Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Wie kann man alt sein, heute?

"Ich glaube," sagte mir neulich in Köln eine gute Freundin beim Frühstück, "Du hast ein Problem mit dem Altern." Mir war das bis dahin nicht so richtig...

“Ich glaube,” sagte mir neulich in Köln eine gute Freundin beim Frühstück, “Du hast ein Problem mit dem Altern.” Mir war das bis dahin nicht so richtig aufgefallen. Manchmal kamen mir zwar Bemerkungen und entsprechende Reaktionen aus dieser Richtung unter, aber die hatte ich immer schnell weggewischt als Symptome eines unerträglichen Jugend-Hypes in der Gegenwart, nach Art von Rockbands im Altersheim oder auch “liebevoll” gemeinter Bemerkungen wie “hundert Jahre Johannes Heesters — und kein bißchen weise.” Ist es denn nicht besser, die Haare peinlich zu finden, die einem plötzlich aus den Ohren wachsen, und soll man von dem bevorstehenden vierundsechzigsten Geburtstag nicht reden [und schreiben] dürfen, von der Schwierigkeit, in einem Land zu leben, dessen Oberstes Verfassungsgericht ein verpflichtendes Pensionsalter aufgehoben hat [für alle Berufe] und von der Befürchtung, dass eine deutlich zunehmende Schwierigkeit, sich an Namen zu erinnern, der sanfte Beginn von Demenz oder gar Alzheimer sein könnte? Bloß vor dem Früstück in Köln war ich ohnehin schon mit dem linken Bein aufgestanden — so dass die Bemerkung saß und gar nicht einfach einzuklammern war.

Als ich mich dann letzte Woche auf die Suche nach meinem Problem mit dem Altern machte, statt einfach zu sagen, ich hätte keines, stieß ich erst einmal auf eine ganze Phalanx von möglichen Problem-Gründen, die mir – Hand aufs Herz — nicht zu schaffen machen. Ich möchte wirklich nicht jünger sein, vielleicht weil ich mich kaum erinnere, daß ich mit siebzehn oder mit siebenunddreißig glücklicher gelebt hätte als heute [eher halte ich die Frage für interessant, ob sich mitte sechzig — oder später — spezifische neue  Möglichkeiten des Lebens eröffnen, neben den selbstverständlichen]. Ebensowenig spüre ich einen Ehrgeiz, den Altersrekord von Methusalem zu brechen [und wenn je eine solche Leidenschaft aufkäme, dann hoffe ich, dass sie vom Mitleid mit der demographisch schwachen Enkel-Generationen gedämpft würde, die mich ja bis zu einem in weite Ferne gerückten Ende hin finanzieren müßten]. Mit den Zipperlein und Krankheiten des Alters rechne ich und bin ziemlich erstaunt, dass sie mich bisher in Ruhe gelassen haben [für den Tag, wo sich das ändert, setze ich auf meine Ärzte in Kalifornien, denen einfach alles zuzutrauen ist].

Da es also, wenn überhaupt, eher um ein existentielles Problem mit dem Altern gehen muß, nicht um politische oder gar hehre ethische Erwägungen zugunsten [oder Ungunsten] anderer, nur um meine ganz eigene Furcht oder Scham, habe ich mir überlegt, ob es denn die Angst [im Gegensatz zur Furcht] vor dem Tod sein könnte, die Martin Heidegger in “Sein und Zeit” aus der Perspektive der “Jemeinigkeit” definitiv beschrieben hat: zu realisieren, dass am Ende des eigenen Bewußtseins das Nichts steht, ohne Aus- und Rückblick auf die Nachwelt; die Angst vor jenem Moment auch, den das Bewußtsein nicht fassen kann, weil es beständig zwischen dem Nachhall des vorigen und der Vorwegnahme des nächsten Momentes fließt, und sich deshalb eben jenem einem Moment sperrt, wo — im Sterben — die Antizipation nicht mehr mit Gegenwart gefüllt wird. Sie können das — im Selbst-Experiment sozusagen — überprüfen: diese Angst wird sich mit Gewißheit einstellen, wenn Sie sich dem Versuch aussetzen, das Ende des eigenen Bewußtseins zu denken. Ich kenne sie, sie wird immer “ein Problem” bleiben, aber eben weil ich sie kenne, ist sie wohl nicht das, was mich halb- oder vor-bewußt umtreibt, um soviel vom Altern zu reden.

Endlich stieß ich dann auf eine Schicht von eigenen Problemen “mit dem Altern.” Es waren erstaunlich praktische Probleme, Probleme, die sich in der Frage beschreiben lassen, wie, mit welchen  Entscheidungen und Haltungen man heute gelassen [ja vielleicht sogar würdig] alt werden kann, eher als Probleme der Furcht vor den Anzeichen und Wirkungen des Alters [natürlich, das sollte ich der Vollständigkeit und Ehrlichkeit halber erwähnen, natürlich bleibt es immer möglich, dass ich eine mögliche Furcht vor dem Alter selbst tief verdrängt habe]. Zum Beispiel steht in meinem Kopf — berufsbedingt — noch eine nie wirklich abnehmende Reihe von Themen und Buchprojekten, die ich gerne in Angriff nehmen und zum Abschluß bringen möchte, bevor es dafür zu spät wird. Ich weiß, dass die Menscheit ohne diese Bücher unbeirrt weiterleben könnte, aber mir sind sie wichtig. Deshalb bemerke ich, daß die Arbeit an jedem “nächsten” Thema und Buch wichtiger, ja sogar leidenschaftlicher wird als es die jeweils vorausgehende war — und wie sich die einfache und ziemlich brutale Frage nach Pioritäten aufdrängt. Aber das ist eher ein privates Problem, die Idiosynkrasie von einem, der davon gelebt hat, Intellektueller zu sein — und nur schwer aufhören kann.

Gute fünf Jahre immerhin [habe ich kürzlich entschieden] werde ich noch an meiner Universität, einer privaten Universität, arbeiten, an Diskussionen und Abstimmungen teilnehmen, welche die Zukunft von Stanford prägen und wohl weiterhin manchmal von zentralen Entscheidungsträgern um Rat gefragt werden [vielleicht ja immer seltener, was mich nicht überraschte, aber schon etwas beunruhigte]. In solchen Situationen ist ein Vierundsechzigjähriger mit einem [eher undramatischen] Dilemma konfrontiert. Soll ich von einem Bild und einer Konzeption der Universität ausgehen, wie sie mir am Herzen liegen, oder ist es eine Verpflichtung, mich bei solchen Gesprächen in die Wünsche und Perspektiven der jüngeren Generationen zu versetzen? Ich fürchte ja [endlich eine Befürchtung!], dass ich zum “komischen Alten” würde, zu einem Kollegen der Rockstars aus dem Altersheim, sobald ich versuchte, “im Namen der Jüngeren” zu sprechen. Also verpflichte ich mich darauf, tatsächlich wie ein Alter zu reden — und betone dies dann wohl unerträglich oft, um den Reflex zu bremsen, mich als hellsehende Stimme der Jugend anzubiedern. Legitim, versteht sich, ist diese Einstellung nur, solange die wirklichen Entscheidungsträger deutlich jünger sind als ich [was in Deutschland seltener der Fall zu sein scheint als in den Vereinigten Staaten].

Schließlich und vor allem beobachte ich “mit Besorgnis” [so hätte es zu meiner Jugend die Fernsehrunde des “Internationalen Frühschoppens” formuliert] meine Tendenz, mehr und mehr neue Technologien, Institutionen und Trends für Teufelswerk zu halten — und in wilde Polemiken gegen sie auszubrechen, die wohl wie das Geschrei eines geifernden, seinen Spazierstock drohend schwingenden Greises wirken müssen. Das sieht sehr peinlich aus, sobald man sich selbst von aussen vorstellt. Aber wie soll man sich vom geriatrischen Veits-Tanz erlösen? Die einzige Abhilfe, denke ich, ist der Entschluß, manche Innovationen nicht mehr mitzuvollziehen — soweit man sich das leisten kann: ich benutze meinen Computer wie eine elektrische Schreibmaschine, ich war noch nie auf Facebook, aber schreibe sehr gerne Postkarten und fülle Überweisungformulare mit der Hand aus; ich habe kein handy, ein zweiundzwanzig Jahre altes Auto und brauche für alle Notizen weiße unlinierte Karteikarten immer im selben Format.

Postkarten zu finden wird aber immer schwieriger [von Briefmarken gar nicht zu reden], meine Lieblingskarteikarten haben sich tief in die Regale des Schreibwarengeschäfts zurückgezogen und eines Tages wird online banking alternativenlos sein. Was ich dann anfange, weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich werde ich nolens volens lernen, was immer von Fall zu Fall gelernt werden muß, denn ich will ja gelassen bleiben. Das heißt, ich versuche dem Drang zum Verfassen von “kleinen Philosophien” der [moralischen] Überlegenheit von Karteikarten oder der [ästhetischen] Erziehung durch Handschrift zu widerstehen. So wie sich die Alterpyramide in Deutschland entwickelt, möchte ich glatt darauf wetten, dass die Alternativen zum online banking erst einmal erhalten bleiben — falls nur nicht alle Greisinnen und Greise so unerträglich “jung bleiben” wollen. Ich friere meine Zeit ein, als sei mein Leben mit vierundsechzig Jahren eine Tiefkühltrühe [aber nicht die Eiszeit], und ich verspreche, nun weniger davon zu reden. Aber ich lebe ja nur für drei Monate mehr oder weniger sicher in Berlin, dann geht es zurück — in ein Land mit höherer Geburtenrate, nach Silicon Valley ausgerechnet.