Vor zehn Tagen konfrontierte mich eine Podiumsdiskussion mit dem Heidelberger Zellbiologen Werner Franke, einem der herausragenden Doping-Experten und Doping-Jäger in Europa – und ich war nicht nur, auf mehreren Ebenen gleich, sehr beeindruckt, sondern verließ den Abend auch mit einem neuen intensiven Pessimismus im Blick auf die Zukunft des Spitzensports. Beeindruckt war ich vor allem vom Umfang und den in ihrer Drastik so noch nie vorgestellten, Doping-verursachten und irreversiblen Gesundheitsschäden, wie sie Franke dokumentierte; ebenso beeindruckt war ich zunächst von seinem entschlossenen Aufklärungs-Engagement bezüglich eines “weltweit herrschenden kriminellen Zustand im Spitzensport.”
Aber von der leidenschaftlichen Intensität eben dieses moralischen Engagements rührt auch mein neuer Pessimismus her. Denn zwischen anerkannten Spezialisten mit Frankes eindimensionalem Pathos und jener wahrscheinlich breiten Mehrheit von Spitzensportlern und ihren Beratern, die täglich Doping-Regeln brechen, ist keinerlei Gespräch mehr vorstellbar – und mithin auch kein positives Ende jener Auseindersetzung, die auf verschiedenen Ebenen immer mehr Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, ohne neben der Logik von wachsend intensiver Verfolgung und wachsend komplexer Verheimlichung je das Szenario einer grundlegenden Lösung ins Auge zu fassen. An den guten Absichten von Doping-Jägern wie Werner Franke zweifle ich keine Sekunde – doch dies bestärkt mich nur in der Überzeugung, dass es allerhöchste Zeit ist, eine absolut verfahrene Situation durch provokante Gedankenexperimente wieder diskussions-fähig zu machen – um später vielleicht mit der Vision einer neuen, tatsächlich besseren Gesamtsituation aufwarten zu können (an deren Möglichkeit Franke und viele Sportfunktionäre gar nicht mehr zu glauben scheinen — und jedenfalls nicht mehr aktiv denken).
Was längst zum deprimierenden Normal- und Globalfall für einen oft enthusiastischen und immer passionierten Zuschauer fast aller Sportarten geworden ist (zu mehr habe ich es nie gebracht), kann man als eine sich immer neu wiederholende Sequenz in drei Schritten beschreiben. Schritt eins: ein Dopingjäger erhebt (wohl kaum je ohne relevanten Anlass) einen Vorwurf gegenüber einem Sportler, einer Mannschaft oder einem Berater. Schritt zwei: die Verdächtigten erreichen durch juristische Interventionen “einstweilige Verfügungen,” die den Dopingjägern bis auf weiteres die Wiederholung ihrer Vorwürfe untersagen. Darin schließt sich drittens eine meist permanente Situation an, in der alle Beteiligten verlieren: der Ruf und die Aura des beschuldigten Sportlers haben trotz der einstweiligen Verfügung Schaden gekommen; Entsprechendes gilt aber auch für die Dopingjäger, solange es ihnen nicht gelingt, ihre Vorwürfe in schlagende Beweise zu überführen; und durch die immer neue Wiederkehr eben dieser Sequenz wird dem Zuschauer für immer die Freunde an einzelnen Sportarten verdorben (am Etappen-Radfahren zum Beispiel oder am Baseball in der Vereinigten Staaten) — und die Sportbegeisterung insgesamt gedämpft.
Hinter dieser heute allgemein vertrauten Sequenz steht eine (sich ebenfalls aus drei Komponenten ergebende) strukturelle Krisensituation, für deren Entstehung niemand weniger verantwortlich ist als die Dopingjäger – zu deren Permanenz und krimineller Intensität sie aber mittlerweile durch ihr eindimensionales Pathos beinahe ebenso beitragen wie die Dopingsünder selbst. Es gibt heute erstens immer mehr Sportarten, deren Athleten tendenziell an absoluten Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit angekommen sind – die Sprintstrecken in der Leichtathletik gehören zu ihnen, das Etappenradfahren und möglicherweise bald auch als Mannschaftssport der sich heute besonders schnell entwickelnde Fußball. In all diesen Situationen wächst schnell die Zahl jener Sportler, die zur absoluten Weltspitze gehören, und mithin die Versuchung, sich durch untersagte pharmakologische und medizinische Interventionen einen zum Sieg führenden Vorteil zu verschaffen. Solche Manipulationen finden zweitens in einer Dunkelzone der Sach-Kompetenz und des Rechtes statt, deren definitiver Aufdeckung und Unterbindung die Dopingjäger und die sie zurecht unterstützenden Sportverbände in den vergangenen Jahrzehnten keinesfalls nähergekommen sind (selbst Werner Franke hat auf mehrfach in diesem Sinn gestellte Fragen keine positive Antwort gegeben). So wächt im Dunkel einer den Spitzensport begleitenden potentiell kriminellen Praxis, aber auch im Licht rechtlicher Verfahren und multimedialer Berichterstattung schließlich ein neuer und komplexer Markt, der tendenziell, wenn auch ganz ohne solche Absicht, zur Erhaltung des Doping-Syndroms beiträgt. Längst hat etwa das Schluss-Kapitel von den gefallenen Helden – wie Jan Ullrich oder Lance Armstrong – seine eigene Faszination und auch seine eigene Ökonomie entwickelt.
Bewegung könnte in diese tatsächlich gleich doppelt verfahrene Situation – überraschend vielleicht – unter anderem ein Blick auf die Geschichte des Sports bringen. Diese Geschichte ist entgegen der vorherrschenden Erzähl-Konvention (“schon die alten Griechen..”) eine Geschichte besonders scharfer Diskontinuitäten, innerhalb derer die zu unserer Gegenwart führende Entwicklung erst um 1800 mit der Institutionalisierung besonders erfolgreicher Berufssportarten (vor allem Boxen und Pferderennen) einsetzt und zugleich mit der Begründung des Amateursports durch seine Integration in universitäre und bald auch gymnasiale Lehrpläne. Nicht zufällig wohl ist jene Zeit um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert auch der Moment, seit dem westliche Kultur die Welt ihres Alltags als ein Feld der Kontingenz erfahren hat, als das Feld einer Praxis, die sich unter Auschluß des Unmöglichen und des Notwendigen vollzieht. Erst wenn der Ausgang einer individuellen oder kollektiven Konfrontation – zwischen dem Unmöglichen und dem Notwendigen – offen erscheint, wird diese Konfrontation für Zuschauer interessant; und erst wenn das Heranwachsen eines Menschen zwischen dem Unmöglichen und dem Notwendigen aufscheint, wird es als ein Prozess der Bildung gesehen. In diesem Sinn hat sich der moderne Sport zusammen mit dem modernen Verständnis von individueller Bildung entwickelt – und hat aus der Bildungswelt wohl eine eigentümliche Ambivalenz geerbt. Denn während Erziehung seit dem Beginn der modernen Pädagogik die Wahl zwischen geistigen Optionen und Möglichkeiten in die Verfügung des Individuums stellte, ist es bis heute offen geblieben, ob das Individuum über den eigenen Körper verfügen darf — oder eher der Staat. Bis heute gilt ja in zahlreichen nationalen Rechtssystemen der Freitod als krimineller Akt; zugleich die Möglichkeit der Verfügung des Staats über den individuellen Körper in Form der Todesstrafe keinesfalls flächendeckend ausgeschlossen. Aus dieser Sicht schreiben sich Doping-Kontrollen in eine Tendenz des Staates ein, durch Rechtsverordnungen den individuellen Körper gegenüber der Verfügung des Individuums — und manchmal sogar gegen sich selbst — zu schützen, wobei nie ganz klar ist, in wessen Namen oder Auftrag solcher Schutz gewährt wird.
An diesem Punkt meines Arguments möchte ich nun eigentlich die erwartbaren starken Stellungnahmen zugunsten einer individuellen Verfügung über den eigenen Körper vermeiden – denn es geht mir gar nicht primär um die eine oder andere Tendenz der Praxis im Sport sondern darum, zur Lockerung von Blockaden in einer verfahrenen Diskussion beizutragen. Und dieses Ziel ist zu verfolgen unter der Prämisse, dass auch Rechtssysteme letztlich abhängen sollen von der Geschichtlichkeit jener Kulturen und Gesellschaften, deren Alltag sie durchdringen und regeln. So wie der Anspruch des Staates auf Todesstrafe und auf die Normierung sexueller Verhaltensformen vor einem Jahrhundert als (für uns) erstaunlich unproblematisch angesehen wurde, ist die Frage zum Beispiel, wer das Recht hat, einen Sportler daran zu hindern, zu Erreichung eines (oft auch wirtschaftlich interessanten) Siegs eine wahrscheinliche Verkürzung seiner Lebenszeit in Kauf zu nehmen, heute nicht mehr nur eine rhetorische Frage (die jedenfalls negativ zu beantworten wäre). Dies gilt am frühen Beginn eines Zeitalters der plastischen Chirugie und des chirurgisch unterstützten Geschlechtswechsels gewiss auch für die von Doping-Jägern immer noch hochgehaltene rechtmedizinische Tradition, dass pharmaokologische und medizinische Interventionen nur in Krankheitsfällen legitim sind. Dem Wunsch nach einem Geschlechtswechsel (oder dem vergleichsweise harmlosen Wunsch auf das Anlegen abstehender Ohren) geht nach heute dominantem Verständnis keine Pathologie voraus – doch wer würde deshalb in der Gegensart solche Wünsche und ihre Befriedigung im Ernst als illegitim oder gar illegal ansehen?
Warum sollte dann aber eine medizinische Maßnahme ausgeschlossen sein, die etwa zur Verbesserung des Aufschlags einer Tennisspielerin führen könnte? Dass die Gemeinschaft der Steuerzahler durch damit entstehende Kosten – zumindest vorerst – nicht belastet werden sollte, steht außer Frage. Ebenso wohl auch die Vermutung, dass viele Tennisspielerinnen sich einer solchen Maßnahme nicht aussetzen wollten und daher ein Interesse hätten, eine solche Möglichkeit durch neue Regeln aus ihrem Sport auszuschließen. Es kann heute noch längst nicht um das Pro oder Kontra solch einzelner Maßnahmen in einzelnen Sportarten gehen. Viel wäre allerdings – im Sinne einer Entspannung der Doping-Situation und der sie begleitenden Diskussionen – gewonnen, wenn vorstellbar würde, für alle Sportarten die Rechtssituation bezüglich medizinischer und pharmakologischer Interventionen an den allgemein geltenden Standard der jeweiligen nationalen Rechtssprechung anzupassen (niemand denkt ja heute wirklich daran, Schönheitschirurgie als kriminelle Praxis unter Strafe zu stellen). Für viele Sportaten würde dies zur Folge haben, dass sich derzeit noch – und zum Teil immer tiefer — im Dunkeln vollziehende Praktiken endlich öffentlich werden könnten und mithin zum ersten Mal in die individuelle Verantwortung und Entscheidung von Sportlern überführt würden. Der zu erwartende Effekt einer solchen Öffnung könnte – auch und zumal im Hinblick auf die Opfer von halb- oder nicht-kompetenten Interventionen – den Auswirkungen der vor nicht allzu langer Zeit in vieler Rechtssystemen stattgehabten Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (in jeweiligen Grenzen) entsprechen.
In einer Gegenwart, wo I-Pods die alte Metapher von der Welt, die man in seiner Hand hält, zu einer konkreten Wirklichkeit gemacht haben, wo neue Technologien zu irreversiblen Dimensionen des menschlichen Lebens und seiner Möglichkeiten geworden sind, in einer Gegenwart, welche die enormen potentiellen Folgen der Entzifferungs des Genoms für das menschliche Leben noch vor sich hat, in solch einer Gegenwart ist es nur absurd, ausgerechnet den Spitzensportlern, jenen Mitmenschen also, deren körperliche Höchstleistungen wir bewundern, dieselben Möglichkeiten der Leistungsintensivierung zu verweigern, die wir alle täglich, selbstverständlich und fast immer ganz problemlos in Anspruch nehmen. Die gegenwärtig dominierende Praxis der absoluten Doping-Unterbindung, einschließlich der allerseits so hochgehaltenen Null-Toleranz, hat längst ihre historische und kulturelle Plausibilität verloren – und zeitigt Folgen, die tendenziell zur Teil-Schuld werden.
Vielleicht sollte der Nachvollzug eines Gedankenexperiments verpflichtend für alle Sportfunktionäre werden: was hätten sie einzuwenden – in Analogie zu der so populären Markenweltmeisterschaft der Konstrukteure beim Formel-Eins-Rennsport – gegen eine Weltmeisterschaft der Leichtathleten etwa, die begleitet wäre von einer Markenweltmeisterschaft der pharmakologischen Industrie, von einer pharmakologischen Markenweltmeisterschaft, bei der jene leistungssteigernden Substanzen prämiert würden, die keinerlei negative Auswirkungen auf die Körper der Sportler hätten.