“Muss Erlösung christlich sein?” — die Frage, fällt mir gerade auf, erinnert in Struktur und Rhythmus an das in Deutschland von Zarah Leander und dem längst vergessenen Film “Der Blaufuchs” ausgerechnet 1938 unsterblich gemachte Lied “Kann denn Liebe Sünde sein?” Aber während keine Website daran zu erinnern vergißt, dass die Frage des Lied-Titels rhetorisch gemeint ist [als immer schon vor-beantwortet], gibt es zunächst keinen Grund, die Frage “muss Erlösung christlich sein?” heute nicht ernst zu nehmen. Rhetorisch oder ernsthaft, neben Rhythmus und Struktur gibt es auch eine inhaltliche Konvergenz zwischen den zwei Fragen: ganz ähnlich und fast provokativ halten beide das Verhältnis zwischen komplexen existentiellen Situationen [“Liebe” und “Erlösung”] gegen ein Vorzeichen [“Sünde” und “christlich”], das ihre Aura, ihren Stellenwert und ihren Einfluß reduziert hatte. Die 1938 wohl noch etwas gewagt, wie frech-tautologisch klingende und gerade deshalb so populäre Antwort hieß, dass Liebe [auch und besonders homosexuelle Liebe], keinesfalls durch Sünden-Vorwürfe eingeschränkt werden soll — da herrschte Gewißheit. Heute hingegen wirkt die Frage offen, ob unvermeidlich zum Christen im existentiellen Sinn wird, wer sich auf eine seit mehreren Jahrzehnten immer deutlichere Faszination, nämlich auf die Rückkehr von “Erlösung” einläßt, von “Erlösung” als erzählerischer Form und existentiellem Wert. Noch einmal und anders gewendet: gibt es eine — legitime und wirksame — Säkular-Version von Erlösung?
Eine mehr als “spontane” Antwort setzt voraus, dass wir uns die erstaunlich klar strukturierte Sequenz vergegenwärtigen, auf die das Wort “Erlösung” Bezug nimmt. Erlösung blickt [erstens] notwendig zurück auf einen urspünglichen Zustand [vor allem] kollektiven Glücks, der in der Gegenwart verloren ist [biblisch gesehen: auf das Paradies]. Der Moment dieses Verlusts ist [zweitens] in einem Ereignis konzentriert, das entweder als Intervention von außen [der Teufel] oder als Sünde von innen [der Biss in den Paradiesesapfel] theologisch oder psychologisch zu einer “Schuld” objektiviert ist, welche zum Verlust der Ursprungssituation geführt hat. Aus je verschiedenen Gründen ist es [drittens] den Tätern des Vergehens nicht möglich, Vergebung zu und mithin den Anspruch auf eine Rückkehr zur glücklichen Ursprungssituation zu erlangen [spätere Generation leben unter der Bedingung von “Erbsünde” weiter]. Damit [viertens] Erlösung als die Rückkehr zum Glück möglich wird, muss ein Unschuldiger [etwa der Sohn Gottes] jenes Opfer bringen, das zur Funktionsäquivalenz einer nicht möglichen oder nicht wirksamen Bestrafung von Sündern und Aggressoren wird — wobei der Drastik dieses Opfers keine Grenzen gesetzt sind [Tod durch Kreuzigung]. Durch dieses Opfer ist dann [fünftens] die Gewißheit [die Garantie] des Ereigisses einer Rückkehr zum glücklichen Zustand im Sinn eines Rückkaufs [so die ursprüngliche Bedeutung von Lateinisch “redimere”] erworben [das zu “redimere” gehörige Substantiv heißt “redemptio,” und seine Transformationen stehen im Englischen und in den romanischen Sprachen für “Erlösung”]. Die Garantie einer Rückkehr zum ursprünglichen Glück schließt [am Ende] die oft explizite Bedingung ein, dass der Zeitpunkt des Erlösungsereignisses den von ihm Betroffenen unbekannt bleiben wird.
Auf der kollektiven und meist zugleich ideologischen Ebene ist die Frage, ob säkulare Versionen von “Erlösung” denkbar sind, schnell mit einem bündigen historischen Verweis zu beantworten. Ein politischer Fokus in den italienischen Aufstiegsjahren des Faschismus vom Ende des Ersten Weltkriegs bis hin zu Mussolinis “Marsch auf Rom” von 1922, der zur natioanalen Machtübernahme führte, waren die sogenannten “terre irredente,” jene bis 1918 meist österreich-ungarischen Gebiete [vor allem in der südlichen Alpengegend], welche Italien mit nationalmythologischen Argumenten und als Weltkriegssieger für sich in Anspruch nahm, aber nur teilweise “zurück”erstattet bekommen hatte. Der Faschismus verstand es nun, das daraus entstandene Gefühl einer nationalen Zurücksetzung in ein um den Erlösungsbegriff als Fluchtpunkt gebautes, komplexes säkular-mythologisches Verweissystem auszubauen, dessen Struktur und kulturelle Gestualität – zusätzlich — einen Kontrast zur Topologie des “Fortschitts” markierte, wie sie sowohl der Sozialismus als auch der Kapitalismus vorausgesetzt und weiterentwickelt hatten. Erlösungsmythologeme solcher Herkunft standen dann bald hinter der deutsch-nationalsozialistischen Selbstbeschreibung als “Tausendjähriges Reich” [aber auch hinter dem Namen “Drittes Reich”]; sie durchsetzten Hitlers obsessiv-dunkle Anspielungen auf die “Vorsehung” und begründeten als Motivationstruktur wohl auch die Resonanz auf Goebbels’ berüchtigte “Sportpalastrede” vom Februar 1943 [“Wollt Ihr den totalen Krieg?] .
So geht man sicher nicht zu weit mit der Behauptung, dass es faschistische Institutionen und Diskurse ohne den Erlösungsbegriff in ihrem Zentrum nie gegeben hat. Eben deshalb war der Begriff aber auch — säkular gesehen — gleich doppelt blockiert: nicht nur historisch langfristig blockiert durch seinen Ursprung in den christlichen Theologien und ihrer Mythologie, sondern auch durch den Faschismus als zentralen Raum seiner Resonanz, vor allem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Dass mit seiner Reduktion zu einem bloßen Spurenelement der politischen Welt eine neue Faszination durch “Erlösung” unter radikal veränderten Vorzeichen einherging — vor allem in der Literatur — ist also umso erstaunlicher. Kein literarischer Text der letzten fünfzig Jahre hat wohl in der Konvergenz von ästhetischem Anspruch und breitem Erfolg Gabriel García Márquez’ “Hundert Jahre Einsamkeit” von 1967 überboten, das durch Ironie mythenstiftende [und bisher in mehr als fünfundreißig Übersetzungen um die dreißig Millionen mal gedruckte] Epos der Familie Buendía, die ein Jahrhundert lang in eine stagnierende Sphäre von Selbstvariationen eingeschlossen bleibt, bis sie mit der Geburt jenes Nachkommen, der durch “einen Schweineschwanz in Korkenzieherform” gezeichnet ist, hin auf den Rhythmus historischer Veränderung erlöst wird.
Diese Rezepionsgeschichte scheint die — besonders deutliche — Spur einer sich intensivierenden Sehnsucht nach individueller und säkularer Erlösung zu sein. Jenseits der Funktionssphäre des Recht breitet sie sich aus, wo individuelle Brüche kollektiver Ordnunsgsysteme geahndet und im Rahmen des Möglichen wiederhergestelltt werden, aber auch jenseits der Psychotherapien als Institution, die Lebensentwürfe und Lebensformen der Privatsphäre durch Veränderung am Leben hält. Die Sehnsucht nach Erlösung bezieht sich insbesondere auf “traumatisch” genannte Spuren aus der Vergangenheit, die gegen juristische und psychotherapeutische Rationalität immun bleiben. Wer potentiell unheilbare Narben hingenommen oder verursacht hat und glaubt, dass die Möglichkeiten der Psychotherapie ausgeschöpft sind, mag auf Distanz zu sich selbst gehen wollen [“ein anderer” werden], um aus der Distanz und “als anderer” ein Opfer zu bringen, durch das — nach der Logik der Erlösung — Irreversibles aufgehoben werden soll [und dies geschieht gerade dort, wo neben den Wegen der Rationalität auch die Aus- und Um-Wege über eine transzendente Instanz, über “einen Gott,” blockiert oder verschwunden sind]. Nicht einmal auf “Vergebung” kann hoffen, wer sich nach Erlösung sehnt, weil — wie bei allen Narben — die Faktizität der Verletzung nicht in der Verfügung ihres Trägers steht, während die Zeit, wo Wunden oder Narben noch verheilen, schon im Schwinden ist.
In der Erwähnung all dieser erschwerenden Bedingungen wird deutlich, dass die Sehnsucht nach säkulärer Erlösung keine Chance hat, je wirklich zu werden. Denn der Horizont der ihr denkbaren Opfer kann die Garantie der Erlösung nicht erwerben [wer als eine transzendente Instanz sollte sie auch gewähren?]. Bestehen bleibt ein Opfer-Impuls dessen, der unlöschbare Narben verursacht und unlöschbare Schuld auf sich geladen hat — doch wer ihm nachgibt, läuft Gefahr, ein Zeichen des Selbstmitleids zu setzen. Dies gälte selbst für die Geste des Freitods.