Um die Zahl und vor allem um eine Hierarchie, man könnte heute wohl sogar sagen: um ein “Ranking” der menschlichen Sinne gab es in der Antike, besonders aber im Mittelalter eine Reihe intensiver Diskussionen, aus denen am Ende fast immer das Sehen oder das Hören als zentrale Modalitäten der Einstellung zu unserer materiellen Umwelt hervorgingen — je nach den Argumenten und später dann den autoritätsstiftenden Bibelstellen, auf die man sich verlassen wollte. Seit der Aufklärung, die sich selbst als Zeitalter des Lichts verstand, bis heute ist dann das Sehen deutlich in den Vordergrund gerückt, nur vorübergehend, in den siebziger und achtziger Jahren, angefochten von Einwürfen dekonstruktivistischer Philosophen, die aber selbst zugleich eine angeblich unreflektierte Priorität der Stimme und des Hörens in der westlichen Kultur kritisierten – und mittlerweile mit dem Allerweltseinwand, “anti-aufklärisch” zu sein, zum Schweigen gebracht worden sind. Bis auf weiteres hat sich nun die Einsicht durchgesetzt, dass es eine letztendlich begründbare Priorität in dieser Konkurrenz der Sinne nicht geben kann, weil sich sowohl das Hören wie das Sehen dazu eignen, je verschiedene (nicht unbedingt wichtigere oder unwichtigere) Welt-Verhältnisse gleichsam als Embleme zu veranschaulichen.
Die Frage hingegen, warum Tasten, Schmecken und Riechen (fast immer in dieser Reihenfolge) so deutlich weniger im Zentrum der intellektuellen Aufmerksamkeit stehen, ist kaum je gestellt worden – wahrscheinlich weil eine bündige Antwort auf der Hand liegt. Denn im Gegensatz zum Sehen und zum Hören werden diese Sinne nur periphär von der menschlichen Kommunikation in Anspruch genommen und sind eben deshalb an den Rand eines Selbstverständnisses der Existenz geraten, in dem seit Erfindung der linearen Schrift die Übertragung von Sinn immer mehr an Dominanz gewonnen hat – bis hin zu unserem elektronischen Zeitalter, in dem ja oft all jene Teile unseres Körpers dysfunktional und überflüssig erscheinen, die nicht vor allem auf Kommunikation abgestellt sind. Genau aus dieser Perspektive lässt sich auch verstehen, warum das Riechen so abgeschlagen im Ranking der Sinne steht, dass es immer wieder (aus heute allerdings eher skeptisch eingeschätzten naturwissenschaftlichen Gründen) mit den archaischsten Regionen des menschlichen Gehirns assoziiert worden ist. Obwohl wir tatsächlich Tausende von Gerüchen erkennen und in je spezifischer Weise auf sie reagieren können, verfügen unsere Sprachen nur über atrophische Begriffs-Repertoires, um sie zu erfassen – nicht allein im Gegensatz zur gehörten und zur gesehenen Welt, sondern sogar im Gegensatz zum Tasten und zum Schmecken. Gewiss, die gerade während der vergangenen Jahrzehnte zu barockem Schwulst ausgewachsenen Diskurse der Gastronomie beweisen, dass es auch schwer ist, mit Klarheit über das Schmecken zu reden – doch im Hinblick auf das Riechen scheint es nicht einmal den primären Impuls zur Verbalisierung zu geben. Wer es sich leisten kann, der gibt für Parfum gerne soviel aus wie für einen Wein der gehobenen Preisklasse, doch für eine neue Geruchs-Wahl entscheidet man sich nach einer kurzen Spray-Probe – nicht aufgrund von olfaktorischen Äquivalenten der anspruchsvollen vitikulturellen Fachliteratur oder der ernsten Expertise eines wortreichen Sommeliers.
All die ursprünglichen, von der Zoologie so ausführlich beschriebenen Funktionen des Geruchs spielen in den Gesellschaften unserer Gegenwart längst keine Rolle mehr: niemand käme auf den Gedanken, seinen Einflussbereich durch Duftmarken zu objektivieren; Nahrungsmittel, die nicht mehr genießbar sind, werden aufgrund eines ausgedruckten Verfallsdatums aussortiert, lange bevor uns ihr Geruch je warnen müsste, während wir andererseits das tägliche Essen immer häufiger von einer Speisekarte bestellen; und zuzugeben, dass man von einer Person aufgrund ihres Körpergeruchs erotisch fasziniert ist, käme heute einer Beleidigung gleich, die gleich alle Chancen auf weitere Annäherung aufhöbe. Wer die “Nase” eines Weins, den Duft von Trüffeln oder das Parfum seines Geliebten genießt, der soll dies — ganz im Sinn von Immanuel Kants Beschreibung des ästhetischen Urteils – “interesselos” tun, das heißt unabhängig von einem bestimmten Ziel und eigentlich immer erst dann, wenn die Entscheidung für ein spezifisches Genuss-Objekt bereits gefallen ist. Hinzu kommt, wie schon erwähnt – und darin liegt eine zweite Affinität zum ästhetischen Urteil, dass es uns noch schwerer fällt als beim Tasten und beim Geschmack, verbal explizit zu machen, worin der Grund für eine Geruchspräferenz liegt (darüber hinaus habe ich den Eindruck, dass beim Geruch äußerster Ekel und äußerster Genuss sehr nahe beieinander liegen können und oft bloß aufgrund einer Nuance vom einen ins andere Extrem kippen).
Nichts ist also sinnlicher und eindeutiger ästhetisch in der hyperkommunikativen Welt unserer Gegenwart als die starken Reaktionen auf Wahrnehmungen des Geruchs. Doch gerade ihre ästhetische Eindeutigkeit scheint einen – sozusagen geruchsneutralisierenden – Schatten moralischer Illegitimität über diesen marginal gewordenen Horizont unserer Existenz zu werfen. Unter dem Versprechen absoluter Verschwiegenheit erzählte mir eine junge Frau, dass sie ihre Beziehung zu einem Freund abgebrochen habe, mit dem sie sich sonst gut verstand, weil sie ihn (im wörtlichen Sinn) “nicht riechen konnte” – und dabei ging es nicht um den ohnehin sozial negativ kodierten Schweiß- oder Mundgeruch, sondern um einen individuellen Körpergeruch, der ihr einfach unsympathisch war. Warum, frage ich mich (nicht ohne ein eigenartig schlechtes Gewissen angesichts dieser Frage), warum sollte dies eigentlich ein weniger akzeptabler Grund zur Trennung sein als politischer Dissens etwa oder eine Verschiedenheit im Gehalt von religiösen Glaubenspositionen? Doch dann fällt mir auf, dass ja nicht nur – glücklicherweise – seit meiner Jugend vor fünfzig Jahren die Intoleranz gegenüber Körpergerüchen deutlich gestiegen ist und dass zugleich – leider, was mich angeht und ähnlich wie es vor nicht allzu langer Zeit mit dem Rauchen ging – die Zahl jener institutionellen Kontexte zugenommen hat, in denen das Tragen von Parfum für Männer wie für Frauen inoffiziell (oder sogar offiziell) ausgeschlossen ist.
Was könnte aus diesen — tentativen — Beobachtungen zum kulturellen Stellenwert des Geruchs folgen? Sie konvergieren jedenfalls in der Feststellung einer immer kohärenter werdenden Tendenz, unangenehme wie angenehme Geruchseffekte aus der sozialen in die private Welt abzudrängen. Nicht einmal der Weihrauch in der religiösen Öffentlichkeit einer katholischen Messe gilt heute noch als zeitgemäß. Und selbst in der Privatsphäre, so haben wir gesehen, erreicht diese marginalisierende Energie Geruchswahnehmungen in der Form eines ethischen Vorbehalts. Nur dann soll man sich auf sie einlassen, wenn keine Entscheidungen mehr von ihnen abhängig sind – weshalb wir zunächst der sachverständigen Empfehlung eines Sommeliers folgen und erst dann gastromisch gebildet genug sind, um zu wissen, dass sein Geruch zum Genuss des Weins gehört (den wir freilich bestellt hatten, ohne diesen Geruch zu kennen).
Könnte man behaupten, dass der Stellenwert des Geruchs in dieser speziellen Hinsicht paradigmatisch ist für die Position ästhetischer Erfahrung in den Kulturen unserer Gegenwart? Viele Zeitgenossen verfügen über mehr Zeit, die nicht schon von Verpflichtungen der Arbeit oder von der Familie beansprucht ist, als die früheren Generationen. Dies hat zu einer Expansion der Späre ästhetischer Erfahrung und zu einer Vervielfältigung ihrer Dispositive geführt. Aber wie oft gestatten wir uns wirklich in diesem Rahmen Wahrnehmungen und Erfahrungen, die sinnlich sind, ausschließlich und allein sinnlich – und nicht einmal durch einen Begriff wie “Bildung” in ein Projekt integriert oder einem Ziel unterworfen? Anders gesagt: wir dürfen nur wirklich genießen, was einen ethischen oder sogar einen politischen Mehrwert hat – und wir dürfen uns nur dann an einem Geruch freuen, wenn das keine Konsequenzen hat.