Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Moskau, Hauptstadt zweier Jahrhunderte

  Manchmal reicht es, zusammen mit fünfzig anderen Passagieren eines Flugs für ein paar Minuten am Gepäckband gewartet zu haben, um zu wissen, dass die...

 

Manchmal reicht es, zusammen mit fünfzig anderen Passagieren eines Flugs für ein paar Minuten am Gepäckband gewartet zu haben, um zu wissen, dass die Stadt, die man noch nicht gesehen hat, unter die Haut gehen wird. Das kenne ich von Sao Paulo, Tokio, Johannesburg und vor allem von Moskau. Als ich zum erstenmal dort ankam, im April 2004, war die Landung vom Gepäckband allerdings noch durch den Beton des sowjetischen Einreiserituals getrennt. Eine Stunde oder mehr hatten wir in einer Schlange gewartet, deren langsam-chaotischer Fortschritt dauernd ins Stocken kam, was jedesmal den Alptraum abrief, die Grenze könnte im nächsten Moment ohne irgendeine Erklärung und für immer geschlossen werden. Von dem Zollbeamten waren bloß die Augen präsent, die mich wie einen krebskranken Körper durchleuchteten, sichtbar allein in der Höhe eines horizontalen Schlitzes, hinter dem sich abgemessene Bewegungen ahnen liessen und am Ende — zur totalen Erleichterung — das Geräusch eines Stempels. Während der drei Hotel-Nächte und Tage blieb mein Paß im Gewahrsam der Rezeption, das sei nötig, um mich “offiziell zu registrieren.” Fragen kamen mir nicht, auch die wenigen Leute sprach ich nicht an, die vielleicht Englisch oder Französisch verstanden hätten, weil mein Befinden stramm stand vor der Angst, irgendetwas “falsch machen” zu können.

 

Vor acht Jahren lebte Rußland im offiziell stillgelegten Gebäude des Kommunismus und bewegte sich also entlang alter Bahnen. Man aß im Klub des Schriftsteller-Verbandes von früher zu moderaten Preisen solides Essen der nationalen Tradition, umgeben von antiken Möbeln und der klassischen Musik eines Kammerorchesters. Die Universität war ein ins Leere fortschreitendes Altersheim des Staatssozialismus hinter industriell produzierten Häkelgardinen, und in den literarischen Cafés lasen bärtige Kunden und Kettenraucher eben erschiene Bücher, die sie nie kaufen würden. Aber alle schienen zu glauben, dass Bücher und mit Leidenschaft geführte Diskussionen wichtig seien für “die Gesellschaft.” Die U-Bahn mit ihren endlosen Rolltreppen nach unten und dem von einer Station zur anderen wechselnden hoch-symbolischen Dekor war noch Stalins U-Bahn, trotz all der sehr großen Autos auf den verstopften Straßen; manche Uniform-Mützen trugen Sowjetsterne, und ich dachte manchmal, dass Moskau noch zurück könnte aus der Welt des heißen Konsums, der die Stadt schon im Griff hatte, zurück in eine andere Welt, wo Uniformen und Sterne  wieder ihre Richtigkeit hätten.

 

Dieses Moskau werden wir bald, wenn man das etwas ausgeleierte spiel der geschichtlich Gebildeten weiterspielen will, als die “Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts” entdecken, denn allein dort ist zwischen Oktober 1917 und dem späten Sommer von 1989 das Experiment des Kommunismus bis zum bitteren Ende ausgelebt worden, das größte, teuerste und schließlich am wenigsten erfolgreiche Experiment der Menschheitsgeschichte, der Kommunismus in seiner ganzen philanthropischen und ungelenkigen Großzügigkeit, die uns alle überforderte. Moskau war die offizielle Hauptstadt dieses Glaubens an “die Gesellschaft” und “die Anderen,” an die man sich mindestens halten sollte und denen soviele [aber eben nicht die Mehrheit] dienen wollten während des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieses Moskau lebt jetzt gerade noch in Spuren weiter, in Erinnerungen und nur die Angst, irgendetwas falsch machen zu können, ist geblieben ist und kehrt wieder.

 

Leicht kann man sich gar nicht mehr vorstellen [in Moskau geht es am ehesten vielleicht], dass es eine Zeit gegeben hat, wo die Bewohner des Kommunismus an seinen Endsieg glaubten — und diesen Sieg erhofften. Das müssen vor allem die Jahre nach dem militärischen Sieg im Weltkrieg gewesen sein und vor Stalins Tod 1953, als sich sieben riesige Gebäude in jener ausladend barocken Architektur, die man im Westen gleich herablassend “Zuckerbäckerstil” nannte, aus Moskau heraus erhoben, und als die von Boris Pasternak erfundenen Nachkommen von Jurij Schiwago, mit Stolz auf ihre Stadt blickten und auf den Vaterländischen Krieg: alles sei anders gekommen als vorhergesagt, aber das Land und die Welt befänden sich nun auf einem guten Weg. Wir haben uns daran gewöhnt, die Inschriften, Medaillons und Embleme jener Mokauer “Türme,” die Skulpturen von glücklichen jungen Bäuerinnen mit Ähren im Arm und von vorausblickenden Traktorfahrern als “Ideologie” zu entlarven und abzutun, obwohl sie zu einem der wenigen Moment gehören, wo das zwanzigste Jahrundert glaubte, das Glück der Menschheit sei langfristig gesichert. Einer der sieben Türme, das “Hotel Ukraine,” ist vom Radisson-Konzern mit historischer Detailgenauigkeit restauriert worden, ein Gesamtkunstwerk unserer Zeit und aus ihrer Vergangenheit, in dem, wer genug Geld hat, schlafen, essen und von der Bar im neununzwanzigsten Stock auf Moskau blicken kann, als Hauptstadt des anderen, des einunzwanzigsten Jahrhunderts.

 

Das Moskau von heute hat die Hauptstadt des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem archäologischen Feld gemacht, und dieses Feld wird bald schon Denkmalschutz brauchen, um nicht ganz zu verschwinden. Denn jedes Jahr sieht derselbe Weg vom Flughafen zum Hotel so anders aus, dass man ihn kaum mehr erkennt, wegen hektisch begonner und oft schon vor dem Einzug verlassener Gebäude, immer mit Leuchtreklame und ohne Architekten-Ehrgeiz. Sie absorbieren und nivellieren das zwanzigste Jahrhundert so konsequent, dass jetzt die Häuser aus der Zarenzeit, fast alle zweistöckig und oft mit Pastellfarben, wieder in den Vordergrund treten. Inzwischen rast Moskau in eine Zukunft ohne sichtbares Ziel und ökologische Sorgen, eine Stadt, wo sich zehn Prozent alles und die anderen fast nichts leisten können, und im Winter niemand Zeit hat, die riesigen SUVs zu waschen. Postkarten und souvenirs, das Frühstück im Hotel und die Drinks an der Bar in schmuddligem Rot, alles ist unverhältnismäßig teuer, außer Wodka und Zigaretten, und bei dem Kolloquium im  literarischen Café sitzen jetzt auch ältere Damen, die stricken, während sie zuhören.

 

Rußland und Moskau produzieren nichts für den Export, sondern versorgen nur die anderen europäischen Länder mit Rohstoffen, noch auf Jahrzehnte ohne Ende, und über Innenpolitik [oder Politik überhaupt] wollen die meisten wenigstens mit Ausländern gar nicht sprechen. So wie Moskau könnte das einundzwanzigste Jahrhundert werden: eine heißlaufende Wirtschaft vor allem, die nur am nächsten Tag und im nächsten Jahr ankommen will, eine Ausfallstraße, ohne Ampeln und mit allgegenwärtiger potentieller Polizeikontrolle, ähnlich der Ausfallstraße in Moskau, wo Politiker und Oligarchen abends zu ihren Anwesen fahren und morgens zur Arbeit zurück, ohne je anhalten zu müssen — und niemand findet etwas daran. Moskau, Schanghai, manche behaupten: Los Angeles, Silicon Valley und Chicago, das schneller denn je zirkulierende Geld, exponentiell wachsender Reichtum, den sich selbst die Reichen nur noch über ihre wohltätigen Spenden vergegenwärtigen können. Dazu, nein, keine klassische Diktatur, das ist nicht Putins und auch nicht die chinesische Politik, eher eine  Abgespanntheit der meisten und vorbewußt die Frage vielleicht, warum man sich denn diese Mühe [mit der Politik] auch noch antun soll. Es ist ein graues einundzwanzigstes Jahrhundert, fast wie die Visionen aus dem zwanzigsten Jahrhundert über die “nach-geschichtliche Zeit,” ein Schritt zurück in vor-menschliche Impulse vielleicht und viele Schritte voraus in eine unmarkierte Zukunft für die wenigen, die jede Technologie und jeden Luxus kaufen können. Es gibt nur noch Reiche und Arme, die überleben, keine Mittelklasse, denn auch diese emblematische Klasse des zwanzigsten Jahrhunderts stirbt jetzt aus.

 

Wer heute, nachdem er zügig von dem Moskauer Zollbeamten,abgefertigt worden ist, auf dem Rückflug in München landet oder in Berlin, der entdeckt mit Erstaunen, dass man in drei Tagen vergessen kann, wie wichtig Trennmüll sein soll, die Renaissance des französischen Existentialismus, das nächste Konzert der Philharmoniker und die Steuerpolitik.