Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Our Brave Newest World: Apps und Fertigkeitsreservate

  Letzte Woche erst war ich in einem vollem Seminarraum plötzlich mit der Frage konfrontiert, welche Rolle „Apps" denn für meine Arbeit spielten....

 

Letzte Woche erst war ich in einem vollem Seminarraum plötzlich mit der Frage konfrontiert, welche Rolle „Apps” denn für meine Arbeit spielten. Ich dachte, ich hätte mich verhört und bat mit herablassender Höflichkeit, das mir unbekannte Wort doch noch einmal genauer auszusprechen. Aber die Studentin blieb bei „Apps,” und wieder einmal traf mich mit voller Wucht jene Welle der Peinlichkeit, die mir als Bewohner von Silicon Valley nie erspart bleibt, wenn jemand meine elektronische Inkompetenz radikal bloßstellt. Die Seminarsitzung war, milde gesagt, gescheitert. Wer wollte sich in den verbleibenden vierzig Minuten noch das seichte kulturkritische Gerede eines alten Mannes bieten lassen, den der Alltag unserer Gegenwart so offensichtlich abgehängt hatte? In den auf solche Situationen unvermeidlich folgenden Momenten professoraler Trauerarbeit schicke ich fast immer eine E-Mail (weiter geht die reale elektronische Kompetenz bei mir kaum) an meinen Freund Jan Soeffner. Ob er mir erklären könnte, was „Apps” seien und ob mit den „Apps” nun endlich die schon so lange angekündigte Transformation des Menschen einsetze. Ist das der Fall, dachte ich, dann bleibt keine Ausrede mehr, selbst für einen, der gerne ein Intellektueller alten Stils sein möchte. Jan ist ein literaturwissenschaftlicher Kollege an der Universität Köln, er trainiert regelmäßig in einem Boxstudio (wofür ich ihn sehr bewundere) – und seit einigen Monaten ist er auch der leidenschaftliche Vater seines kleinen Sohns Diego. Obwohl ihm also wenig Zeit bleibt für die unbezahlte Weiterbildung von Freunden im dritten Alter, hat er mir mit einem kurzen philosophischen Traktat geantwortet, den ich für interessanter, kompetenter und provokanter halte als die etwas dünnen Ideen, die mir selbst letzte Woche – in der etwas depressiven Woche dieses Seminar-Unfalls – für den Blog kamen. Hier beginnt die ungekürzte – Fassung:

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Vor etwa fünfzehn Jahren wurde die Fehlleistung zu Tode gewitzelt, eine online bestellte Pizza downloaden zu wollen. Die Haltung, die sich hinter dieser Fehlleistung verbarg, war eine „Immaterialisierung” oder „Virtualisierung” der Welt und ihrer Dinge. Als ob die Objekte sich allesamt der Virtualität des Cyber-Lebens beugten – was sie natürlich nicht taten. Seit der Popularisierung der Smartphones ist dieser Witz nun von einem anderen abgelöst worden. Als ich neulich im Box-Studio an meiner Deckung arbeitete (eher ungeschickt, wie es mir leider oft geht), sprach mich einer der guten Boxer liebevoll herablassend über die Schulter an: „Brauchst du ein App dafür?”

Die virtuelle Welt und ihre Verheißungen haben offenbar den Stuhl vor dem Computer verlassen und sind jetzt potentiell überall anzutreffen. Als eine Art Schweizer Messer mit virtueller Klinge scheinen Smartphones die Logik der Digitalisierung jeweils passend ins Leben hineinzutragen. Sie bringen nicht einfach eine eigene Realität hervor, sondern das Virtuelle findet sich in der bestehenden Welt ein und ersetzt dort, was früher ein allmählich erworbenes Gespür meistens schlechter geleistet hat: das Navigations-App setzt sich nicht an die Stelle der Straßen-Realität, sondern an die Stelle des Orientierungssinns. Es sind nicht mehr Dinge und Realitäten, die virtualisiert werden, es sind Fertigkeiten.

Dass alte Fertigkeiten angesichts neuer Medien obsolet werden, scheint auf den ersten Blick gar nichts Neues oder Ungewöhnliches zu sein. Wer hat noch jenes Gespür für die Länge einer Zeile, das einmal jede Sekretärin im Umgang mit ihrer Schreibmaschine entwickelt hatte? Früher traten dann an die Stelle der obsolet gewordenen Fertigkeiten andere. Wie schwer tat sich die Sekretärin anfangs damit, ein Word-Dokument im richtigen Ordner zu speichern? Eine Virtualisierung der Fertigkeiten hat damit fast nichts mehr zu tun. Sie führt zu dem unterschwelligen Gefühl, dass alle Fertigkeiten überholt sind, und dass eine einzige Fertigkeit – eben der Umgang mit Software – genügen könnte, um sie zu ersetzen. Wer vor zehn Jahren spürte, dass sich die träge Welt der Dinge durch Virtualisierung in Informationsflüsse auflösen ließ, hat heute den Eindruck, dass er die langwierige Eingewöhnung in den Umgang mit den Dingen überspringen und stattdessen mit Fertigkeiten etwa so ausgestattet werden könnte, wie man es vom Beginn jedes Video-Spiels kennt.

Solche Haltungen sind charakteristisch für meine Generation, die während der für sie prägenden Neunzigerjahre im gleichen Maß der rasanten Computer-Entwicklung und den poststrukturalistischen oder konstruktivistischen Theorien ausgesetzt war. Als ich vor zwanzig Jahren zu studieren anfing, war ich auf dem Weg von einem (ganz erfolgreichen) Ruderer zum (komplett erfolglosen) Rocksänger, der eigene Texte dichten wollte. Die Kompetenzen, die ich für meinen Sport wie für meine Musik erworben hatte und erwerben wollte, hatten mit Können und dem richtigen Gespür für dieses Können zu tun. Einerseits gab es das Gespür für die (ohne Übertreibung) millionenfach ausgeführte, eingeschliffene und doch immer noch weiter zu perfektionierende Bewegung eines Ruderschlags. Und andererseits gab es den Versuch, Wörter so aneinanderreihen, dass ich sie gut „rüberbrächte” (ein Gespür, das man damals den ‚groove‘ nannte). Dabei wurde mir ziemlich schnell klargemacht, dass all das, was ich konnte und können wollte, Metaphysik war, hinter der sich nichts verbarg als der Effekt von Zeichenprozessen oder arbiträrer Konstruktionen. So genau wusste ich zwar nicht, was „Metaphysik” eigentlich sei, aber ich ließ mich trotzdem überzeugen und nahm das Wort Vorwurf gegen mich selbst und meinesgleichen mit.

Die erste technische Fundierung meiner neuen Überzeugung fand in der besagten Virtualisierung der Realitäten „durch das Internet” statt, die mich faszinierte, aber nicht restlos mit Begeisterung erfüllte, weil es eigentlich nie mein Anliegen gewesen war, Realitäten hervorzubringen (oder konkret gesagt: mich als liebevoll erfundenes Phantasy-Wesen zu virtualisieren). Umso mehr tangiert mich jetzt die zweite Neu-Fundierung, die Entwicklung der Apps, die eine tatsächliche Einlösung des damaligen Versprechens zu sein scheint. Gespür wird nun tatsächlich durch Software ersetzt, Fertigkeiten durch Informationstechnologie. Der Glaube, dass dies schon gelungen sei, eilt natürlich wieder einmal etwas zu gehorsam einer technischen Wirklichkeit voraus, die sich vielleicht niemals ganz einstellen wird. Insofern ist es angemessen, Witze darüber zu machen. Aber oft liegt auch eine etwas zu traurige Art des Aufbäumens in solchen Witzen. Sie erinnern mich an die Witze, die man vor noch fünfzehn Jahren über die Handys und ihre Besitzer gerissen hat: angeblich blökten solche Leute ständig „kaufen, kaufen, kaufen!” in ihre Nokia-Knochen. Irgendwann waren es aber nur noch sehr einsame Sonderlinge, die solche Witze rissen, Menschen, die man zu allem Überfluss nie erreichen konnte, wenn man es denn gewollt hätte.

Auch der Smartphone-Mensch scheint sehr viel sozialer zu sein als die Leute, die ihn verachten. Er ist „äußerst vernetzt,” und im Unterschied zum Computer-Nerd alter Schule steht er zugleich mitten im Leben. Virtuell geschlossene oder aufrecht erhaltene Freundschaften umfangen sein Dasein „da draußen” wie ein regenbogenbunter Schatten. Geblieben ist von der Höhlenexistenz der Computer-Nerds allein der Hang zu einer Art von technologisch beflügeltem Konstruktivismus. Nicht die Übung und Gewöhnung und vor allem nicht der leibliche Umgang mit anderen macht die Identität eines Menschen aus, sondern ein Set von bewusst gefällten Entscheidungen, wie er sich früher in der Ausgestaltung der eigenen Avatare niederschlug — und nun eher dem Self-Fashioning dient. Das Ensemble aller unwillkürlichen mimischen, gestischen, prosodischen Nuancen, das Ensemble der Körpersprache und der Körpergerüche, all die so schwer zu kontrollierenden, mühselig einzuübenden und akribisch zu pflegenden Eigenschaften, die im Umgang mit leiblich anwesenden Menschen zählen, bleiben nun „außen vor” oder werden zumindest besser beherrschbar. Man ist damit freier, sich selbst zu erfinden und das heißt auch, man vermeidet es besser, die sich gegen die jeweilige Erfindung sträubenden Eigenschaften unwillkürlich zu offenbaren.

Und der Regenbogenschatten der sozialen Apps kann einen sogar unsichtbar machen. Über ein Smartphone gebeugt wird man in Ruhe gelassen; man sieht auf einer Party nicht so peinlich einsam aus, wie man sich fühlt; man kann aus der fast immer rasch anstrengenden Face-to-Face-Kommunikation aussteigen und eine Pause mit gerade nicht anwesenden Freunden einlegen – ob es sie nun gibt oder nicht. Will man den Smartphone-Menschen charakterisieren, dann lässt sich außerdem eine gewisse Vordergründigkeit ausmachen. Es ist allerdings nicht intellektuelle Tiefe, die ihm verloren geht. Das richtige App zu finden und anzuwenden, erfordert viel analytischen Verstand. Was ersetzt wird, ist die „Tiefe” des sinnlichen Lernens, mit dem ein Baby die Welt betatscht und sich in den Mund steckt. Die Dinge werden durch Apps handhabbar, ohne dass man sich körperlich auf sie einlassen muss. Anders gesagt: man verwandelt sich der physischen Welt nur noch über den Umweg durch die virtuelle Welt an – also immer auch durch Modelle von der Welt und durch Ideen über sie. Man kann der Ordnung der Datenströme überlassen, was früher  Training am Material erforderte und in die Ausbildung eines Gespürs mündete. So bricht die Ordnung des Wissens in Ordnung des Könnens ein.

Wer seine Basketballfertigkeiten mit einer Nike-Schuh-iPhone-Kopplung verbessern lässt, der schmiegt die Körperlichkeit nicht mehr dem Ball und den anderen Spielern an, sondern einem Idealverlauf. Zu dieser Entwicklung gehört ein Explizit-Werden des im Erfahrungswissen oft nur Impliziten, eine Überführung des bloßen Gespürs in einen Wissensinhalt. Der menschliche Orientierungssinn lag früher nicht als Landkarte vor und das Gefühl für das richtige Maß einer Trainingsradfahrt nicht in der expliziten Kenntnis der zurückgelegten Strecke, der Höhenmeter, der verbrauchten Kalorien. Der Blick zum Sternenhimmel war ein Erlebnis des Umfangenseins vom unendlichen Raum und hatte nur wenig zu tun mit dem Wiedererkennen von Sternbildern durch Star Walk Apps, das den Verlust dieser Stimmung und dieses Gefühls mit Pathos-geladener atmosphärischer Musik wettzumachen sucht.

Im Hinblick auf soziale Fertigkeiten steht das Explizit-Werden dessen, was einmal „Gespür” war, erst ganz am Anfang. Die Evolution hat es dem menschlichen Tier zum Beispiel mitgegeben, den genetischen Gesundheitszustand, die Fruchtbarkeit und die Bereitwilligkeit potentieller Sexualpartner unterschwellig und unpräzise im Rahmen der eigenen Erregtheit wahrzunehmen. Entsprechende Apps könnten all dies explizit machen. Das Smartphone lieferte dann ein Äquivalent dessen, was bei Videospielen die Einblendungen zum Stand der „Lebensenergie” sind. Solche Apps würden zwar wahrscheinlich sehr schnell verpönt und auch verboten, aber sie vorzustellen, macht klar, warum eine Überführung des impliziten Könnens in explizites Wissen (man könnte das auch „Aufklärung” nennen!) nicht immer ein Gewinn sein muss.

Das Versprechen, sich der wirklichen Welt kompetent und mit dem Speed der virtuellen Welt einfügen zu können, hat auch die Kehrseite (und mit dieser Kritik soll es dann genug sein), dass man Fertigkeiten viel leichter vergisst. Nur für die altmodischen „Fertigkeiten” gilt der der traditionelle Handwerkerspruch „gelernt ist gelernt.” Wer diesen Spruch heute noch benutzt, weckt schnell das Gefühl, man müsse ihm mitleidig auf die Schulter klopfen und erst einmal erklären, dass gar nicht mehr gefragt ist, was er gelernt hat. „Erfahrung” und die altväterliche „Weltweisheit” haben enorm an Autorität verloren. Kaum jemand kann so gestrig und auch so aufschneiderisch aussehen wie einer, den man noch vor ein paar Jahren für seine weiten Reisen bewundert hätte — weil Apps all das Wissen ersetzen und sogar optimieren können, das man damals noch auf Reisen „erwarb.” Eine traurige Gestalt ist der weltreisende Kosmopolit geworden, ein in die heutige Werbelandschaft verpflanzter Camel-Mann. Er sieht schnell so alt aus, wie er meistens tatsächlich ist.

Für Camel-Mann umgekehrt ist die Brave New World der Apps ein Zoo von chronisch überausgestatteten Hobby-Survival-Spezialisten, die in der ‚wirklichen Welt‘ schnell verhungern würden. Doch diese wirkliche Welt gibt es kaum noch. Allein in Fertigkeitsreservaten wie meinem Boxstudio, kann man einen „alt aussehen” lassen, der die Deckung nicht beherrscht, weil er kein entsprechendes App gefunden hat. Inzwischen kenne ich übrigens ein paar solche Apps. Sie sind keine richtigen Apps, sondern eher Video-Kurse, die bloß wiederholen, was ich eh schon wusste. Wissen allein hilft nicht. Aber das wusstest Du schon lange.

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Ich fühle mich nun besser gewappnet für die ungefähr zwanzig Lehrveranstaltungen, die ich bis zur Emeritierung noch habe. Aber vor allem hat mir natürlich der Begriff von den „Fertigkeitsreservaten” gefallen. Dass „Weltweisheit” den Apps aus irgendeinem systematischen Grund überlegen sei, will ich gar nicht behaupten, denn Behauptungen dieses Stil implizieren ja immer das Risiko, „romantisch” im banalen Sinn, „romantisch” aus einem Gefühl der Schwäche zu sein. Wenn ich mir ein Recht herausnehme, die paar eigenen Fertigkeitsreservate noch für ein paar Jahre zu kultivieren (fürs Boxen ist es leider definitiv zu spät), dann ist es das Recht jeder Generation die sich von der Welt verabschiedet: das Recht, sich nicht mehr vorbereiten zu müssen, für eine Zukunft, die wir nicht erleben werden.