Falls Peter Sloterdijk recht hat mit der These, dass die laterale, nicht mehr als „Aufstieg” oder „Entwicklung” erlebte Verschiebung existentiell zentraler Situationen innerhalb eines jeweiligen Lebens der Normalfall, ja vielleicht sogar die Norm unserer sozialen Zukunft sein wird, wenn also aus Geliebten und Gatt(inn)en „Lebensabschnittspartner” werden und aus dem einen Beruf, der Berufung sein sollte, eine Folge von Umschulungssphasen, dann wird sich auch der Stellenwert der Bewerbungen um neue Positionen grundsätzlich verändern — mit allem, was dazu gehoert. Wer heute in der Schlussphase seines Beruflebens steht (was für mich der Fall ist), der reagiert einfach erstaunt und manchmal auch verstört angesichts der Erfahrung, wieviel Zeit er mittlerweile Woche für Woche auf der einen oder anderen Seite dieser institutionellen Schwelle verbringt: entweder mit formalen Empfehlungen für Bewerber oder in Gesprächen mit anderen Bewerbern. Man bewirbt sich heute elektronisch und „breit,” das heisst, glaube ich, immer unabhängiger, von der Frage, ob die eine oder anderen Stelle im Ernst attraktiv erscheint. Und obwohl meine e-mail Freundin Heike Gfrereis, Leiterin der Museen im Marbacher Deutschen Literaturarchiv, noch gute zweieinhalb Jahrzehnte mehr im Beruf vor sich als ich, teilt sie doch schon mein Erstaunen über die Zahl der Bewerber auf Marbacher Projektstellen – und und ist fasziniert von der Konsistenz ihrer Strategien und ihres Verhaltens. Sloteridijk hat wohl wieder einmal recht: nicht nur verlieren Bewerbungen angesichts ihrer Häufigkeit den traditionellen Status eines Schwellen-Verhaltens, darüberhinaus ist das sich-Bewerben auch längst zu einer Lebensform mit Spezialisierungs-Tendenzen geworden. Heike beschreibt dies wie eine Komödie aus „Musterknaben” und „Alphamädchen,” eine Komödie, die bei hinreichender Steigerung der Bewerberzahl dazu tendiert, in eine Parodie ihrer selbst umzuschlagen:
„Aus der Literatur kann man lernen, dass Musterknaben nicht zu Helden taugen. Don Juan greift unter jeden Frauenrock. Odysseus ist rücksichtslos listig. Harry Haller raucht Opium. Karl Moor macht Schulden und gerät unter die Räuber. Faust zieht am Ende die Hexenparty in der Walpurgisnacht seiner Gelehrtenstube vor. Goethes Hermann ist so schmächtig, dass er in die Knie geht, als er Dorothea trägt. Hanno Buddenbrock ist ein verträumter Loser, der grüne Heinrich auch nicht besser, und Winnetou, dieser Jungen- und Mädchentraum von einem Indianer, trägt Bärenzähne um den Hals, skalpiert auch einmal einen Gegner und pflegt sein Gewehr offenbar nicht ordentlich: »das dichte, dunkle Haar hing ihm in langen, schlichten Strähnen bis weit über die Schultern herab, im Gürtel trug er ein Bowiemesser nebst Kugel- und Pulverbeutel, und aus dem Regentuche, welches er malerisch um die Achsel geschlungen hatte, sah der verrostete Lauf einer Büchse hervor.«
Die Liste ließe sich endlos fortsetzen: über das Gute lässt sich nicht viel erzählen. Doch allen Kafkas, Goethes, Hesses, Schillers und Karl Mays zum Trotz: wer heute eine Bewerbung schreibt, dreht das Gesetz der Literatur um. »Ich bin gut!« Das wird uns oft – und das ärgert mich so wie es mich irritiert, ja verunsichert und noch Tage nach Bewerbungssichtungen albtraumartig verfolgt – seitenlang in kleinster Schrift auch von 23-jährigen erzählt. Ich kann sieben Sprachen, kann Farsi, Friesisch, fließend Mittelhochdeutsch. Bin erfahren in der Personenbetreuung und -optimierung. Entwickle meine stilsichere Fähigkeit zur wertschätzenden Kommunikation jeden Tag professionell weiter. Weiß mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Werde sowohl im Team wie als Führungskraft ein Gewinn sein. Habe an den renommiertesten Forschungseinrichtungen studiert. Wurde in einer ruralen Gegend früh mit den Narrativen kultureller Praktiken vertraut. Führe ein geschicktes Händchen für niveauvolle Verhandlungen. Und, ja, ich will. Genau die Stelle, die es gerade gibt.
Gern wird so viel Können dann auch noch namentlich dem Sachbearbeiter der Personalstelle oder aber dem Vorstandsmitglied zugeeignet, begleitet von fragmentarisierten Unterschriften, die im Unklaren lassen, ob man den Vornamen oder das Kürzel einer Sekretärin verwendet hat (Paul oder Mül.). Flankiert von den Hobbys: Ausdauerlaufen, Kaffee, Schokolade, sechs Chöre und fünf Instrumente, Fußball (nicht aktiv). Verpackt in die obligatorisch roten, blauen und schwarzen Bewerbungsmappen, die dennoch viel Platz für das Foto haben, das meist so lasziv oder cool den halben Körper zeigt, als müsse es auf einer Sedcard oder wenigstens einem Buchumschlag überzeugen. Doch ehrlich: will man mit so einer global-nachhaltigen Schönheit zusammenarbeiten, die alles kann? Möchte man das um sich, wohlgegelte Musterknaben und mit allen Wassern gewaschene Alphamädchen? Warum nur um Himmelswillen sitzt man selbst, offenbar vollkommen untauglich, an dieser Stelle? Wurde die eigene Bewerbung vertauscht? Soll man schon in Deckung gehen unter seinem Schreibtischstuhl oder sich gleich zur Tür hinausstehlen?
Nahezu wohlige Beruhigung breitet sich aus, wenn allein schon jemand aus der eigenen Geburtsstadt kommt oder dasselbe Sternzeichen hat oder fünf Jahre lang wenigstens nebenher Autogriffe angeschraubt oder Betten gemacht hat. Keine Kriterien für den Kopf, aber welche für den Bauch. Ein schieres Mappenwunder ist es vollends, wenn einer schlicht auf die Sachen setzt, die er gemacht hat, und weniger auf seine Person. Das Anschreiben nicht länger als eine Seite. Durchaus ehrlich: Ich habe noch keine Erfahrung, aber ich weiß fünf Gründe, warum mich genau diese Arbeit interessiert.
Das ist selten, auch später, wenn die berufene Welt aus den Mappen zum Vorstellungsgespräch kommt und ihr wahres Gesicht enthüllt: Die Hälfte dieser Supertalente weiß dann nicht, warum sie überhaupt da ist, die andere fragt mit dem Block in der Hand nach der Zahl der von ihr zu führenden Mitarbeitern und der Höhe der Budgets. Gern kontern gerade die auf ihren Fotos so nett lächelnden Kumpeltypen auf die Frage »Warum meinen Sie, passen Sie so gut zu uns?« ohne den geringsten Ausdruck von Kulanz, wenigstens von Ironie: »Ich muss mir überlegen, ob die Stelle zu mir passt. Was haben Sie mir zu bieten?« Ein Drittel der Musterknaben hat vorher Seife und Deo vergessen, dafür stellen ebenso viele der Alphamädchen ihre 1-1/2-Liter-Sprudelflasche mitten auf den Tisch. Die Welt, die man live erlebt, ist jener der Bewerbungsmappen krass entgegengesetzt und kippt zwischen Castingshow und Familientherapie. Hier darf ich sein, wie ich will, auch zickig. Ich muss mich nicht anstrengen, wahres Talent besticht von ganz alleine, auch wenn mir alles auf den Geist geht und ich keine Lust hatte, das alles vorher einmal anzuschauen. Ich sag Ihnen jetzt mal, was Sie tun und was ich alles besser machen würde und was Sie machen müssen, damit Sie genau mich überhaupt kriegen! Ich möchte in Zukunft nur noch schreibend tätig sein und ganz meine Begabungen verwirklichen, in deren Dienst Sie Ihre Sachen dann stellen. Die Verhältnisse kehren sich um. Der Arbeitgeber wird zum Werber, manchmal sogar zum Bewerber. Jeder atmet erleichtert auf, wenn dann doch einmal einer dasitzt und blass ist und rot wird, verlegen an seinem Schal nestelt oder eben doch nicht den angebotenen Kaffee trinkt, entgegen allen Bewerbungstipps. Gottseidank ein Mensch und keine Alphamusterziege.
Doch warum ist das so? Theoretisch müsste es ja doch mehr Menschen geben als Alphamusterziegen, mehr Mittelmaß als diese extremen Verbindungen aus Streber und nicht immer coolen Socken. Liegt das daran, dass das Schreiben heute anderen Regeln folgt als das Reden, der Live-Act, die Performance? Für jenes gibt es Handbücher und Mustermappen, für dieses Videos und Livestreams. Jenes orientiert sich am Knigge, dieses am Danebenbenehmen. Jenes will Perfektion und Gleichheit, dieses zeigt, dass auch der krumme Weg und das Handicap zum Erfolg führen können. Der primus inter pares gegen den Trickster, den Wandler zwischen zwei Welten. Bei der Anwendung beider Systeme scheinen drei Viertel der medienkompetenten Musterknaben und Alphamädchen jedoch keines genau angeschaut und verstanden zu haben. Die dabei vorausgesetzten ›kulturellen Praktiken‹ werden ›irgendwie‹ zu einem globalen ›Narrativ‹ verwurstet und heraus kommt eine Armada von Menschen, die es so nicht geben kann und der man lieber nicht begegnet. Sie macht einen platt. Sie lässt Ratlosigkeit und Welttraurigkeit zurück. Helden sind sie alle nicht, aber sie haben ein Schicksal. Zumindest das der roten, blauen und schwarzen Bewerbungsmappen. Und das hat es in diesem Fall nicht gut mit ihnen gemeint.
Die Generation der Jahrgänge um 1990 hat so viele potenzielle Vorbilder wie keine vor ihr. Alles ist erlaubt, alles möglich und so weiß sie kaum mehr, was sie noch tun soll, um sich abzugrenzen. Längst sind nicht mehr nur Schauspieler, Musiker und Sportler Idole. Jeder kann sich auf seiner eigenen Homepage als Star posten, modeln, tanzen, singen, Videos drehen, Texte bloggen. Das private Leben ist Gegenstand des öffentlichen Lebens. So ›performen‹ die meisten heute viel besser, vergessen aber auch leichter, dass sie nicht bei sich zu Hause sind. Die Sehnsucht nach Orientierung und Regeln ist die Begleiterscheinung dieser Entgrenzung. Das Selbstbewusstsein gründet allein darin, dass man weiß, wie man sich Öffentlichkeit schafft. Schrumpft diese Öffentlichkeit auf die kleine Runde eines Bewerbungsgesprächs zusammen, so passt nichts mehr zusammen.
Was würde daher passieren, wenn jeder von ihnen nur zwei Dinge in die Hand bekäme: einen Stift und ein Blatt Papier und sonst nichts? Und, falls er dann eingeladen werden würde, nur zehn Minuten Zeit, um je fünf Dinge aufzuzählen, die er gut und die er schlecht kann oder die ihn anrühren und die ihm egal sind? Wahrscheinlich müssten weniger Bewerbungen geschrieben werden, und man hätte wieder mehr Zeit, von all den Taugenichtsen der Literatur zu lesen, die mit dem Leben nichts zu tun haben, von denen man aber durchaus etwas lernen kann. Wenn schon unperfekt, dann auch richtig.”
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Es dominiert also – bei den Marbacher Bewerbungsgesprächen nach der Beschreibung von Heike Gfrereis jedenfalls – eine eigentümliche Rolle, in der sich zwei sonst kaum miteinander vereinbare Einstellungen verfugen: die Gewissheit, hochkompetent, Adressaten-orientiert und ganz illusionsfrei zu verfahren, „durchzublicken” also, beim Abfassen der Bewerbungsunterlagen einerseits, und andererseits die demonstrativ verkörperte Gewissheit, auf die jeweils anvisierte Stelle gar nicht angewiesen zu sein; sich als Antwort auf alle Fragen und Bedürfnisse inszenieren und sich zugleich rar machen; Bewerbungsschreiben in Hochglanzfolie verpackt und Wasserflasche auf dem Tisch. Das Bild kommt mir Außenseiter vertraut vor, und zwar genauer: sehr vertraut als ein deutsches Bild – oder vielleicht : als ein besonders EU-europaeisches? Amerikanische Bewerber jedenfalls ziehen sich zum entscheidenden Termin — das eine Mal im Leben vielleicht – einen Rock oder ihre Krawatte an, und sie haben gelernt, dass perfekt wirkende Selbst-Beschreibungen nur selten Sympathien wecken
Doch ist jene aggressiv-ungeschminkte Vorstellung seiner selbst im Gespräch nicht geprägt von der Kultur der neuen sozialen Medien, von persönlichen Websites und von Facebook, die auch dem allermittelmässigsten Benutzer das Gefühl geben, als ein Star auf der Bühne der Welt zu stehen? Wie sollte also gerade dieses Verhalten spezifisch deutsch – oder spezifisch europäisch sein können? Vielleicht, heisst mein Antwort-Versuch, weil allein im durchgängig sozialdemokratischen Europa, in einem Europa, das unabhängig von der jeweiligen Regierungspartei nach seinen Grundwerten heute zutiefst sozialdemokratisch ist, sich niemand mehr bedroht fühlen muss, durch potentielle Arbeitslosigkeit in eine Situation prekären Überlebens geworfen zu werden. Durchaus unangenehme Bewerbungsgespräche, bedeutet das, können immerhin Symptome objektiven sozialen Fortschrittes sein – jedenfalls solange soziale Sicherheit als absolut höchster Wert gilt.