont meines Alltags, der sich anfühlt wie das Licht eines hellen Märztags.
Eines ist klar, da müssen wir nicht lange überlegen: Tage, die man plant, um glücklich zu sein, und die man lange und ausführlich in der Vorstellung ausmalt, haben keine Chance, glücklich zu werden. Denn sie können bestenfalls unsere Erwartungen erfüllen, ohne irgendetwas zu haben, das wir nicht schon vorher kannten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass wir enttäuscht werden von dem wirklich-Werden geplanter Tage, weil sich alles in ihnen unter dem Druck einer Erwartung artikuliert, und weil wir dann zu aufmerksam sind auf jene Details, die hinter unseren Tagträumen zurückbleiben. Keine Erwartungen oder die Befürchtung zum Beispiel, gelangweilt zu werden, sind bessere Bedingungen für einen glücklichen Tag. Davon schrieb Denis Diderot, der Herausgeber der „Encyclopédie” und eine der großen intellektuellen Figuren der Aufklärung, in einem Brief vom 15. September 1760, als er noch nicht siebenundvierzig Jahre alt war (aber vielleicht entsprächen seine siebenundvierzig Jahre eher vierundsechzig im einundzwanzigsten Jahrhundert), und er schrieb an seine Freundin Sophie Volland, die wir uns zehn Jahre jünger vorstellen müssen, schon ein wenig altjüngferlich wohl (Sophie lebte mit ihrer sehr dominanten Mutter), gebildet und ihrem Freund so zugetan, dass sich seine Briefe für sie wie Gespräche mit sich selbst lesen.
Diderot war zu Gast auf dem Landsitz seines Freundes, dem Baron von Grimm, und seiner Freundin Madame d’Epinay (die Aufklärung existierte nicht nur als eine „Republik des Geistes” sondern auch als ein verschieden eng geknüpftes Netz aus Freundschaften), und hatte am Samstag, zwei Tage bevor er an Sophie Volland schrieb, dem Fest der Dorfbewohner (den „prallen junge Bäuerinnen”) und den Besuchern aus der Stadt (den „Damen mit Rouge, Schönheitspflästerchen und Strohhüten auf dem Kopf”) entkommen wollen. Dann entschloß er sich aber, in La Chevrette zu bleiben, weil er sah, wie enttäuscht seine Gastgeber waren („wie ihre Gesichter lang wurden”), als er sich aufmachen wollte. All das klingt gewiß nicht wie der Beginn eines glücklichen Tags. Doch nur weil er keine Erwartungen hat, kann Diderot bemerken, wie er nun „Teil eines sehr angenehmen Bildes” wird, zu dem sich der Baron Grimm. Madame d’Epinay und die Gäste in ihrem „traurigen und schönen Salon” zusammenfügen: „Neben dem Fenster zum Garten stand Grimm für einen Maler Modell, und Madame d’Epinay stützte sich auf den Stuhl des Malers. Monsieur de Saint-Lambert las in einer Ecke die neueste Zeitung, die ich Dir schon geschickt habe. Ich spielte Schach mit Madame d’Houdetot. Madame d’Esclavelles, die Mutter von Madame d’Epinay, hatte all ihre Kinder um sich versammelt und sprach mit ihnen und ihren Erziehern. Zwei Schwestern des Malers stickten. Und eine dritte Schwester spielte auf dem Klavikord ein Stück von Scarlatti. Monsieur de Villeneuve begrüßte die Dame des Hauses und setzte sich neben mich.”
Wenn man keine Erwartungen hat (wie Diderot an jenem Samstag), dann können einem die Dinge und Situationen zufallen, sie können sich zusammenfügen, und das Glück dieses „Bildes” ist das Glück einer Schwebe, die niemand arrangiert oder gewollt hat. Vielleicht gehört zum Glück, dass man Teil einer unaufdringlichen Richtigkeit ist, für die es keine Kriterien gibt und die sich schon im nächsten Moment auflösen könnte – aber eben immer noch einen weiteren Moment lang bleibt: „wir aßen zu Abend, wunderbar, froh und sehr lange. Eiscrème; ach, meine Freundin, wie gut diese Eiscrème war. Du, die Du so gerne Eiscrème ißt, hättest bei uns sein müssen!” Diderot versucht gar nicht erst zu beschreiben, wie die Eiscrème schmeckt (die übrigens zu den kulinarischen Leidenschaften seines Jahrhunderts gehörte), er ist glücklich, weil der schöne Tag das ganze lange Abendessen weiter schön ist, so schön, dass seine Freude nun auch die abwesende Freundin einzuschließen scheint.
„Nach dem Abendessen spielten wir ein wenig Musik.” Ein Mädchen setzt sich ans Klavikord. Diderot beschreibt seine Anmut, und wie sie errötet, als die Hörer applaudieren, weil sie nicht weiß, wie gut sie spielt. „Wer wollte an diesem Werk etwas verändern, es ist so schön,” fragt Diderot Monsieur de Villeneuve, und da ist wieder sein Eindruck, dass die Dinge zusammenkommen wie in einem Bild oder einer anderen Art von Werk. Als Monsieur de Villeneuve zögert, ihm beizustimmen, weil er sich vorstellt, wie man das Mädchen erziehen und weiter bilden könnte, ist sich Diderot seines Glücks nur umso gewisser. Denn dieses Glück ist nicht das überwältigt-Sein von einem eigenen starken Gefühl, eher braucht es die Reaktionen der anderen, um sich selbst zu erkennen. Noch bei Tisch und ohne Zwang sprechen Diderot und Monsieur de Villeneuve weiter, und das Gespräch kommt auf Sophie Volland, was Diderot glücklich macht. Dann wird getanzt, vier Stunden lang. „Um zwei Uhr morgens schon, waren wir alle in unsere Zimmer gegangen, und der Tag war vorbei, ohne einen Moment jener Langeweile, die ich so gefürchtet hatte.”
Ein vollkommen glücklicher Tag war zuende gegangen, und Diderot hätte wohl kaum sagen können, warum genau er glücklich war. Baron von Grimm und seine Gäste hatten zusammen jeden nächsten Moment der Zukunft sich auffüllen lassen und waren so Teil eines lebenden Bildes geworden, das sie schön fanden. Sie hatten miteinander gesprochen und der Musik zugehört, sie hatten Eiscrème gegessen und miteinander getanzt. Man muß für die kleinen Zufälle offen sein, das ist heute nicht anders als damals, denn das Glück des vollkommenen Tags ist nicht so etwas wie der Abdruck einer stabilen Lebensform. Vielleicht fällt es uns aber schwerer als Diderot und seinen Freunden, dem Glück die Zeit und den Raum zu geben, damit es sich ereignet. Denn wir leben im Zeitalter der Freizeit-Industrie, wo man mehr freie Zeit hat als je zuvor und zugleich soviel weniger Zeit, in der sich etwas ereignen kann, weil man stets in die Produktion von Freizeit und ihre Verplanung eingespannt ist. Vielleicht ist es ja heute für einen glücklichen Tag schon zu spät mit vierundsechzig, obwohl die Statistiken uns Vierundsechzigjährigen von jetzt soviel Zeit geben.
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