Zerbrechlich ist Europa schon immer gewesen, das war – auch schon immer – eine notwendige Bedingung seiner Stärke. Denn diese Stärke kam ja, ganz wörtlich und seit der Teilung des Reichs von Karl dem Großen in die Reiche seiner drei Söhne, aus der komplexen und nie ganz stabilen Einheit einer singulären sprachlichen und kulturellen Differenzierung. In diesen Wochen, Monaten und Jahren lernen die Europäer, dass Klammern wirtschaftlicher und selbst politischer Einheit jene prekäre Einheit, die eine permanente Stärke war, eher gefährden – statt sie zu bestätigen oder gar zu konsolidieren.
Was könnte helfen – neben einer eindrucksvollen Fußball-Europameisterschaft (und natürlich meine das mit dem Fußball ganz ohne Ironie)? Es würde helfen, meine ich von außen (denn ich selbst bin auf unerklärlich kindliche Weise stolz darauf, vor zwölf Jahren Amerikaner geworden zu sein), es würde Europa helfen, wenn sich mehr Europäer der prekären sprachlichen wie kulturellen Vielfalt ihres Kontinents und seiner produktiven Zerbrechlichkeit aussetzten. Vielleicht haben die Europäer zu früh vergessen (oder auch gar nie gewußt), dass ihr Kontinent nur individuell zu haben, zu erleben und zu verwirklichen ist. Dieser Vielfalt müssen sich die Europäer aussetzen – zum Beispiel der kaum zu fassenden Verschiedenheit von Hauptstädten wie Lissabon und Berlin, die zunächst gar nichts gemeinsam haben außer Euro-Münzen und Euro-Scheinen – um so jene konkrete Vielfalt als ein Problem zu erleben, das sie vielleicht lieben können.
Der Spezialist schlechthin für gelebte Zerbrechlichkeit und prekäre Einheit ist mein Freund Klaus Birnstiel. Seine physische Existenz ist die in jedem Augenblick prekäre, immer erst und immer wieder herzustellende Dreiheit aus dem Rollstuhl von der Größe eines City Cars, der fast alle organischen Funktionen seines Überlebens sichert, einem kahlgeschorenen Kopf von auffälliger Größe mit einem unwiderstehlich interessanten Gesicht und einem Körper, der nach seiner Größe eher einem Kind im Vorschulalter gehören sollte. Der geborene Münchner Klaus ist Assistent für Germanistik an der Universität Basel, liebt die amerikanische Westküste so sehr wie die Ostküste — und ist Europäer schon deshalb, weil er sich ein Leben zwischen Basel und München erlaubt. Das Europa von Klaus, das Europa, wie es um seinen Rollstuhl und seinen keine fünfundzwanzig Kilo schweren Körper in jedem Moment entsteht, ist gar nicht mein Europa. Zum Beispiel habe ich (mit kleinem politisch schlechten Gewissen) die Spuren von Salazars Estado Novo gerne, die man in Lissabon noch heute sehen kann, und an Berlin überzeugt mich, seit diesem Sommer endlich, höchstens und allein Grunewald. Aber was immer die individuellen Wahrnehmungen, Erlebnisse und Erfahrungen von Europa sein mögen, aus der Perspektive von Klaus kann der Kontinent nur zerbrechlich und produktiv sein.
Ich will auch noch schreiben, gerade weil dies niemanden interessieren kann in der Öffentlichkeit des Blog-Lesens, dass Klaus, der Spezialist für prekäre existentielle Einheiten, mein Leben in den vergangenen Wochen auf seinen nicht so muskulösen Armen durch eine Überlebenskrise (nicht weniger als das) getragen hat. Dafür werde ich ihm auf immer dankbar bleiben, aber solche Wörter, die gar nicht zur Coolheit der Blog-Welt gehören, müssen hier enden. Hier genau, wo das zerbrechliche Europa von Klaus Birnstiel beginnt:
„Es ist Sommer in Europa, Sommer an den Universitäten, Sommer in Berlin, Sommer in Lissabon. Eine Tagung an der Universität von Coimbra, Portugals ältester und ruhmreichster Universität, hat mich hierher geführt, Lissabon liegt auf meinem Weg, und die Stadt am Tejo erweist sich als echte Entdeckung, als Offenbarung von Schönheit, Würde und Eleganz. Pastéis de Nata, kleine, mit Pudding gefüllte Blätterteigpasteten, werden zum süßen Sinnbild dieser Reise. Selbst der Starbucks am Rossio, Lissabons zentralem Platz, verkauft sie, verbunden mit der standardisierten Kaffeeauswahl der Kette, die rund um die Welt in den immer gleichen Pappbechern mit persönlichem Namenszug ausgegeben wird. Einen internationalen Standard für Barrierefreiheit haben sie bei Starbucks allerdings noch nicht, und so hilft mir eine der zuvorkommenden Baristas über die Türschwelle. Überhaupt die Freundlichkeit: sie scheint eine landestypische Tugend zu sein in Portugal. Es ist eine leise, zurückhaltende Freundlichkeit, mit der mich ein gemütlicher Herr mit Bart wortlos ein Stück den Hügel hinauf begleitet, um sicherzugehen, daß ich mit dem Rollstuhl nicht abrutsche auf den azulejos, den kleinen, oftmals zu kunstvollen Mustern arrangierten Fliesen, welche in Lissabon die Straßen bedecken. Es ist eine aufmerksame, charmante Freundlichkeit, die mir an der U-Bahn-Bäckerei ein Lächeln schenkt (ja, wirklich: schenkt), das mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Die Stadt ist eine Herausforderung mit dem Rollstuhl, das ist klar, und die steilen Gassen mit dem Fliesenbelag stelle ich mir lieber nicht bei Regen vor, doch Lissabons Plätze und Straßen, seine Cafés und Bars sind voller Menschen, die ihre Stadt genießen – und den Besucher teilhaben lassen an diesem Genuß, ihm Wege weisen und über Schwellen helfen. Lissabon ist eine Metropole der Lebensfreude, des Genusses und der Gelassenheit zwischen all den prächtigen Fassaden und auf den erst jüngst vom Autoverkehr befreiten Plätzen und Gassen: ein Denkmal vergangener Größe, ein Denkmal, in dessen Schatten sich aber auch Neues regt, in Seitengassen und abseits der gentrifizierten Touristen- und Amüsierviertel.
Vor zwei Wochen in Berlin ein ähnliches, nur leicht anders nuanciertes Bild: eine größere Stadt, mehr Beton, mehr Stahl und Glas, mehr Häßlichkeit, mehr Hektik, mehr Currywurst statt Pastetchen, mehr Schnauze statt Gespräch. Doch tief im Westen der Stadt, im Grunewald, am Wissenschaftskolleg, verbringen wir einen ganzen Tag in Konversation, sprechen über Hiesiges und Transatlantisches, Europäisches und Globales, Deutsches und Amerikanisches. Ein Chef des Hauses läßt es sich nicht nehmen, mich persönlich durch die Räume zu führen, und sein Enthusiasmus ist sprichwörtlich ansteckend. Das Wissenschaftskolleg ist eine jener Institutionen, welche einst dazu dienten, das alte West-Berlin, das West-Berlin der Teilung, des doppelten, des halbierten Deutschland mit Kultur zu beatmen. Heute gehört es zu den herausragenden Instituten der Welt, an denen vom alltäglichen Universitätsbetrieb freigestellte Gelehrte ungestört ihrer Arbeit nachgehen können. Die Räumlichkeiten wie auch die Arbeitsbedingungen sind, was man früher „gediegen” genannt hätte, komfortabel und angenehm, und die Lage am Stadtrand erzeugt jene splendid isolation, die auch eine Bedingung intellektueller Arbeit ist. Wer hier arbeiten darf, kann sich glücklich schätzen, an diesem Potential teilhaben zu dürfen, dieser Einladung zur Kontemplation und zum energetischen Austausch. Am Abend dann aber wieder zurück in die Mitte ohne Zentrum, Theater in der Hauptstadt, eine Dramatisierung von Kleists Novelle Die Marquise von O … unter der Regie von Frank Castorf an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Kleists an Latenzen und Subtilitäten so überreiche Novelle, deren Wesentliches, die Vergewaltigung der Marquise von O … durch den Grafen von F … (bei Castorf: „Pünktchen Pünktchen Pünktchen”) ihr Autor in die stumme und doch so sprechende textuelle Präsenz eines Gedankenstrichs fügt, ist wohl schlicht zu viel für Castorfs ausgeleierte Zersetzungsmaschine, in der auf jede gelungene Zeile zielsicher ein vorgeblich postmoderner Kalauer folgt. Warum man diesen epischen Text überhaupt dramatisieren und also auf die Theaterbühne verfrachten muss, das weiß wohl auch Frank Castorf nicht so recht – es ist halt gerade Mode, und probieren kann mans ja mal. Kleists Geschichte von Vergewaltigung, Familienehre, Krieg und Ich-Verlust wird dabei zum Kammer-Spiel im vermufftesten Sinne: fünf wahrscheinlich sehr gute Schauspieler in einem Wohnzimmer mit gelben Cannapes (oder sagt man Chaiselongue zu so etwas?) herumlümmeln zu lassen, macht noch keine Inszenierung, und da sich dieser Text so offenkundig gegen die postdramatischen Mätzchen wehrt, die Castorf ihm beständig angedeihen läßt, verfährt der inszenierende (und frisch verlängerte) Intendant mit Kleists Text eben nach dem Imbissbudenprinzip: vierteln, achteln, spachteln. Immer wenn im Spiel also nichts mehr weitergeht, muss Sylvester Groth als Lorenzo, der Vater der Marquise, nach vorne treten und ein mittelgroßes Stück des Originaltextes aufsagen – und es sind genau diese Rezitationen, die sich zwar nicht in das Geschehen auf der Bühne fügen, den Abend aber doch noch irgendwie erträglich machen.
Gegen die ziellose Albernheit dieser Kleist-Adaption und die offenkundige Ignoranz gegenüber dem Potential dieses Textes helfen jedenfalls auch Pferd, Hund und Huhn nicht, die Castorf ins Rennen um die Minimalaufmerksamkeit des Zuschaürs schickt. Daß der eigentlich ganz rührende Theater-Broiler dann aber ausgerechnet dem Autor dieser kleinen Betrachtung, der, aufgrund seines Rollstuhls noch vor der ersten Reihe zwischen Zuschauerraum und Bühne plaziert und somit dem Theater-Ereignis schutzlos ausgesetzt, in den Schoß flattert, auch das taugt nicht zum Skandal für den Rest des Abends, ja, es reicht noch nicht einmal zu höchstpersönlichem Groll oder einer rückenmarkserschütternden Schrecksekunde unter der Überschrift „Gerade noch einmal davongekommen oder Wie Frank Castorf mir einmal kein Hühnchen briet”: selbst dafür ist der Abend einfach zu lahm. Froh war man nur, dass es das Huhn war und nicht der – wirklich ganz gutmütige – Gaul, der einem da so beherzt entgegentrat. Intimität mit dem Text, die wäre schon wünschenswert gewesen, aber diese Form tierischer Tuchfühlung ist dann eben doch genauso irrelevant wie Castorfs ganze Inszenierung. Dem Federvieh kann man sein flatterhaftes Aus-der-Rolle-fallen mit etwas Langmut noch nachsehen. In den USA würde das Ganze wohl unter Euro-Trash laufen, und die Attitüde der Verramschung jedenfalls paßt ganz gut zur Stimmung dieser Tage: die nicht enden wollende Krise des Euro, langsam schlägt sie um in eine fatalistische Stimmung von Abbau und Ausverkauf, von Zukunftslosigkeit und ratlosem Weiter-so, und die sommerliche Fröhlichkeit der großen Städte, für Momente kommt sie einem vor wie ein in eine endlose Sekunde gedehnter Totentanz der alten Welt. Überhaupt Berlin: läuft man durch Berlins Mitte, so begegnen einem überall die frisch zu preisgünstigen Hostels umfunktionierten Fabriketagen, die Kneipen im sandgestrahlten Altbaugewölbe, die kleinen Boutiquen für selbstgenähte Handtaschen, frisch gepreßte Fruchtsäfte, elektronische Accessoires in zeitgemäßem Design und allerlei sonstigen Schnickschnack für den urbanen Lebensstil. Frequentiert werden all die Läden von jungen Männern mit dicken Brillen und Vollbart oder 30-jährigen Mädchen im niemals vergehenden Amélie-Look. Mit Heimatorten weit im Süden und Südwesten, in Schwaben und in Bayern, in Fürstenfeldbruck und in Göppingen, in Ludwigshafen und Ravensburg wirken all diese jungen Menschen aber doch auch immer ein bißchen wie Statisten auf der ewig adoleszenten Suche nach ihrer Rolle in diesem Leben, dessen nicht nur ökonomische Horizonte sich mehr und mehr verdüstern. Ganz Mitte ein einziger Hipster-Freizeitpark? Am Ende fragt sich der Besucher jedenfalls, wovon all diese Projektemacher und Künstler, Medienmenschen und Computerfritzen eigentlich leben, womit sie ihre (immer noch vergleichsweise moderaten) Mieten bezahlen und welche Aussichten sie haben für ihre Zukunft in Deutschlands neür Mitte, und dann bricht ein Platzregen los und erlöst den Betrachter von der misanthropischen Hoffnungslosigkeit all dieser Gedanken.
In Lissabon drängt sich die Frage nach Europas Zukunft zunächst weniger nachdrücklich auf, dafür ist das Wetter zu schön, die Kulisse zu prachtvoll, die Abende auf den zahllosen Miradores, die so fantastische Ausblicke über die Stadt ermöglichen, zu bezaubernd. Dabei trifft die Krise Portugal und den Süden insgesamt viel stärker als die konsolidierten Wohlstandswelten Zentraleuropas: der mit viel harter Arbeit – und viel Subvention – erkaufte neue Reichtum, an vielen Stellen zeigt er seine Brüchigkeit: endlos aufgeschobene Infrastrukturprojekte, halb fertige Brücken, Dauerbaustellen und nicht zünde gebrachte Sanierungen zeugen von dem enormen Rückschlag, den die Euro-Krise bedeutet, und dessen langanhaltende Effekte noch kaum abzuschätzen sind. Die zwanzig Jahre seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, sie erscheinen auf einmal wie ein vergoldeter Moment, wie eine letzte glanzvolle Sekunde vor dem Auftreffen der historischen Springflut, die mit Worten wie „Finanzkrise” oder „Globalisierung” kaum treffend beschrieben ist.
Die historische Stärke Europas, auch darüber sprachen wir in Berlin, sie ist kein „Verdienst” und keine „Leistung”, doch sie mag auch in der Tatsache begründet liegen, dass dieser Erdteil, aus welchen „Gründen” auch immer, erfolgreich wie kein Zweiter war darin, auf engstem Raum eine maximale kulturelle Differenz zu erzeugen und zu kultivieren: die Vielfalt der Sprachen, der Literaturen, der Lebensweisen und Erfahrungen kennzeichnet Europa und bestimmt sein Erbe. Die Wiedergeburt der europäischen Städte, sie ist zweifellos eine der bemerkenswertesten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, in Zentraleuropa bald nach dem Krieg, im Südwesten des Kontinents etwas später, und seit der Wende in Mittel- und Osteuropa. Europas Städte atmen wieder, sie atmen Kultur und Leben und Vielfalt und Möglichkeiten und Momente von Zukunft, von Daseinsfreude und Gelassenheit. Als Freiluftmuseum von kontinentaler Größe aber wird Europa auf längere Sicht nicht überleben können, wenn es nicht zügig zu einem neuen Umgang mit den rasanten Veränderungen im globalen Maßstab findet. Die Regeln für den Freizeitpark, unter dem Druck der planetaren Wirtschaftskrise werden sie gerade neu geschrieben, und dabei sieht es ganz danach aus, als wäre ein weitaus größeres Maß an politischer wie wirtschaftlicher Kohäsion nötig, um das letzte bißchen dieser Differenz am Leben zu erhalten, welche im Sommer 2012 so fragil, so zart und so zerbrechlich erscheint.”