Die politische Unterscheidung zwischen “linken” und “rechten” Positionen, Ideen und Parteien stammt, das gehört fast zum Bildungswissen, aus der Vorphase der Französischen Revolution. In den von Ludwig XVI. aufgrund wirtschaftlicher Probleme nach Versailles einberufenen “Generalständen,” einer seit dem Mittelalter existierenden Institution der Monarchen-Beratung, kam im Mai 1789 den Vertretern des Adels der Ehrenplatz zur Rechten des Versammlungsvorsitzenden zu, während die Bürgerlichen des dritten Stands mit der linken Seite vorlieb nehmen mußten. Als sich nach der Absetzung des Königs im August 1792 und vor der Enthauptung Robespierres im Juli 1794 aus Stände-Interessen die Umrisse jener Ideologien herausbildeten, welche die Politik des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts beherrschen sollten, war allerdings vorübergehend eine ganz andere Struktur des Parlamentsraums im politischen Diskurs symbolisch geworden. Damals trafen sich die “radikalen” Jakobiner auf den höchsten Sitzreihen und wurden deshalb “Bergpartei” [“Montagnards“] genannt; sie rivalisierten mit den “gemäßigt”-revolutionären [und von einem bestimmten Punkt an auf Erhaltung des Erreichten setzenden, also “konservativen”] Girondisten, die weiter unten Platz nahmen, weshalb sie “Marais” hießen [in Anspielung auf jenes bis heute berühmte Viertel von Paris, das Jahrhunderte zuvor durch die Trockenlegung von Sümpfen entstanden war]. Erst seit der Juli-Revolution von 1830 spielte sich dann endlich die Assoziation zwischen “radikalen” Positionen mit der “Linken” und “gemäßigten” Positionen mit der “Rechten” ein, welche bis heute in allen westlichen Sprachen stabil geblieben ist.
Was die zunächst in Frontstellung gegen Adel und König vereinten Girondisten und Montagnards in der “heißen” Phase der Revolution zunehmend unterschied und schließlich in wechselseitige Opposition brachte, war ihr je anderes Verständnis des Gleichheits-Prinzips. Für die Girondisten galten die Postulate der Gleichheit als erfüllt mit der Durchsetzung der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz [und damit war eine Grenze gezogen, hinter die seither keine Position der parlamentarisch-demokratischen “Rechten” zurückfallen kann]; die Montagnards aber dehnten den Begriff der Gleichheit auf die Dimensionen der Wirtschaft und der Gesellschaft aus und engagierten sich deshalb als Fürsprecher des [vom alten Ständesystem ausgeschlossenen] Vierten Stands, als Fürsprecher der “Sansculotten” [jener vor-proletarischen Franzosen, die man daran erkannte, dass sie nicht die unter dem Knie gebundenen, ursprünglich aristokratischen Beinkleider trugen]. In einer sich schnell und ohne die Kontrolle vorgehender Erfahrung eskalierenden Entwicklung verwandelten dann die Montagnards die etablierte Gleichheit vor dem Gesetz in ein Instrument zur Eliminierung all derer, die mit ihren eigenen Vorstellungen von wirtschaftlicher und sozialer Gleichheit nicht übereinstimmten. So führte die Ideologie der Montagnards vor allem in den Jahren 1793 und 1794 zum Terror der Guillotine, dem die zentralen Protagonisten der “Bergpartei” im Juli 1794 selbst zum Opfer fielen. Deshalb gehört zu den Eigenschaften, die wir mit “linken” politischen Positionen verbinden, eine Konnotation von “Radikalität” und absoluter Entschlossenheit in der Durchsetzung ihrer höchsten Ziele.
Es war die Intuition und die historische Leistung von Karl Marx, die von den Montagnards vorgegebene politische Position zur Konvergenz mit dem Diskurs und den Denkmöglichkeiten der von Hegel begründeten Geschichtsphilosophie zu bringen. Seither schmückt sich die politische Linke mit dem Anspruch einer überlegenen Rationalität, die ihr Einsicht in die “Gesetzmäßigkeiten” des historischen Verlaufs öffnen soll, und im Zentrum dieses Anspruchs auf höhere Einsicht stehen die Garantie und der Glaube [marxistisch: das “Wissen”] an den Endsieg der eigenen politischen Ziele, der sich in der klassenlosen Gesellschaft, der Gesellschaft absoluter Gleichheit zu erfüllen hat. Vor allem anläßlich der politisch-sozialen Auseinandersetzungen in den europäischen Nationalstaaten nach 1848 bildete sich schließlich die Strategie heraus, Forderungen der unterprivilegierten Schichten durch die Androhung und Organisation von Streiks durchzusetzen. Auch die Geschichtsphilosophie und die Streiks als politisches Instrument gehören also zum Erbe und zum Begriff der “Linken.”
Sieht man einmal von der impliziten Einsicht ab, dass die Energie und die Provokationen, welche zur politischen Unterscheidung zwischen “Rechts” und “Links” geführt haben, fast immer von der “Linken” kamen, so hat unser historischer Quickstep eigentlich nichts Überraschendes ans Licht gebracht — sein Ziel war ja auch nur, die Komplexität des Begriffs von der “Linken” und die jeweiligen Ursprünge seiner Komponenten ins Bewußtsein zu bringen. Doch man braucht diesen Hintergrund, meine ich, um eine heute tatsächlich dringende Frage ins Visier zu nehmen, die für viele Intellektuelle offenbar durch ein Tabu blockiert ist, in aggressiveren Fällen sogar durch den Vorwurf des politischen Verrats — so plausibel die Frage auch sein mag. Denn wenn sich einerseits zeigen läßt, wie der Begriff und die Position der “Linken” aus einer Folge spezifischer historischer Momente und ihren Konstellationen hervorgegangen sind, dann lohnt sich auf der anderen Seite doch die Überlegung, ob eben diese Konstellationen immer noch zu unserer Welt gehören und mithin der “Linken” von heute Plausibilität, Legitimität und politische Stärke geben können. Ich möchte auf eine Reihe von Ereignissen und Entwicklungen des Strukturwandels seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verweisen, welche den Selbst-Anspruch der Linken geschwächt und zumindest revisionsbedürftig gemacht haben.
Am Beginn dieser Reihe steht die mit dem “Godesberger Programm” der SPD von 1959 einsetzende, langfristig unaufhaltsam wirkende Erfolgsgeschichte der Sozialdemokratie in Europa. Mit ihr vollzog sich eine explizite Distanznahme gegenüber Positionen des Sozialismus und des Kommunismus, die durch den Entschluß markiert war, Sozialpolitik unter Verzicht auf absolute [“radikale”] Gleichheitsforderungen zu denken und zu praktizieren. Man kann die Sozialdemokratie deshalb [ideologisch zurecht] als eine Kompromißlösung kritisieren oder feiern — aus einer Außenperspektive [der amerikanischen Außen-Perspektive zum Beispiel] muß jedenfalls hinzugefügt werden, dass eine sozialdemokratische Basis heute zum Konsens der großen Parteien in Europa geworden ist, ganz unabhängig davon, ob ihre Namen mit einem “S” beginnen oder nicht [anders gesagt: auch die CDU ist im internationalen Kontext eine sozialdemokratische Partei]. Dies aber bedeutet, dass das Sozialismus-“S” der traditionellen “Linken” ins politische Zentrum gerückt ist. Ebenfalls seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat — vor allem auf Grund verschiedener technologischer Entwicklungen — der Streik als politisches Instrument deutlich an Schlagkraft verloren. Bei hohen, in der Tendenz permanent wachsenden Arbeitslosenzahlen sind einkommensschwache Schichten der Bevölkerung auf den Inklusionswillen der Einkommensstarken angewiesen, auf die Einsicht, dass Exklusion erhebliche wirtschaftliche und politische Kosten nach sich ziehen muß — jedenfalls [um es quasi-populistisch zu formulieren]: mit Arbeitsverweigerung läßt sich kaum mehr drohen in einer Umwelt, wo Arbeit Mangelware geworden ist.
Weil sich nun “Arbeitnehmer-freundliche,” zumal sozialdemokratische Politik trotz ihrer Distanz zum Kommunismus mittlerweile ohne große Probleme als “links” präsentieren läßt [zumal seit dem Kollaps des Staatssozialismus nach 1989], waren es nicht einmal primär die bisher genannten Konstellations-Verschiebungen, welche einen Druck auf den traditionellen Begriff der “Linken” ausgeübt haben. Die viel ernstere Herausforderung für die europäisch-sozialdemokratischen Parteien im Wettbewerb um Wählerstimmen kommt schon seit einigen Jahrzehnten von den “grünen,” den ökologischen Parteien — und diese Parteien sind [im wörtlichen und im geschichtsphilosophischen Sinn] “konservativ,” weil ihre Identität in Programmen der Erhaltung liegt, in Programmen für die Erhaltung der Natur, aber auch für die Erhaltung gewisser Institutionen. Vor dem Hintergrund der politischen Geschichte ließe sich also sagen, dass die grünen Parteien auch und gerade bei unterprivilegierten Wählerschichten zu einer Konkurrenz für die klassischen linken Positionen geworden sind, obwohl sie sich nicht auf eine Geschichtsphilosophie des Fortschritts verlassen. Der intellektuelle Versuch, sie durch das Adjektiv “neokonservativ” zu stigmatisieren, ist jedenfalls gründlich fehlgeschlagen — ich vermute deshalb, weil die grünen Parteien und ihre Wähler ja genau das, nämlich “neokonservativ,” im präzisen Wortsinn wirklich sind und sein wollen. Vielleicht ist aber diese — vor einem Vierteljahrhundert noch ganz ungewohnte — Verbindung von Konservativismus mit politischem Engagement für Unterprivilegierte nur Teil einer komplexeren Entwicklung, in der uns die Idee des “Fortschritts” als nicht-endender Transformation der Welt auch deshalb nicht überzeugt, weil wir an lineare Geschichtsverläufe oder gar an die Möglichkeit des Einblicks in “Geschichtsgesetze” nicht mehr glauben. Die spezifische Konstruktion von Zeitlichkeit, in die viele von uns geboren waren, jene Konstruktion von Zeitlichkeit, welche der Marxismus und die Geschichtsphilosophie voraussetzten, ist möglicherweise nicht mehr unsere. Damit könnte das Band zwischen “linken” Positionen der Gegenwart und dem Marxismus für immer durchschnitten sein.
Sollte man angesichts dieser fortschreitenden Aushöhlung des traditionellen Begriffs der “Linken,” sollte man angesichts der objektiven Schwierigkeiten der sozialdemokratischen “Linken” von heute, sich vom politischen Zentrum unserer Gegenwart und von den Grünen zu unterscheiden, sollte man angesichts all dieser Entwicklungen nicht endlich aufhören, von der “Linken” und der “Rechten” als absolutem Gegensatz zu sprechen? Wer dies heute im Blick auf den klassischen Begriff der “Linken” und mit Emphase tut, der begibt sich in eine exzentrische Position ohne Chancen auf realen politischen Einfluß — wie es die “Linkspartei” in Deutschland praktiziert, weil sie einige Träume des Marxismus und der “arbeiterfreundlichen Politik” aus Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik noch nicht ausgeträumt hat. Aber es gibt ja auch, zumal in Deutschland, eine neue intellektuelle Linke, die sich — wenn ich es recht sehe — auf Träume und Institutionen der Vergangenheit eben nicht mehr verläßt.
Das ist eine Linke, die es — angesichts der offenbar aus unserer Zukunft kommenden Drohungen, angesichts einer auf Dauer gestellten wirtschaftlichen Instabilität — für unverantwortlich, ja für fahrlässig hält, die Welt mit all ihren Kulturen und Individuen dem Wildwuchs kapitalistischer Begierden zu überlassen; es ist eine Linke, die deshalb auf verstärkte Kontrolle des Alltags durch den Staat, durch gewählte [und natürlich im Idealfall kompetente] Entscheidungsträger setzt — und nicht auf das freie Spiel der Eigeninteressen; eine Linke schließlich, die mit dem Staat und seiner Expansion eine Komponente der sozialistischen Tradition unterstützen und betonen will, welche diese Tradition gerne als unerwünschten Nebeneffekt verschwiegen oder doch wenigstens zur Marginalität reduziert hat [eben weil die Stärke des Staats ein unerwünschter Nebeneffekt des Sozialismus war, sollte er hinter der Fassade der klassengebundenen “Einheitsparteien” verschwinden]. Die Vision dieser [anderen] Linken unterstützen heißt, dass man – auf Grund eines kollektiven wie individuellen Sicherheitsbedürfnisses — mehr staatliche Kontrolle will. Könnten wir — frei assoziierend und doch im Ernst — dann sagen, dass die Situationen in der Volksrepublik China oder in Rußland den Visionen der neuen Linken entsprechen? Diese Frage hören die neuen linken Intellektuellen, vermute ich, nicht gerne — aber sie ist nicht einmal als kritische Spitze gemeint.
Persönlich mache ich mir eher Sorgen um die Ästhetik des individuellen Alltagslebens in einer solchen politischen Umwelt. Denn ich stelle mir ein Leben dort ebenso behütet wie farblos vor.