Kein Politiker im einundzwanzigsten Jahrhundert verlässt sich mehr auf die Meinungen und den Rat von Intellektuellen, nicht einmal im Südamerika der Charismatiker wie Chávez und Lula, wo sich länger als in Europa ein oft mit dem Gesicht von Ché Guevara assoziierter spät-romantischer Glaube an ihre überlegene Urteilskraft erhalten hatte. Selbst als das Kanzleramt in Berlin einen “Ethikrat” einberief, von dem seit seiner Gründung so wenig die Rede war, dass man heute gar nicht mehr weiss, ob er noch existiert, wurden seine Mitglieder als Spezialisten für Fragen der Moral ausgewählt – und nicht aufgrund eines früher grundsätzlich als provokant begrüßten Rufs als Intellektuelle. Wir erleben eine Gegenwart von Spezialisten, die unsere Welt in ihren je verschiedenen Dimensionen so gut es geht am Laufen und Leben halten, und wir sind eigentlich eher glücklich dabei, glücklich genug jedenfalls, um einschlägige Klagen jenen meist alten und immer altmodischen Protagonisten der Öffentlichkeit zu überlassen, die sich selbst noch immer gerne als Intellektuelle anerkannt und in Anspruch genommen sähen. Und eben das wird derzeit in Brasilien und Venezuela wohl zum letzten Mal klar: selbst charismatische Politiker, Politiker, die nicht beständig von Spezialisten beraten werden wollen, trauen eher ihren eigenen Intuitionen als denen der Intellektuellen.
Doch woher kam ihre heute so vergilbte Aura? Dem Wort vom “Intellektuellen” war im achtzehnten Jahrhundert, als die gebildeten Europäer Französisch sprachen, das Wort “philosophe” vorausgegangen. Ein “philosophe,” so hieß es im einschlägigen Artikel der “Encyclopédie” von Diderot und d’Alembert, sei jemand, der ungelöste Fragen und Probleme der Gesellschaft aufgreift, sie in Abgeschiedenheit analysiert und löst, um sich dann an die Gesellschaft zurückzuwenden und seinen Mitmenschen “wie mit einer Fackel in der Nacht” voranzugehen. Das war ein Maximum des Selbstanspruchs, von dem sich mehr als hundert Jahre später, als das Wort “philosophe” durch das Wort “intellectuel” abgelöst wurde, vor allem (und fast allein) die Komponente der Exzentrizität erhalten hatte (“in Abgeschiedenheit” Probleme analysieren und lösen). Der damals weitgelesene und als literarischer Autor bewunderte Romiancer Emile Zola setzte 1898 sein Prestige aufs Spiel mit dem Aufruf (“Ich klage an!”) gegen einen sich zumindest in den Oberschichten seines Landes einspielenden Konsensus, nach dem der jüdische Offizier Alfred Dreyfus wichtige militärische Geheimnisse dem deutschen Erzfeind preisgegeben haben sollte und deshalb zurecht zu lebenslanger Haft auf einer entlegenen Insel verurteilt worden war. Zola folgte dokumentarischer Evidenz und vor allen seiner eigenen Intuition in dem Vorwurf, dass dieses Urteil Ergebnis einer antisemitischen Verschwörung mit dem Ziel gewesen sei, den eigentlichen Verräter, einen aristokratischen Offizier, zu schützen. Strukturell wesentlich und entscheidend für den Gebrauch des Begriffs vom “Intellektuellen” wurde seither, dass Zolas Intervention (erstens) von ausserhalb der politischen und militärischen Institutionen gekommen war und dass er (zweitens) nicht den Versuch unternahm, sein durch die Revision des Urteils erreichtes Prestige für eine politische Karriere zu nutzen.
Auch die dritte, aus der Retrospektive des frühen einundzwansigsten Jahrhunderts identifizierbare Schwelle in dieser Geschichte führt nach Frankreich. Nach dem Ende der deutschen Besatzung und des Weltkriegs hatte eine Generation von jungen Literaten und existentialistischen Philosophen, unter denen die Werke von Jean-Paul Sartre und Albert Camus herausragten, sehr schnell eine Position potentiellen nationalen und internationalen Einflusses erreicht. Ihre damals sichtbare Herausforderung – und wir können heute hinzufügen: ihre Versuchung – lag in der Frage, ob sie diesen Einfluss durch die Assoziation mit einer politischen Partei (mit einer Partei der Linken, dies jedenfalls stand damals außer Frage) direkt wirksam machen sollten. Sartre entschied sich für eine Festlegung auf die Positionen des damals noch von der Sowjetunion in problematischer Einheit zusammengehaltenen Kommunismus, während Camus seit etwa 1950 explizit von genau dieser Möglichkeit Abstand nahm, weil er die Zumutung des Sozialismus und Kommunismus für unannehmbar hielt, eine jeweilige Gegenwart individuellen Lebens bestimmten abstrakten Kollektiv-Zielen (der Herbeiführung einer “klassenlosen Gesellschaft” zum Beispiel) unterzuordnen, deren Realisierungschancen er für prekär und jedenfalls allzu langfristig ansah. Über Jahrzehnte schien Sartres Option für die Intellektuellen der nachfolgenden Generationen verbindlich zu werden, während Camus als allzu “literarisch” orientiert kritisiert wurde. Doch nach dem proto-“revolutionären” europäischen und nordamerikanischen Moment der “Studentenrevolten” von 1968 begann sich immer mehr die Einsicht durchzusetzen, dass Intellektuelle mit parteipolitischen Festlegungen die für ihre Rolle wesentliche Möglichkeit verloren, von ausserhalb der politischen Institutionen (und größere Komplexität der Meinungen schaffend) in ihren Gesellschaften zu intervenieren. Das Engagement für parteipolitsch vorgegebene Positionen hingegen hatte rasch zur Absorption der produktiv exzentrischen Intellektuellen-Meinungen in den jeweils nationalen politischen Prozeß geführt — und war so letztlich zu einem Sympton für ihre Angst vor der eigenen Schwäche heruntergekommen.
Aufgrund dieser Vergangenheit wird verständlich, warum das Ansehen von Albert Camus in den vergangenen Jahren derart gewachsen ist, dass man mittlerweile von einer “Camus-Renaissance” redet und ihn als Vorgänger für eine auch heute überzeugende Rolle des Intellektuellen ansieht. Diese Rolle ist vor allem anti-fundamentalistisch, das heißt, sie vermeidet jede Selbstreduktion auf schon bestehende und jede Stablisierung von eigenen Positionen. Im Gegenteil, durch das immer neue Erfinden und Artikulieren exzentrischer Perspektiven, sollen Intellektuelle die interne Komplexität von Gesellschaften steigern und sie so für Veränderungen und Umformungen flexibel halten. All das schien und scheint weiterhin plausibel — und doch lässt sich nicht übersehen, dass der Einfluß, ja die bloße Sichtbarkeit der verbleibenden Rand-Intellektuellen in den vergangenen Jahren weiter geschwunden ist und sich inzwischen wohl tatsächlich einem potentiellen Nullpunkt nähert. Aber wie konnte diese letzte Phase einer historischen Dekadenzbewegung so ganz ohne Protest und fast ohne Klage fortschreiten – einmal abgesehen davon, dass ein solches Verschwinden historischer Phänomene (und natürlich sind alle sozialen Rollen historische Phänomene) genau so normal — und deshalb keinesfalls skandalös — ist wie ihre Emergenz?
Vielleicht liegt der Grund für das geräuschlose Verschwinden der Intellektuellen darin, dass jene innergesellschaftliche Komplexität, die allein sie herstellen können (und bisher auch herstellen sollten), nicht mehr gebraucht wird. Ein potentiell unendlicher Prozeß funktionaler Ausdifferenzierung hat inzwischen die meisten Gesellschaften in der globalen Welt unserer Gegenwart erfasst und geformt. Heute stehen in ihnen verschiedene Systeme und Welten (mit ihren jeweils verschiedenen “Weltsichten”) nebeneinander – und kommen ohne übergreifenden Einheits-Anpruch aus. In solcher Ausdifferenzierung, deren Eigenkomplexität gegen unendlich geht, ist die traditionell komplexitätsstiftende Funktion der Intellektuellen überflüssig geworden.
Freilich hat sich am Horizont dieser Pluralität, vor allem in Europa, ein nur vage bewusster Horizont der Überzeugungen und Werte geformt, der einheitlicher und solider zu sein scheint als alle nach Konsens heischenden Positionen der Vergangenheit. In diesem Sinn zum Beispiel ist die immer breiter werdende europäische Mittelklasse heute eine Zone des Pazifismus. Zwar zögert man, diesen Begriff explizit als Leitwert anzuerkennen, doch es gilt als ausgemacht, dass militärische Auseinandersetzungen um jeden Preis zu vermeiden sind — selbst um den Preis einer Aufgabe der eigene kulturellen und politischen Identität. Ebenso findet die Idee einer Begrenzung und Umverteilung finanzieller Einkünfte durch – wenn notwendig: extreme hohe – Steuern allgemeine Beistimmung (ein Beweis dafür sind die nicht enden wollenden Debatten über die Begrenzung von Höchst-Gehältern). Die noch um die Mitte des zwanzigsten Jahrhundert von einer breiten Mehrheit geforderte Todesstrafe (für deren Abschaffung sich damals Albert Camus engagierte) gilt heute allgemein als ein Symptom unmenschlicher Grausamkeit. Insofern läge es eigentlich in der komplexitätsstiftenden Tradition der Intellektuellen-Rolle, gegen den breiten Konsenshorizont alternative Möglichkeiten des Verhaltens und der Gesetzgebung ins Spiel zu bringen. Dies hat vor kaum drei Jahren in Deutschland etwa Peter Sloterdijk getan, als er eine Diskussion über die Frage in Gang zu bringen versuchte, ob nicht eine Abschaffung hoher Steuersätze und ihre Ersetzung durch (natürlich freiwillige) Spenden eine Maßnahme im Sinn sozialer Gerechtigkeit wäre.
Die breite Mehrheit der Reaktionen auf seine Initiative machte allerdings nur klar, dass die Solidität des Konsensus am Horizont der intern ausdifferenzierten Gesellschaft der Gegenwart alle Konsens-Situationen der Vergangenheit bei weitem überbietet. Sloterdijks Vorschlag wurde mit Entrüstung zurückgewiesen – und in den meisten Fällen erst gar nicht ernst genommen. Vielleicht läuft die westliche Zukunft ja auf die Situation in der Volksrepublik China zu, wo sich eine kapitalistische Wirtschaft etabliert hat, die nicht mehr einer Öffentlichkeit mit der für sie typischen Pluralität der politischen und ethischen Positionen bedarf. Autoren und Künstler, die ihre Identität nach der Tradition der Intellektuellen-Rolle ausbilden, werden aus der chinesischen Gesellschaft ausgeschlossen und nicht selten von ihren Institutionen verfolgt. Sollte dies tatsächlich unsere Zukunft sein (und die westlichen Proteste gegen die chinesische Anti-Öffentlichkeits-Politik wirken eher halbherzig), dann nähern wir uns dem historischen Ende der Intellektuellen-Tradition – und dem Beginn einer uneingeschränkten Spezialisten-Herrschafft.