Am Montagmorgen bin ich angekommen im tropischen Winter von Rio de Janeiro, jetzt ist es Mittwochabend, und an das Hotel in guter Lage, von dessen Eingang man über zwei Straßen und mehrere Fußballfelder den Strand von Flamengo sehen kann, habe ich mich noch nicht gewöhnt. Die Angestellten reduzieren konsequent alle Servicemöglichkeiten auf das radikale Minimum, und ihre Mienen weisen vorweg jede weitere Frage oder Bitte ab. Wer immer mich über die Rezeption am Telephon erreichen will, wird mit der Auskunft abgewiesen, ich sei nicht da — obwohl ich eigentlich die meiste Zeit in meinem Zimmer gearbeitet habe. Nein, ausser Bier, Cola und Wasser gebe es keine Getränke für die Minibar. Auf Internet-Empfang ist das Gebäude nicht eingestellt, und was das Restaurant vom Frühstück bis zum Abendessen bieten kann, macht es wirklich leicht, mich an die sonst eher halbherzig eingehaltenen Diätvorschriften zu halten. Nur der Preis pro Tag hält, was die Lage verspricht. In zwei Jahren wird hier ein Großteil der nächsten Fußballweltmeisterschaft abgewickelt, und 2016 ist Rio Olympiastadt. Das schon jetzt durchaus auf europäischer Ebene liegende Preisniveau wird dann noch einmal dramatisch anziehen – nur, wie soll sich die Qualität des Angebots in so kurzer Zeit entscheidend verändern?
Aber das ist die falsche Frage. Brasiliens Wirtschaft befindet sich weiter in einer Phase der Expansion, die Regierung hat sich nun schon seit einem Jahrzehnt in allen pragmatischen Angelegenheiten als durchsetzungskräftig erwiesen, und ausserdem geht es am Ende immer irgendwie in Südamerika. Rio wird eine gute (oder mindestens eine passable) Olympiastadt sein für all seine Sporttouristen, die abends noch ein Glas trinken und an irgendeinem Morgen auch im Atlantik baden wollen, damit sie davon zuhause erzaehlen können. Selbst der Verkehr wird zwei oder drei Wochen lang ohne all die Engpässe funktionieren, die es derzeit noch ganz unvorhersehbar machen, wie lang man an einem bestimmten Tag für Wege braucht, die sich nie vermeiden lassen. Zwischen dem weißen Strand und dann gut renovierten Häuserfassaden werden alle Gäste im Bus oder Taxi zu den verschiedenen Stadien gefahren und zurück, bis die Spiele vorbei sind, und nur noch der eine Weg zum internationalen Flughafen bleibt, der dann auch sicher viel besser aussehen wird als am Montagmorgen.
Weil Reisebüros in Rio nur Zimmer mit Ozeanblick buchen, wird man die Welt nicht kennenlernen, welche die Vergangenheit vor meinem Fenster auf der Rückseite des Hotels inszeniert hat. Rechts und links Hochhäuser aus den vierziger oder fünfziger Jahren, deren Beton längst dunkel marmoriert geworden ist von der Feuchtigkeit, die er schon immer absorbiert hat. Dazwischen blicke ich auf Bäume, die schwer an ihren fleischigen Blättern tragen, und ahne hinter ihnen eine anscheinend verlassene Holzhütte, wie in den Fels geklebt, der dort plötzlich aufsteigt. Die Bewohner müssen sich irgendwann einen Weg durch die Vegetation nach unten gebahnt haben, umgeben von einem Holzgeländer, an das nur noch verwitterte Reste erinnern. Abends kommt aus den Hochhäusern der Essenseruch von billigem Öl, und manche der Balkone scheinen als Toiletten zu funktionieren. Ein Stadtviertel jener Armut, die aus der Gesellschaft ausschließt, eine Favela also, ist die Welt vor meinem Fenster noch längst nicht, eher die heruntergekommene Modernität von vor fünfzig Jahren, deren Glanzzeit vielleicht schon vorbei war, als diese Häuser zum erstenmal bezogen wurden.
Und so ist das Flair von Rio de Janeiro, eher als die Unfreundlichkeit der Hotelangestellten, die dort wohnen mögen, und eher als die Fassaden, die nun bald in Schuss gebracht werden müssen. Rio ist die Nostalgie vieler besserer Zeiten, von der man ahnt, dass sie fast nie wirklich gewesen ist, und es ist zugleich die Lebensform, welche diese Nostalgie genießt. Dafür gibt es ein berühmtes portugiesisches Wort, “saudade,” wörtlich Einsamkeit, aber eigentlich viel komplizierter (in Begriffen zumindest): der Genuss des Gefühls, dass man vermisst, was einmal am besten war. “Saudade” ist nicht begrenzt auf die niederen Ebenen der sozialen Hierarchie. In den Romanen von Joaquim Machado de Assis aus Rio de Janeiro, dem großen Klassiker der brasilianischer Literatur (von dessen Texten es aussergewöhnlich gute deutsche Übersetzungen gibt), sind es die Großbürger der Zeit vor 1900, die nie vergessen können, dass sie nicht mehr in Europa sind, nicht mehr in Lissabon, Paris oder Wien, so wie der erste brasilianische Kaiser ein Prinz war, der aus seinem Exil nicht nach Europa zurückkehrte. Rio de Janeiro, kann man sagen, ist immer und ueberall das nicht mehr, was es noch nie ganz war. Längst hat Rio an Sao Paulo den Rang der bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Stadt des Landes abgetreten; und am Ende eines komplizierten und wie unendlich scheinenden Übergangsprozesses, der in den frühen sechziger Jahren begann, ist Rio dann auch als Hauptstadt von Brasilia ersetzt worden. Doch bis vor kurzem gab es ein sympathisch heruntergekommenes Hotel mit dem Namen “Gloria,” wo man noch die Nummern der Zimmer kannte, in denen die Geliebten verschiedenen Präsidenten geschlafen hatten.
Jetzt wird das Hotel “Gloria” auf Kosten eines Millardärs so sehr auf Vordermann gebracht, dass man für die Neueröffnung eine “sechs Sterne”-Kategorie vorsieht, die es bisher noch nie gegeben hat. Auch Maracana, das damals zweihundertausend Zuschauer fassende Stadion, wo Brasilien 1950, bei der vorigen Heimweltmeisterschaft, im letzten Spiel gegen Uruguay den Titel verlor (mehr ais fuenfzigtausend Zuschauer sollen die Nacht danach trauernd auf der Raengen verbracht haben), Maracana, das länger als ein halbes Jahrhundert das mehr und mehr verfallendes Monument jener Wehmut war, wird unter einer verbesserten Version seiner selbst am gleichen Ort verschwinden. Die Frage ist also nicht, ob das neue Brasilien in Rio de Janeiro eine Fußballweltmeisterschaft und olympische Spiele organisieren kann, die den Ansprüchen der internationalen Sporttouristen genügen; die Frage ist, ob Rio de Janeiro das Gelingen dieser Projekte überleben wird.
Ein Taxi kann Sie zum botanischen Garten bringen, wo das neunzehnte Jahrhundert die tropische Natur in strenger Geometrie ausstellte, und dann sollen Sie daran denken, dass die Reichen der dreißiger Jahre im Jockey Club, auf der anderen Seite der Straße, ihre Sonntage verbrachten. Wenn Sie schwimmen gehen, in Copacabana, Ipanema oder Leblon, achten Sie darauf, wie fest der feuchte weiße Sand unter Ihren Füßen bleibt – und ob die Bikinis immer noch so klein sind wie in jener Zeit, als das ein Tabubruch war. Oder schwimmen Sie bei Nacht, solange es die Polizei noch nicht konsequent verhindert, auch das war einmal eine Provokation, 1958 vielleicht, im glücklichen Jahr der brasilianischen Geschichte, als die Fußballweltmeisterschaft endlich gewonnen und die Militärdiktatur noch fern war. Nur wenn Sie sich einreden lassen, dass diese Olympiastadt der Gegenwart oder der Zukunft gehört, dann haben Sie – und dann hat Rio de Janeiro – endgültig verloren.