Digital/Pausen

Digital/Pausen

Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Jetzt ist Zeit für Grunewald

Am Hagenplatz, wohin die Königsallee vom Ende des Kurfürstendamms nach Westen läuft, kann man im Schaufenster des Schreibwarengeschäfts ein Plakat sehen,...

Am Hagenplatz, wohin die Königsallee vom Ende des Kurfürstendamms nach Westen läuft, kann man im Schaufenster des Schreibwarengeschäfts ein Plakat sehen, das für ein anliegendes Restaurant wirbt: dort soll das Essen schmecken  “wie aus einer Gulaschkanone.” Wohl die letzte Gegenwart, zu der die Gulaschkanone mit ihrer fröhlichen Konvergenz von praktischer Technik und dem Sonntag von Unteroffizieren passte, waren die fünfziger Jahre von Heinz Rühmann, Connie Froboess (“Pack die Badehose ein”) und der Berliner Ferienkinderaktion. Jetzt hängt das Gulaschkanonen-Plakat im Schaufenster des Schreibwarengeschäfts, wo man weder Illustrierte noch teure Bleistifte kaufen kann und vor dem gerade ein Bentley-Cabriot parkt, dessen Fahrer aus der “Kommissar”-Fernsehserie der siebziger Jahren kommen könnte (aber nicht kommt), so wie er seine teure, bequeme und vor allem irgendwie unpassende Kleidung trägt. Der Fahrer und die sehr wohl zu ihm passende Freundin setzen sich an den Tisch auf der Terrasse einer Bäckerei, wo es zum Frühstück schon Eiskaffee mit Sahne gibt, Kuchen unter schimmernder Glasur, aber auch alltägliche Portionen Filterkaffee. Grunewald, das sind die Gründerzeit und die fünfziger Jahre, die es sich in der Gegenwart bequem machen.

Ich wollte nie woanders hin in Berlin, vor allem nicht nach Mitte, zwischen Ende März und dem ersten Juli dieses Jahres. Jeden Morgen sehr früh ging ich die weniger als zehn Minuten von der Königsalle 20 an einem der selbstverständlich gegenwärtigen Seen entlang und unter grünen Bäumen zur Wallotstraße 19, an der Bushaltestalle der Linie M 19 vorbei, und abends spät im Dunkeln zurück. Das war angenehm jeden Tag, dauerte nur etwas länger als eine Zigarette (bloß an den nervösen Tagen, die ich auch hatte, zwei) und verband die Villa Walther, ein luxoriöses Immobilienprojekt von 1912, das nie den anvisierten kapitalstarken Käufer fand, mit der ebenso pompösen, aber etwas weniger ausladenden Villa Linde, die Franz Linde, Vizepräsident des Amts- und Landesgerichts Berlin Moabit, 1910 für sich und seine Familie bauen ließ. Die Gründerzeit in Grunewald hat es wohl nie wirklich geschafft, aggressiv auszusehen, nicht einmal mit den martialischen Dekorationen auf den Mauern und Wänden der Villa Walther, auch nicht mit den vier Sphinxen an der Brücke, die hinter ihr über den Herthasee führt: sie haben zwar riesige Brüste und Löwenpfoten, aber sehen doch alle der frigiden Kaiserin Auguste ähnlich.

Geschäfte gibt es nicht in Grunewald, außer denen am Hagenplatz, Restaurants nur ein paar wenige ohne Profil und Bargeldautomaten schon gar nicht. Denn Geld und was man dafür kaufen kann, ist immer schon da für die zehntausend Bewohner, die sich auch sonst gar nicht bemühen zu zeigen, wie reich sie sind. Viele Frauen leisten sich so diese Hosen, deren Länge man früher “dreiviertel-Liter” nannte und die überhaupt niemandem stehen, während die Männer Adidas-Schuhe zu Sakkos tragen, welche nie bessere Tage gesehen haben. Eine schlanke junge Kollegin, die dort groß geworden ist, sagt mir, sie könne das Sonnenöl aus dem Freibad noch riechen, das längst verschwunden ist, und eben wegen dem Freibadlicht und dem erinnerten Freibadgeruch sitzen wir draußen in einer Trattoria, die sonst nur viel zu teures Essen, ziemlich ungeschickte Bedienung und richtig schlechten Plüschgeschmack zu bieten hat. Aber wo wollte man sonst sitzen, schon ganz nahe beim Kurfürstendamm, wenn es warm wird, ohne dass der deutsche Bildungs-Terror des trockenen Weins und des authenischen italienischen Essens mit den fein abgeschmecktem Ölen woanders je nachlässt?

Grunewald ist wie ein Leben, dessen Rentenalter sehr früh beginnt, vielleicht kurz nach dem Abitur, und das dann alle Vergangenheiten angenehm festhält, ganz einzigartig angenehm. Wo die Wallotstraße in eine Kurve der Königsalle mündet, markiert ein Gedenkstein die Ermordung von Walther Rathenau im frühen Sommer 1922, am 24. Juni. Der deutsche und jüdische Industrielle und Politiker war aus Grunewald, das schon Bismarck ein halbes Jahrhundert vorher zu einer Enklave der Reichen machen wollte, im Auto zu seinem Büro in der Wilhelmstraße unterwegs, wo später Hitlers Kanzlei sein sollte, als ein anderes Auto seinen Weg versperrte, dessen Insassen ihn erschossen und ihm zur Sicherheit noch eine Handgranate nachwarfen. An jenem Morgen begann der von neuen Mythen geschwängerte Antisemitismus die neue Sachlichkeit von Deutschland zu zersetzen, in Grunewald, fünfzehn Minuten von dem Haus entfernt, in dem Vicki Baum, eine jüdische Journalistin aus Wien, 1929 “Menschen im Hotel schrieb,” einen der ersten Romane, die als “Bestseller” in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Später wurde ein großer Teil der Bevölkerung vom Grunwalder Bahnhof in die östlichen Konzentrationslager deportiert, auch diese Geschichte haben die Seen, das Licht und das Sonnenöl von Grunwald in sich aufgenommen, und nur hier konnte das Olympiastadion von 1936 als Hitlers Bühne entstehen und bald als Werner Marchs und Albert Speers Architektur-Monument das Ende von Hitler fast mühelos überdauern.

Es ist nur ein paar Jahre her, dass Grunewald ausgezählt war, sozusagen stehend k.o., weil die kreativen Kräfte der Berliner Republik und die sich dafür hielten nach Prenzlau drängten, nach Kreuzberg und nach Mitte, wo die Zukunft damals täglich zu beginnen schien, während der Westen wie eine immer banalere Peripherie aussah. Nun kommt der Westen wieder, über den Kurfürstendamm spazierend, in dessen Cafés keine freien Plätze mehr bleiben, selbst an einem Werktag-Morgen. Es ist es einfach so, auf den ersten oder jedenfalls auf den zweiten Blick, Neues oder gar Überraschendes hat dieser neueste Westen gar nicht zu bieten, aber wie eine Renaissance der Adenauer-Jahre fühlt er sich auch nicht an. Das liegt wahrscheinlich alles an der Zeit von Grunewald, die schon immer alle früheren Zeiten aufgenommen, bewahrt und zu einer Gleichzeitigkeit aus vielen Schichten und Horizonten gemacht hatte. Eben das ist unsere Zeit geworden, unsere historisch spezifische Form der Zeit, unversehens während der letzten Jahrzehnte. Eine Zeit, deren Gegenwart nicht mehr konturiert und abgegrenzt ist gegenüber ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft, eine Zeit, in der die Gulaschkanonen von 1900 und von 1950 stehenbleiben, zusammen mit der unglücklichen Mode aus den siebziger Jahren, den Assistenten des “Kommissars” und den Schlagern von Connie Froboess; eine Zeit, die keinen alt werden lässt und in der niemanden eine Antwort auf die Frage mehr kümmert, was denn gerade anders, neu oder provozierend sein könnte. Das ist vielleicht schon immer die Zeit von Grunewald gewesen, in der man gut lebt, weil der Weg an den Seen entlang und unter den großen Bäumen so garantiert angenehm ist jeden Morgen und weil der Kuchen von früher so gut schmeckt, wie er schon immer geschmeckt hat. Nichts geht verloren in ihr, und nichts ist mehr wichtig und neu genug, dass wir uns damit auseinandersetzen oder vereinen wollen – was der Preis dieser schönen Zeit von Grunewald ist.