Digital/Pausen

Digital/Pausen

Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Wer braucht eigentlich Psychotherapie?

  Spatestens seit er 1918 aus dem Krieg zurückgekehrt war, zu dem er sich 1914, mit siebzehn Jahren und voller Patriotismus wohl, freiwillig gemeldet...

 

Spatestens seit er 1918 aus dem Krieg zurückgekehrt war, zu dem er sich 1914, mit siebzehn Jahren und voller Patriotismus wohl, freiwillig gemeldet hatte, wurde dem Vater meiner Mutter der Gedanke an den eigenen Tod so absolut unerträglich, dass das Wort in seiner Gegenwart zu vermeiden war und der Chauffeur, den er sich vierzig Jahre später, am Ende des Lebens, leisten konnte, Friedhöfe weiträumig umfahren mußte, ja sogar Schilder, die auf Friedhöfe verwiesen. Und obwohl die Mutter meines Vaters nur für wenige Jahre auf die Volksschule gegangen war, hatte sie sich in ihren Backfischjahren die Vertrauensstelle als Privatsekretärin eines Weinhändlers erworben, brachte dann bald in fünf Jahren drei Kinder zur Welt, bevor ihr Mann starb, ohne eine Versorgung zu hinterlassen. Meine Großmutter hielt ihre beiden Töchter, den Sohn und sich selbst am Leben mit Beiträgen, die sie für eine Tageszeitung der Sozialdemokratischen Partei schrieb, aber auch als Geliebte wohlhabender Männer. Ende der siebziger Jahre starb sie in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.

 

Nicht wenigen unter meinen Verwandten und Vorfahren, stelle ich mir vor, wäre wohl eine psychotherapeutische Behandlung angeboten worden, wenn sie ein halbes Jahrhundert später gelebt hätten. Einschlägige Methoden gab es ja durchaus schon in ihrer Jugend, vor allem natürlich in der Gestalt der klassischen Freud’schen Psychoanalyse, mit ihrem institutionellen Rahmen aus Couchen, komplexen Theorien des Bewußtseins, Fragmenten aus der klassischen Mythologie und Analytikern, deren Selbstverständnis deutlich von religiösen und künstlerisch-kreativen Rollen beeinflußt war. Doch das vorausgesetzte Wissensniveau und vor allem die damals noch von keiner Krankenkasse gedeckten Kosten beschränkten die Kunden der Psychoanalyse auf die wohlhabend-gebildeten Schichten, deren historisch spezifische Probleme und Obsessionen, wie man heute sieht, ihre Therapie-Dispositive so irreversibel geprägt haben, dass sie für unsere Gegenwart weitgehend unbrauchbar geworden sind.

 

Wenn ich an das Leben meiner Eltern denke, zumal an jene Narben, die der Zweite Weltkrieg als Generationentrauma sichtbar in ihrer Psyche hinterlassen hatte, dann frage ich mich noch einmal, ob sie nicht mit einem Quantum psychotherapeutischer Hilfe hätten glücklicher sein können. Doch selbst für sie, die beide als erste in ihren Familien zur Universität gegangen und Mediziner geworden waren, lag diese Möglichkeit nicht im Rahmen des Denkbaren – wenn auch aus ganz anderen Gründen als bei ihren eigenen Eltern. Die einzige Form nicht ausschließlich körperlicher Behandlung, die sie ernst nehmen wollten, war jene Konzeption der Psychiatrie, deren größter Ehrgeiz darin lag, als ein “normales medizinisches Fach” mit strikt pharmakologischen und sogar technischen Behandlungsmethoden anerkannt zu werden. Als mein Vater in der Mitte seines Lebens unter manisch-depressiven Schüben zu leiden begann, welche die Ausübung seines Berufs als Chirurg prekär machten, setzte er sich mehreren Elektroschock-Behandlungen aus, an deren Wirksamkeit er – trotz ihrer evidenten Wirkungslosigkeit – bis zum Tod glaubte.

 

Wie läßt sich aber dieser Widerstand gegen die Psychotherapie erklären, mit dem mein Vater ja keineswegs alleine war? Auf die gängige, bewußt paradoxale und längst etwas zu angestrengt wirkende Standard-Antwort der traditionellen Psychoanalyse möchte ich verzichten. Nach ihr schützt sich in diesem Widerstand das strukturelle Gemüts-Problem gegen seine Auflösung. Näher zu einer plausiblen Antwort führt die zunächst überraschende Beobachtung, dass gerade solche psychischen Probleme und Krankheiten, die für jegliche Gesprächstherapien unzugänglich sein sollten — von den sogenannten “endogenen” Depression über Paranoia bis hin zu den verschiedenen Formen von Schizophrenie — als weniger problematisch, ja geradezu als respektabel galten. Neurosen hingegen, Probleme, die sich durch Gespräche identifizieren und verändern ließen, wurden, so vermute ich, prinzipiell als Situationen angesehen, zu deren Veränderung durch Selbstreflexion und Selbstveränderung man verpflichtet war. Mit anderen Worten: wer die Hilfe eines Psychoanalytikers oder eines Psychotherapeuten in solchen Kontexten suchte, der galt als jemand, der freiwillig seine Autonomie der Selbstverfügung reduzierte, der sich – und das auch noch für Geld – in die Hände eines anderen begab und an ihn, fuer kurze Zeit jedenfalls, die Autonomie ueber sich selbst abgab. Deshalb hieß die dominante und erwartbare Antwort auf die Frage “wer braucht eigentlich Psychotherapie?” fuer lange Zeit: niemand wirklich oder, noch aggressiver: “nur die Schwachen.”

 

Es ist mein Eindruck, dass in den meisten europäischen Gesellschaften, zumal in Deutschland, genau diese Struktur der Abwehr bis heute erstaunlich wirksam geblieben ist. Deshalb gehört ja der hämische Verweis auf eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Psychotherapie zum Standartreperoire des banalen Anti-Amerikanismus — und wenn nur hinreichend bekannt wäre, dass Argentinien und Brasilien jene beiden Kulturnationen sind, wo Psychotherapie und selbst die klassische Psychoanalyse noch viel beliebter sind als in den Vereinigten Staaten, dann würden noch viele andere Horizonte von herablassenden Vorurteilen bestätigt und verhärtet. Die südamerikanische Situation übrigens wäre eine eigene detaillierte Beschreibung wert. Ich kenne jedenfalls keine Gesellschaften außer der argentinischen und brasilianischen, wo man im Alltag von “seinem Analytiker” oder “seiner Analyse” ganz ohne entschuldigende Erklärungen reden kann, so als ob man sagte “mein Onkel,” “mein Rechtsanwalt” oder “meine Strafanzeige.” Für halbwegs gebildete Bewohner der argentinischen und brasilianischen Großstädte gehören ein Analytiker oder ein Therapeut zur Prosa des Lebens; tendenziell fungiert Therapie dort als ein Dispositv der Selbstbeaochtung und Selbststeuerung, jedenfalls sind persönliche Krisen in Südamerika nicht absolut notwendige, ja vielleicht nicht einmal typische Anlässe, um einen Psychotherapeuten aufzusuchen.

 

Doch ich möchte noch einmal – unter euopäischen und vielleicht ja doch auch unter amerikanischen – Bedingungen zu der Frage zurückkommen, “wer denn eigentlich Psychotherapie braucht.” Vielleicht ist sie ja einfach falsch gestellt und genau deshalb so träge, so erstaunlich schwer einzuklammern. Denn es trifft zwar zu, dass all jene Verhaltensänderungen, die im Möglichkeits-Rahmen der Psychotherapie liegen, prinzipiell auch ohne psychotherapeutische Intervention zu erreichen sind (darin nicht zuletzt unterscheidet sich das Selbstverständnis heutiger Psychotherapie von dem der klassischen Psychoanalyse, für die das jeder Selbstfreflexion angeblich undurchdringliche “Unterbewußte” so zentral war). Es gibt dann keine Situationen mehr, wo die Hilfe eines Psychotherapeuten absolut notwendig, ganz und gar unvermeidlich wäre. Aber auf der anderen Seite – und vor allem – wissen wir aus Selbsterfahrung, dass wir nicht selten auf Gelegenheiten und Formen der Verhaltensveränderung stoßen, von deren Notwendigkeit wir zwar bald überzeugt sind, an deren Realisierung und Durchsetzung wir aber trotzdem immer wieder scheitern.

 

Die schon erwähnte Affinität zu Situationen, wo man sich an einen Rechtsanwalt wendet, liegt auf der Hand. In den allermeisten von Rechtssystemen institutionalisierten Kontexten darf ein Bürger zwar sich selbst vertreten – aber er hat eben auch das Recht, an seiner eigenen Stelle eine [von ihm im Normalfall bezahlte] Rechtsanwältin sprechen zu lassen. Die spezifische Ausbildung und die besondere berufliche Erfahrung der Rechtsanwältin machen es wahrscheinlich, dass sie ihren Mandanten erfolgreicher vertreten wird, als es dem Mandanten je selbst gelingen könnte. Ganz ähnlich läßt sich die Funktion der verschiedenen, in unserer Gegenwart zentral geworden Formen der Psychotherapie beschreiben. Man bezahlt einen Psychotherapeuten, wenn und weil man zu der Meinung gelangt ist, dass seine Ausbildung und seine Erfahrung mit Problemsituationen anderer ihn in den Stand setzen, (erstens) mehr an Problemen zu erkennen, als man gemeinhin an sich selbst erkennen kann, und   (zweitens) langfristig erfolgreichere Strategien der Verhaltensänderung vorzuschlagen. Anders formuliert: niemand “braucht eigentlich” Psychotherapie im Sinn einer absoluten Notwendigkeit, aber nur wenige von uns haben ihre Kultur von Selbstreflexion und der Selbstveränderung so weit entwickelt, dass Gespräche mit einem Psychotherapeuten für sie ganz überflüssig wären.

 

Ich glaube, es gibt nur nur eine einzige Dimension der psychotherapeutischen Praxis, wo der Vergleich mit der Rechtspraxis nicht erhellend ist. Manchmal führt aufgestauter psychischer Leidensdruck zusammen mit der Abgeschlossenheit und Konzentration des therapeutischen Gesprächs zu Momenten, wo der Patient / Klient mit einer Intensität der Gefühle reagiert, die er sich vorher gar nicht zugetraut hatte – und von der er sich nicht schützen kann (und auch gar nicht schützen soll). Vielleicht war es gerade dieser Effekt des Ungewohnten, ja manchmal sogar des Unheimlichen, der Freund als eine häufige Wirkung seiner eigenen Behandlungsmethode beeindruckte. Ohne Freud, trotz allem, gäbe es den weitverzweigten Markt der heutigen Psychotherapie wohl kaum. Aber wenn dieser Markt und die zu ihm gehörenden Berufe sich von vornherein ausschließlich auf Freund konzentriert hätten, dann würde dieser Markt ebensowenig existieren. Es kommt in der Psychotherapie darauf an — mit temporärer Unterstützung — sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Wer mit einem Selbstbild lebt, für das die temporär klärende Rolle des Therapeuten eine unerträgliche Kränkung ist, der muss eben versuchen, alleine zurechtzukommen.