Es mag ja ein großväterlicher Impuls sein, denn zu einer Gestalt geworden ist er mir erst, seit ich Enkelkinder habe: wenn ich mich nach den zwei oder drei kurzen Besuchen im Jahr von Clara und Diego verabschiede (sie sind vier und zweieinhalb Jahre alt), dann möchte ich immer gerne eine Geste haben, eine körperliche Geste und eine Formel aus Wörtern, welche die beiden bis zur nächsten Begegnung beschützen könnte – ganz so wie mir mein Vor-Bewusstsein einflüstert, dass ihnen nichts passieren kann, solange ich bei Ihnen bin (obwohl ihre Eltern doch, schon aus Altersgründen, viel wirksamer und zuverlässiger für sie sorgen, als ich es je noch vermöchte). Für einen Durchschnitts-Agnostiker, der mit der Existenz Gottes nicht rechnet, ohne sie andererseits als Möglichkeit kategorisch auszuschließen, für einen Durchschnitts-Agnostiker wie mich ist fast alles schräg an diesem unwiderstehlichen Wunsch. „Problematisch” (wie man auf Deutsch immer lieber sagt), problematisch zumindest erscheint der Glaube, es ließe sich in Abwesenheit irgendetwas ausrichten für die Sicherheit meiner Enkelkinder; wie eine Illusion fühlt sich der Gedanke an, dass dies durch eine kombinierte Form aus einer Geste und Worten bewirkt werden könnte; und peinlich vor allem ist mir, wie sehr diese Vorstellung an die religiöse Institution des Segnens erinnert. So bleibt es dann, aus Gründen akkumulierter potentieller Peinlichkeit eben, stets bei einer – bis zum nächsten Mal – letzten Umarmung, die allerdings etwas enger und länger ausfällt als sonst, und von der ich auch tatsächlich möchte, dass sie als besonders intensiv wahrgenommen wird.
Noch mehr überrascht mich ein ebenfalls im vergangenen Jahr aufgetauchter Wunsch, von Geistlichen, die ich kenne (bisher ausschließlich von katholischen und lutheranischen Geistlichen), in ihr Gebet und ihrem Segen eingeschlossen zu werden. Weil ich diese Vorstellung sehr gerne habe, möchte ich aktiv — meist von Kalifornien aus über neun Stunden Zeitunterschied hinweg — genau in jenem Moment an den Segen denken, wo er gespendet wird. Doch was genau kann es sein, das mich immer schon (und heute mehr denn je) fasziniert am Segnen, am gesegnet werden, aber auch am Spenden des Segens – wohl auch weil ich es mir selbst nicht zutraue? Wie sollte ein Segen mir, dem Agnostiker, helfen, und wie könnte es meinen Enkelkindern nutzen, wenn ich Agnostiker sie segnete? Alleine bin ich mit der Beantwortung dieser etwas vor-weihnachten Fragen nicht recht weiter gekommen, und deshalb fragte ich – schon wieder – meine Pastoren-Freundin Antje Lewitz-Danguillier, um Rat. Hier ist ihre Antwort, deren stilistische Schönheit und deren philosophischer Mut mich wieder sehr beeindruckt haben, obwohl ich ihren expliziten und impliziten Gottes-Glauben noch immer nicht teilen kann:
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„Der Segen ist eine Kraft, die von Gott kommt. Eine Erfahrungsform für Gottes lebendigen Geist im Leben. Diese göttliche Kraft lässt Leben wachsen und gedeihen. Wann immer wir solche Lebens-Kraft erfahren, spüren wir das Leben. Wenn ich davon ausgehe, dass Gott immer schon da ist, also auch vor mir da war und nach mir sein wird, muss auch genügend Segenskraft da sein, denn Gott ist der Schöpfer und kein Lebewesen auf dieser Erde ist zufällig hier. ‚Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut’ (Genesis 1,31). Im Segen kann der Mensch sein Leben aus Gottes Hand empfangen und aus der Quelle des Segens fortwährend Energie schöpfen. Als protestantische Theologin basiert all dies für mich auf der biblischen Grundlage des wirkmächtigen dreieinigen Gottes, in dessen Namen Christinnen und Christen zusammen kommen und die menschenliebende und befreiende Botschaft des Evangeliums Jesu Christi erleben und weiter geben.
Die Energie jedenfalls ist immer schon da, aber in der Bitte um den Segen und im Segnen selbst bekommt sie eine Form durch das gestalterische Tun: mit dem hörbaren Wort und der sicht- und fühlbaren Geste. Ohne ihren Grund zu verlieren kommt die Segenskraft in den erlebbaren Raum hinein, spürt sich durch, erreicht die Orte der Resonanz und kann dankbar empfangen werden. Auch die Worte, die Gesten und die Handlungen des Segens ohne den religiösen Grund und den biblischen AUftrag gehören zum Alltag in der Welt. Sie sind Teil der allgemeinen menschlichen Kommunikation: ein guten Mut machendes Wort, ein freundlicher Gruß, das Berühren anderer mit unseren Händen. Damit wenden wir uns anderen zu und gehen in die Begegnung hinein. Dieses Bedürfnis nach Kommunikation unter den Menschen und mit einer göttlichen Macht gibt es wahrscheinlich in allen Religionen:
Gott segne Dich …
…und behüte Dich.
Gott lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig.
Gott erhebe sein Angesicht auf Dich und schenke Dir Frieden.
Amen.
Schon wenn ich solche Worte auf dieses virtuelle Blatt Papier schreibe, spüre ich eine Segens-Wirkung, möglicherweise durch die Erinnerung erfahrenen Segens. Nüchtern betrachtet sind es wohl irgendwelche Datenzeichen, die über elektronische Wege transportiert werden. Wie das im Detail technisch funktioniert, habe ich bis heute nicht verstanden; noch weniger kann ich mir die weltweit nicht mehr fassbaren Datenmengen vorstellen. Ganz anders ist das für mich mit dem Segen. Seine Energie, Gottes Geisteskraft ist mir reell erfahrbar, spürbar. Gottes Segen wirkt, körperlich, geistig – und auf weitere vielfältige Weise. Immer aber konkret in der Segens-Zeit. Wenn Gott da ist, gegenwärtig. Wenn Segen sich ereignet.
Für mich ist der erlebte Segen erfahrene Gottesliebe. Sie ist wie eine Berührung, eine göttliche Umarmung in dem Moment, in dem sie geschieht. Dieser Moment kann unterschiedlich lang und intensiv sein. Er kann erinnert werden und die Sehnsucht nach einem weiteren und möglicherweise tieferen Berührtwerden durch Gott lässt sich so wecken, aber die Intensitaut der Segenspräsenz selbst ist noch stärker. Im Segens-Moment kann ich das fühlen. Ich erlebe es, wenn der Segen den Raum einnimmt und ausfüllt, den er für seine Wirkung braucht.
Im Segen kann ein Geschehen, durch das Gott präsent wird, individuell und persönlich erfahren werden, auch in einer größeren Gruppe wie beispielsweise in einem gemeinsam gefeierten Gottesdienst. In diesem Moment ist eine besondere Energie spürbar. Damit wird aus der gedanklichen Vorstellung des Segens im sprechenden und energiereichen Tun durch die Wirkung Heiligen Geistes eine körperliche Erfahrung. Ein Berührtwerden von Gott, das verändernde Kraft hat, Heilung schenkt, in dem Moment.
Manchmal beginnen Menschen zu weinen, spüren eine Erinnerung an Geborgenheit, an ein Umarmtwerden, an ein Sichfallenlassen an einem sicheren Ort. Vielleicht erinnern sie sich auch an einen gemeinsam erlebten Segen, bei ihrer Trauung, bei der Taufe des eigenen Kindes. Der Segen am Sarg eines Menschen, den sie lieb hatten. Dabei geht es um tief empfundene, manchmal schon vergessen geglaubte Gefühle. Ein anderes Mal verändert sich das Gesicht des Menschen, der den Segen empfängt. Ein Lächeln, eine stille Freude wird sichtbar. Bei bettlägerigen Menschen verändert sich der Muskeltonus. Anspannungen können weichen, Schmerzen nachlassen – in diesem Moment. Die sanfte körperliche Berührung beim Segnen durch das Auflegen der Hände kann Menschen mit einer Demenz helfen, ihren Ort im Raum des Daseins wieder zu finden. Das heißt es, wenn man sagt, der Segen Gottes gebe Kraft. Geisteskraft. Lebenskraft. Manchmal auch die Kraft, sterben zu können in der Zuversicht auf Gottes Nähe.
Beim Segen kommt etwas Größeres auf uns zu. Etwas, das uns meint, in einer sehr persönlichen und direkten Form. Ein Wort, eine Berührung, ein Erleben, das man nicht selbst schaffen kann. Manchmal in einer überraschenden Intensität. Der Segen Gottes ist unverfügbar, ist Geschenk. Gottes Geist ist frei. Gottes Segen auch. Ich bin davon überzeugt, dass Gott im Seg(n)en gegenwärtig ist. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich gern und oft um den Segen bitte und ihn segnend weitergebe.
Ich bereite mich körperlich und geistig auf das Segnen vor. Ich stehe mit den Füßen ganz auf dem Boden, bin in den Knien leicht gebeugt und strecke mich mit dem Oberkörper nach oben. Ich atme bewusst tief ein und aus, lasse mich inspirieren und versuche den Raum mit allen Menschen innerlich zu erfassen, so als würde ich sie in mich mit hinein nehmen. Dabei bin ich ganz bei mir. Wenn diese Haltung und dieses Gefühl für mich übereinstimmen, nehme ich Blickkontakt auf, erhebe meine Arme mit nicht ganz nach außen geöffneten Handflächen, wie offene Schalen, in den Raum hinein. Bittend öffne ich mich für Gottes Segen in der liturgischen Präsenz und halte die körperliche Spannung. Gleichzeitig bin ich offen für Gottes Segenskraft, die hoffentlich durch mich fließt und liebevoll ausströmen kann auf die, für die ich Gottes Segen mit den alten Worten – voller Vertrauen und dem Glauben an den Gott Jesu Christi – erbitte.
Segnen ist nie einseitig. Es ist das Erleben einer gemeinschaftlichen Erfahrung und das Spüren energiereichen Tuns in der Begegnung von Gott und Mensch. An diesem Ort, im Hier und Jetzt, ist durch die Gegenwart des göttlichen Geistes für diesen Moment ein verdichtetes Geschehen erlebbar. Immer kommt etwas von dieser Kraft zurück.
Der Segen Gottes schafft einen sicheren Raum. Es ist deutlich zu erleben: wenn Zeit für den Segen Gottes ist, geschieht nichts anderes. Das Segnen ist eine besondere Lebensdimension, die vieles, was in diesen Segen mit hinein genommen wird, überschreitet. Anderes verliert seine je aktuelle Bedeutung. Der Blick auf die Dinge ändert sich. Im Segen berührt uns Gott mit Gegenwart. Mag es Liebe sein, Geborgenheit, Hoffnung, Ewigkeit. Oder etwas, dessen Namen wir noch nicht kennen können, geschweige denn ahnen.”
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Was ich vor allem gelernt habe von der so beschriebenen Erfahrung meiner Pastoren-Freundin, beantwortet zugleich eine Frage, die ich mir schon seit Jahren im Hinblick auf die Messfeier gestellt habe. Wenn man – theologisch zumindest – davon ausgehen kann, dass ein monotheistischer Gott immer schon und ohne Abschwächung in der Welt real präsent ist, warum sind dann Rituale notwendig – wie die Messe oder das Segnen — um ihn präsent werden zu lassen? Machen sich diese mehrfachen Schichten von Präsenz nicht wechselseitig zur Tautologie? Die Antwort heißt, dass erst Rituale als stark konturierte Formen von Verhalten (und um ihre Dimension als Formen geht es hier) solche Präsenz zu einem Gegenstand machen und mithin als ein Geschenk erlebbar werden lassen. Innerhalb der katholischen Tradition könnte man sagen, es sei der Körper des Geistlichen oder des Priesters, welcher Gott eine temporäre Fleischwerdung ermöglicht – wovon genau man auch in der afro-brasilianischen Religion der Macumba ausgeht: dort werden von den verschiedenen Göttern besessene und in Ekstase versetzte Menschen „pai de santo” genannt, „Gottheits-Vater.” Eine Verkörperung Gottes zu sein, sagte mir Antje, gehe ihr als protestantischer Pastorin entscheiden zu weit. Aber wie sie die Offenheit ihres vermittelnden Körpers hin zu Gott und zugleich ihre Zuwendung zur Gemeinde schildert, das hat mich nicht nur beeindruckt – sondern überzeugt und am Ende vor Sympathie neidisch gemacht.
Denn ich selbst habe keinen Gott, den ich verkörpern oder dessen Kraft ich wenigstens vermitteln könnte. Wo soll ich also hin mit dem Wunsch, meine Enkel, aber auch meine Kinder zu segnen? Die Geste des Segnens hat nichts mit Magie zu tun, mit der unmittelbaren Heraufbeschwörung von Gegenständen, die noch eben abwesend waren oder mit der Ermöglichung von Funktionen, die unter irdischen Voraussetzungen als unmöglich gelten. Wie ein Segen in der Kirche der Kraft Gottes Gestalt gibt, wenigstens für die, welche an Gott und seine Kraft glauben wollen, so könnte ein Segen von mir Agnostiker für meine Kinder und Enkel der Sorge und Für-Sorge um sie eine erlebbare Form geben – und dadurch wohl auch ihre Wirksamkeit steigern. Einem so starken Gefühl nun eine von mehreren möglichen Formen, eine von mehreren möglichen rituellen Formen zu geben (nicht unbedingt „seine eigene” rituelle Form), das gelingt offenbar vor allem dann, wenn diese Formen eine ansonsten wenig konturierte Sequenz des Verhaltens sichtbar beschließen (wie es der Segen am Ende des Gottesdienstes tut). Natürlich, ich habe kein Recht zu hoffen, dass ein säkularer Segen (mehr kann ich ja nicht beanspruchen) meine Enkel beschützen wird, während ich abwesend bin. Aber er würde meine Liebe und meine Sorge für sie vielleicht zu einem spürbaren Geschenk machen – und mich damit in einer Weise für sie gegenwärtig halten. So könnte ihnen tatsächlich der Segen ihres ungläubigen Großvaters nutzen.
Ohnehin geholfen ist mit dem Segnen jedenfalls Gott, wenn wir davon ausgehen, dass „ihm” daran liegt, von den Menschen erfahren zu werden. Ob und warum dem so ist, steht auf einem anderen Blatt – dessen elektronische Version auszufüllen ich Antje eines Tages bitten werde.