Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Atem des Glücks in spärlicher Zeit: 2013

Erlebt hat sie jeder schon, die Frage ist, ob man aufmerksam genug bleibt und sich konzentriert auf solche Momente des Glücks, die einen, statt atemberaubend...

Erlebt hat sie jeder schon, die Frage ist, ob man aufmerksam genug bleibt und sich konzentriert auf solche Momente des Glücks, die einen, statt atemberaubend zu sein, durchatmen lassen, so atmen, dass der Körper zurückgelehnt offen ist für das, was aus der Welt kommt, und dann über sie gebeugt die Welt umarmen möchte. Das geht mir so, wenn Lieblings-Mannschaften beim American Football vor allem, aber auch beim Fußball oder Eishockey ein schöner Spielzug gelingt, auf den ich gewartet habe, ohne es zu wissen oder ihn gar zu kennen, und an dessen Kommen ich teilhabe, ohne an ihm teilzunehmen oder zu ihm etwas beitragen zu können. Die Fans unter den Zuschauern leben auf solche Momente hin und setzen oft Sekunden mit dem Atmen aus,  bevor der schöne Spielzug kommt, so als verweigerten sie sich einer Welt, die ihn noch nicht Ereignis und Wirklichkeit werden lässt. Doch dann geschieht er, immer plötzlich und immer wie ein Geschenk der Welt, geschieht und verschwindet ohne Folgen, außer der Spur seiner glücklichen Erinnerung.

Dieses Atmen ist Atmen im Takt einer Welt, die uns nichts schuldet, aber doch für einen Moment das gibt, wonach wir uns unwissentlich gesehnt haben. Für den kurzen Augenblick macht es uns zum Teil der Welt, in der wir so lange am richtigen Platz sind, bis sie sich schließt für uns — und wir für sie (weshalb das Atmen gelegentlich wieder aussetzen mag). Was geschieht, lässt sich keineswegs verdienen und viel weniger noch heraufbeschwören oder herbeizwingen, aber gerade das macht die Schönheit des Moments und dessen aus, was sich in ihm zeigt, nämlich jenes Schöne, das man ein Geschenk nennen kann oder auch ein Geschick, um anzudeuten, wie gut die Vorstellung oder die Überzeugung täte, all dies sei für uns bestimmt (an uns ge-schickt) gewesen.

So einen Atemzug der Gegenwart als Glück zu erleben, sich auf ihn konzentrieren, ihn zu wollen, für ihn mit einer Unbestimmtheit dankbar zu sein, welche der Unbestimmheit seiner Herkunft entspricht, all das sind Zeichen einer Bescheidenheit, die, weiß ich, keine persönliche Bescheidenheit ist und auch nicht allein eine Bescheidenheit, welche sich aus dem Illusionsverlust des Alterns ergibt. Einen Atemzug schon, bloß einen Atemzug als Glück zu feiern, eine Präsenz zu feiern, etwas, das plötzlich da war und längst wieder ging, das gehört – und gehörte — zu einer Zeit wie jener Gegenwart nach der Aufklärung mit ihren Refomen und Revolutionen, welche Friedrich Hölderlin eine “spärliche Zeit” nannte – und die Aufmerksamkeit auf den Atemzug des Glücks sollte wohl deshalb auch in unsere eigene spärliche Gegenwart von 2013 passen, mit ihrer von ausrechenbaren, aber anscheinend nicht abwendbaren Drohungen besetzten Zukunft.

Als ich jung war, am Ende jener Hoch-Zeit der damals schon erstarrten politischen Ideologien (sie hieß “kalter Krieg”), galt es als moralisch anrüchig, in Begriffen des Glücks zu denken, die nicht auf das permanente Glück der (von einigen wenigen Verschwörern befreiten) gesamten Menschheit bezogen sein wollten. Er war eine Zeit, die zäh festhielt an dem Anspruch, eine Antwort auf die große Frage der Aufklärung nach der “Wissenschaft vom kollektiven Glück” gefunden und in (de facto: jeweils verschiedene und miteinander konkurrierende) Formen der Praxis umgesetzt zu haben.

Schon das Zeitalter der Aufklärung hatte ja ab und an ironische bis skeptische Reaktionen (wie die von Voltaire) auf ihre eigene Überzeugung hervorgebracht, dass kollektives Glück möglich sein müsste. Doch andererseits schien es den Glauben an die Existenz dieser Möglichkeit nur zu bestätigen, wenn sich ein Philosoph wie Immanuel Kant leisten konnte, die Frage nach der Bestimmung des Lebens von der Frage nach dem Glück abzukoppeln – und hin zum strengen Horizont des kategorischen Imperativs zu verschieben. Das waren Zeiten voller Selbst- und Sendungsbewußtsein, was Ideen der Verfügung über kollektive und individuelle Existenz der Menschen anging, des waren jedenfalls alles andere als spärliche Zeiten.

Ihre Horizonte und Positionen waren erstaunlich belebt bis in das dritte Viertel des letzten Jahrhunderts – doch danach haben sie so schnell und nachhaltig (weil ja nicht ohne Anlass) einer Glücks-Ernüchterung, ja einem Glücks-Pessimismus das Feld überlassen, dass eine Renaissance der – meist durch die klassische Antike inspirierten — Lehren von der Verwirklichung stabilen individuellen Glücks (beim späten Michel Foucault etwa) schnell vorbeiging und längst abgelöst worden ist von unserem Zeitalter der “Lebenshilfen,” der dezentralisierten Selbst-Therapien, welche letztlich und implizit die Abwendung von permanentem Unglück als einziges Glücks-Äquivalent auf den Markt bringen. Zu dieser – unserer – spärlichen Zeit gehört wohl die agnostische – und deshalb paradoxale – Faszination durch moralische und politische Orientierungen, welche der säkularisierten Welt ausgerechnet aus den Religionen erwachsen soll; aber auch die – populäre – Sehnsucht nach einer Intensität “religiösen” Erlebens (bei Papstbesuchen oder Kirchentagen etwa) außerhalb aller traditionellen Formen der religiösen Rituale oder Institutionen.

Die aus der Aufklärung bis ins hoch-ideologische zwanzigste Jahrhundert nachebbende Inflation kollektiver Glück-Rezepte und individueller Glücks-Garantien jedenfalls ist profund vorbei in der Gegenwart unseres neuen Jahres — und ob wir uns nun gerade in der Tal-Phase einer zyklisch sich wiederholenden Bewegung der Veränderung befinden oder am Beginn eines langen und irreversiblen Abschieds vom Missionarstum des kollektiv-permanent zu bewerkstelligenden Glücks, das weiß niemand so recht. Jedenfalls ist unser Moment zu spärlich selbst für das, was Hegel “Seligkeit” nennen wollte, nämlich für “eine Angemessenheit des äußeren Daseins zum inneren Verlangen,” ohne Zufälligkeit. Wir sind vielmehr angewiesen auf das Gute, das uns zustößt, “uns” als jeweils einem Bewußtsein und einem Körper; wir sind angewiesen auf das, was uns durchatmen lässt für einen Moment des Glücks; und wir können es uns gar nicht leisten, außerhalb der Aufmerksamkeit auf das zu leben, was uns in der Gegenwart zustossen mag.

Es ist, wie gesagt, gar nicht solange her, seit die bloße Rede von individuellem Glück als (klein)bürgerlich, irrelevant, affirmativ – und was sonst immer noch – abgetan wurde. Jede positive Reaktion auf das, was einem zufallen konnte, als durchaus unmoralisch wegzuwischen, das schien Generationen (wie der meiner Jugend), Generationen mit Berufung zur Menschheitserlösung gegeben und geschenkt; Generationen, die sich im utopischen Selbstverständnis von Berufsrevolutionären auf dem Weg der Selbstverwandlung in ein Glücks-Bürokraten-Heer befanden. Spurenlemente aus jener Zeit, die nicht so viele Jahre vorbei ist, aber doch fast prähistorisch aussieht, Spurenelemente von damals sind hängengeblieben in der diskursiven Ökologie mancher Intellektueller von heute – so wie Asbest in ostdeutschen Amtsgebäuden (oder Kopfweh nach einer langen Neujahrsparty). Das ist der durchgehaltene Zynismus gegenüber allem, das uns “bloß zustösst;” es ist die mangelnde Bereitschaft (aber auch ganz einfach die Unfähigkeit), das erleben zu wollen, was nicht moralisch so haltbar aussieht wie Tiefkühl-Fisch oder Dörr-Obst; es sind die Atrophie des Lobens und die Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit auf die Gegenwart — Gebrechen, die sich gerne für Tugenden halten.

This also is why I want to dedicate today’s blog to the Stanford Football Team, Rose Bowl-Champions on January 1, 2013 —