Als das Taxi zum Flughafen an der Skyline von Hartford in Connecticut vorbeigefahren war (eigenartig: eine Stadt von kaum hundertzwanzigtausend Einwohnern mit einer Skyline, es muss daran liegen, dass Hartford die “Hauptstadt der Versicherungsindustrie” ist), als wir an Hartford vorbei waren und der Blick wieder auf Bäume fiel, auf Wiesen und ehemalige Farm-Häuser, die jetzt wie teure Einfamilien-Häuser aussehen, da verschwand der Gedanke, dass dies Neu-England ist, die Landschaft jener ekstatischen Protestanten, die vor Jahrhunderten der Lebensgefahr religiöser Verfolgung in ihrer Heimat entkommen waren, um hier ein asketisches Leben “auf scheinender Höhe der Moral zu führen,” und ich fühlte mich berührt, beinahe umarmt von dem Licht, das wie ein warmer Fleck im Kommen des Winters war und die Dinge hell machte, noch einmal hell und warm, ohne Versprechen für morgen. Ich dachte an den ziemlich komischen Satz und Gemeinplatz, den im “Birdcage,” einem meiner Lieblingsfilme, der peinliche republikanische Senator sagt, als ihm aber auch gar nichts mehr einfällt: “we go to Vermont to see the leaves turn.” So redet man auch von Connecticut, als ob es möglich wäre, lange genug auf Blätter zu sehen, um den Wechsel ihrer Farben selbst zur Erfahrung zu machen. Trotzdem ist etwas Wahres daran, das wir schön finden: im Licht der letzten Wärme des Jahres stehen die Dinge in einem Übergang, der kein Vorher und Nachher braucht.
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Was Licht existentiell sein kann, für das individuelle Erleben unseres Daseins in der Welt, löst sich nie ab von den Dingen und hat nichts zu tun mit dem Licht, wie es physikalisch in Zahlen und Gleichungen beschrieben wird. Eher lässt das je verschiedene Licht, in dem sie stehen, die Dinge und Körper um uns in immer anderen Farben und Nuancen erscheinen, weshalb sie uns je anders berühren, “berühren” in unseren Gefühlen, aber auch körperlich. Wie eine letzte Wärme und eine etwas schwere Umarmung des Abschieds sind die Dinge im Licht der fallenden Blätter. Wie ein Übergang ohne Form des Übergangs sind die hellen Hauswände und der Himmel im Aufbruch des Frühjahrs.
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Die eigenartigen Profile und die wenigen Skulpturen von der Pharaonen-Familie des Echnaton und der Nofrete aus der kurzen historischen Enklave im vierzehnten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung sind unter der Sonnenscheibe als dem einzigen Gott, der mit den langen Armen seiner Strahlen Echnaton, Nofrete und ihre Töchter berührt und umarmt. Die Gesichter aus jener Zeit religiöser Über-Helle haben grotesk überdehnte Züge und eine androgyne Zweispältigkeit, die sie freisprengt von allem Konventionen des Darstellens und ihnen eine aggressive Wahrheit gibt. Doch es ist nicht wirklich die Sonne selbst, die Echnaton und Nofretete umarmte (oder uns je umarmt und erleuchtet). Zuerst verändert die Sonne die Farben und Profile der Dinge und so unsere Beziehung zu ihnen. Im unmittelbaren Schein der Sonne oder im Grau unter den Regenwolken, das wissen wir, ohne davon zu reden, berührt uns dann die Welt je anders.
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Nur im Licht werden die Dinge verschieden “zu-handen” und bekommen ein Verhältnis zu uns, statt einfach neutral, ein für alle Mal “vor-handen” und also beliebig verfügbar zu sein. Und im Dunkel der Nacht wird die Welt latent. In der Nacht wissen wir nur, dass die Dinge da sind. Wo sie sich befinden und finden lassen, das wird zu einem vagen, fast vor-sichtigen Vor-Griff in Gedanken, so wie andererseits auch kein Gegenstand uns bedrängt in der Nacht. Wo die Farben verschwinden, werden die leisen Töne hörbar und treten die Formen hervor, die man ertasten kann, in der Nacht, und die Gerüche. Was so zuhanden wird in der Nacht, verschwindet gleich wieder mit schwarzblauem Kleid im Ozean des Dunkels. Entweder sind wir scharf konzentriert in der Nacht auf das, was wir nicht sehen, wenn wir uns fürchten vor dem nicht-Entdeckten zum Beispiel — oder wir lassen uns umhüllt sein von der Welt in Latenz, entspannt, ruhend in unseren Körpern, gleichmäßig atmende Dinge für die Stunden des Schlafs. Es gibt nicht bloß einen einzigen Modus des Daseins im Dunkel, eher ist die Nacht (wie der Tag) ein Vorzeichen des Lichts für unser Verhältnis zur Welt, hinter dem sich unendlich Varianten ergeben.
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Was ich vermisse, ganz profund vermisse, wenn ich nicht in Kalifornien bin, ist die Deutlichkeit in der Landschaft, den Dingen und den Gesichtern. Auch dieses Licht kann man als solches nicht sehen. Es ist da, indem es jedem Gegenstand eine Kontur gibt, nichts verschwimmt in ihm, die Gegenstände sind einzeln, haben ein Profil, das spürbar wird, noch bevor man die Hand auf Oberflächen legt. Im Sommer glaube ich manchmal, dass das warme Licht langsam die Dinge erhitzt, so dass sie zu zittern beginnen. Viele Augenblicke lang will ich sie dann nicht berühren, nur für immer sehen aus sicherer Entfernung. Die Welt ist “wie im Bilde gemahlt,” so hat der späte Hölderlin geschrieben, der verbrannt war an der eigenen Leidenschaft und deshalb sich nicht mehr unterhalten und Gedichte nur noch in allerstrengsten Versformen erfinden konnte, aus denen eine “gemahlte” Welt der aggressiven Konturen aufstieg.
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Malen und Beschreiben aber lässt sich Licht aber am besten aus Momenten des Übergangs, aus den Dämmerungen des Morgens und des Abends, wenn unser Verhältnis zu den Dingen umschlägt – und wir für einen Augenblick, den Augenblick des Übergangs eben, auf das aufmerksam werden, was uns tags- und nachtsüber verborgen bleibt, weil es so selbstverständlich ist: nämlich wie das Licht die Welt je anders zuhanden macht. Deshalb gibt es Maler und Autoren des Zwielichts, Charles Baudelaire mit seinen “Dämmerungs”-Gedichten und Edward Hopper zum Beispiel, der oft in einem Bild zwei verschiedene Licht-Verhältnisse zu den Dingen heraufbeschwört (denken Sie an seine berühmte “Tankstelle”), während Vincent van Gogh die gnadenlose Helle des Tages und die verführende Angst der Nacht einfangen wollte – immer wieder, fast bis zum Gelingen und gewiss zur Verzweiflung.
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Auf Photos aus dem späten neunzehnten Jahrhundert sind die Straßen wie die Strände von Rio de Janeiro ganz leer und dunkel – aus technikgeschichtichen Gründen. Bewegungen hinterließen damals Schleifspuren auf den Bildern, während für die Helle eines tropischen Tages die Filme noch nicht sensitiv genug waren. So sieht die schwarz-weiße Welt von Jaoquim Machado de Assis in unseren Augen aus, die einzige Welt in Bildern, die wir für den größten Klassiker der brasilianischen Literatur haben, als ob sie kalt und verlassen gewesen wäre, eine Welt, auf die wir reagieren in unserer Vorstellung, obwohl sie so nie wirklich existiert hat.
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Eine Nacht ganz ohne Licht wäre, wenn man sie erleben könnte, die “Nacht der Substanz,” von der Friedrich Kittler vor zwanzig Jahren geträumt hat. Die Nacht einer Rückkehr in die Einheit mit der Materie ist die Nacht des Todes, wie es Federico García Lorca in seinem Gedicht “La muerte” aus den dreißiger Jahren ahnte. Solange wir leben, befinden wir uns, das ist eine Definition von “Leben,” in einem metabolischen Verhältnis zu den Dingen um uns: sie sind zuhanden und wir eignen sie an; sie sind uns äußerlich und werden uns innerlich; was bedeutet, dass sie in einem Licht stehen für uns, das ein sehr dunkles Licht sein kann. So stelle ich mir das Licht der Blinden vor, von dem Jorge Luis Borges gesprochen hat. Seit der Mitte seiner Jahre in Blindheit gelebt zu haben, behauptete er, in Blindheit gelebt zu haben mit “Farben, die sich die Sehenden nicht vorstellen können,” jedenfalls nicht in einer Nacht, welche die Nacht der Substanz, des Todes und auch der Erlösung vom Leben wäre. Wie die Farben der Blinden sind, das werde ich wohl nie wissen, aber ich weiss, dass es sie gibt, weil auch Blinde nicht leben könnten ohne Licht und Farben.
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In jedem Licht enthüllen sich die Dinge, wie sie sind. Im Licht sind die Dinge ihre unverstellte eigene Wahrheit – statt “als Wahrheit für die Dinge” zu stehen und sie “darzustellen.” Im Licht berühren uns die Dinge der Welt mit gewisser Konkretheit und der größten Leichtigkeit, anders können wir gar nicht in der Welt sein, eingehüllt in sie. Und im Licht des Frühjahrs wie im Licht des Herbsts kann uns die Welt weder verbrennen – noch fehlen. Darum fühlt man sich zuhause im Licht des Herbsts.