Nach Peking oder Schanghai reisen deutsche Geistes- und auch Sozialwissenschaftler, so stelle ich mir das jedenfalls nach mehr als zehn Jahren einschlägiger und meist sehr einfarbiger Gespräche vor, nach China reisen deutsche Geisteswissenschaftler im Tross der Ministerin für Bildung und Forschung. Man bleibt dann ungefähr eine Woche dort, schließt Kooperationsverträge, deren Erfüllung sich eigentlich niemand wirklich vorstellen möchte, nimmt daneben vielleicht sogar an Symposien oder anderen Ereignissen von intellektuellem Anspruch teil und kehrt tief beeindruckt zurück. Die nationale Botschaft scheint dabei nicht selten als eine Bühne zu fungieren, welche Germanisten, Erziehungswissenschaftlern oder beflissenen Kennern der Philosophiegeschichte ein ungewohntes Gefühl von der eigenen Bedeutung gibt — und wirkt dann in den fast staatsmännischen Tönen nach, mit denen sie China als unsere Zukunft preisen.
Die Gegenwarts-Kultur, vor der man sich verneigt und zu deren Verehrung man überhaupt anreist, ist vor allem die stahl- oder stein-gewordene Wirklichkeit von Projekten, die in der Vorstellung westlicher Denker und Designer entstanden, aber am schnellsten und problemlosesten mit chinesischem Kapital zu betreiben sind — wie zum Beispiel das von der Baseler Firma Herzog und De Meuron erfundene Stadion fuer die Olympischen Spiele von 2008. Europa lässt also den Weihrauch seiner eigenen Tradition und Bewunderung vor allem jener Kultur angedeihen, die es sich leisten kann, der Markt für seine teuersten Industrien zu sein. Mit anderen, metaphorischen Worten gesagt, wird dabei die europäische Wissenschaft zu einer rosaroten Schleife, mit der Milliardenverträge – nicht einmal verpackt sondern bloß — geschmückt werden.
Für einen amerikanischer Professor (wie mich) gibt es kein Kultusministerium — und nicht einmal eine “Forschunsgemeinschaft,” die Flüge (zum Beispiel) nach China finanzieren, was übrigens vor allem verfassungsrechtliche Gründe hat, die aus der frühen Geschichte der Vereinigten Staaten kommen. Ab und an erreichen mich trotzdem Einladungen von chinesischen Universitäten, zu denen der sehr direkte Verweis gehört, dass Flug- und Hotelkosten selbst zu übernehmen sind. Und auch in den seltenen Fällen, wo solche Ausgaben gedeckt werden, scheitert die Einladung regelmäßig an meiner störrischen Überzeugung, dass auch geisteswissenschaftlliche Extra-Arbeit bezahlt werden sollte. Dies genau, dass ich bezahlt werden möchte, habe ich noch nie einem Kollegen oder einer Universität in China nahe bringen können. Und so ist mir bisher das Land entgangen, das soviele europäische Intellektuelle für die Zukunft halten, womit sie ja vielleicht sogar recht haben — möglicherweise auch gerade deshalb, weil allein dieses Land für kulturelle Pietäten und Zärtlichkeiten wie die Geisteswissenschaften oder beamtete Intellektuelle überhaupt keine Geduld mehr hat.
Und dann schien sich doch, auf Umwegen, plötzlich und endlich, der Durchbruch anzubahnen. Einer jener europäischen Architekten, deren Eleganz den chinesischen Markt und sein Kapital bedient, ehrte mich mit dem überraschenden Wunsch, dass ich über eines seiner Gebäude in Schanghai schreiben sollte. Für ein respektables Honorar und (natürlich) alle Nebenkosten. Doch der globale Architekt hatte die Rechnung seines Vorschlags ohne den chinesischen Staat gemacht, der das Gebäude in Aufftrag gegeben hatte und nun besitzt. Es sei bis auf weiteres (und dieses “weitere” dauert nun schon fast ein Jahr) für Photographen gesperrt und überhaupt für alle Besucher, die keine Anstellung dort hätten. Nach einer Begründung fragt niemand in solchen Fällen – wohl weil es eine Begründungspflicht des Staates in China überhaupt nicht gibt und weil “der Staat,” wer weiß, auf so eine Nachfrage ungehalten reagieren könnte.
Warum nehmen wir das hin? Oder – für jene, die gar nicht erst in eine Situation kommen, wo genau diese Frage zu stellen ist: wer lässt sich solche Antworten bieten und was ist die Vision von der Zukunft, welche ihr Hinnehmen motiviert? China, brauche ich fast nicht nochmal zu schreiben, ist der weltwichtigste Markt für Hochpreis-Produkte, weshalb zum Beispiel über die Zukunft von Audi, BMW und Mercedes tatsächlich dort entschieden wird. Das müßte zwar Germanisten nicht unbedingt in geschichtsphilosophisches Schwärmen versetzen, aber immerhin steht jener Markt ja langfristig in einem Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer Gehälter. Ein anderer, noch banalerer Grund für die China-Begeisterung ist die eigentümliche – fast weltweite – Amerika-Phobie unter Intellektuellen. Zu sagen, dass sich die Vereinigten Staaten als Weltmacht in einer unumkehrbaren Dekadenzbewegung befinden, erfüllt die meisten von ihnen mit geradezu adventlicher Freude, so als ob das Ende des Zweiten Weltkriegs zum Beispiel, der Marshall-Plan, die Gründung der Vereinten Nationen, Vietnam, das Ende des Kalten Kriegs oder auch die amerikanischen Siege in den Irak-Kriegen Akte persönlicher Beleidigung gewesen wären, fuer die man nach Rache suchte. Und nichts scheint dann eben solider und unwiderlegbarer den herbeigewünschten Abstieg – wenn nicht den freien Fall – der Vereinigten Staaten zu belegen als deren (vielleicht ja wirklich todbringendes) Wirtschafts–Verhältnis zur Volksrepublik China, einmal ganz abgesehen von den nicht ganz leicht zu fassenden Gründen der intellektuellen Sehnsucht nach solch fremdem Untergang. Stellt man sich vor, dass das Leben besser würde unter China als neuer Hegemonialmacht?
Nach solch doppelt fröhlich vorauseilendem National-Gehorsam werden die Visionen von einer Zukunft, die in China liegen könnte, immer dunkler. Das Land ist wohl – noch – weit davon entfernt, mit militärtechnisch führenden Nationen konkurrieren zu können, aber es verfügt – ebenfalls: noch – über einen kaum zu überschätzenden politischen Vorteil in militärischer Hinsicht. Allein in China, davon gehen strategische Nato-Erwägungen aus, würden Verluste von Millionen eigener Soldaten in einem internationalen Konflikt die kriegführende Regierung nicht unter Legitimationsdruck setzen — und Zahlen über Opfer auf der Gegenseite liegen dort wohl bis heute ohnehin unterhalb aller Relevanzschwellen. Das bedeutet, dass China die einzige wirtschaftlich und demographisch expansive Säkular-Macht ist, die sich einen Krieg von apokalyptischen Dimensionen erlauben könnte. Ein Grund, China zu lieben?
Diese Möglichkeit unbegrenzter Gewalt liegt in der Hand einer Regierung, welche nicht über den Mechanismus von Wahlen und die Struktur konsequenter Gewaltenteilung ihren Bürgern Erklärungen oder Rechtfertigungen schuldet. Gibt es eine – geheime und fast schon ins Offene umschlagende — Bewunderung für einen Staat, der sich allein um seine erfolgreiche Selbstsubstitution zu kümmern hat? Gehört ihm eine Ästhetik der Gradlinigkeit und Unmittelbarkeit, um die wir die Chinesen beneiden? Die maximale politische Bündelung wirtschaftlicher Energien hat längst viele von uns fasziniert, und es ist gar nicht ausgeschlossen, dass diese Faszination gerade an die Stelle des Traums von der absolut gleichen Verteilung aller Resourcen, an die Stelle des ranzig gewordenen Traums aus dem zwanzigsten Jahrhunderts tritt. Im Sinne dieses alten Traums hatte das “neue” China von Mao vor mehr als fünzig Jahren die Weltbühne als wiedergeborene Weltmacht betreten, zur Verwirklichung dieses Traums hatte die Kulturrevolution unter der eigenen Bevölkerung gewütet — und ausgerechnet dieser schöne Träm ist nun für immer umgeschlagen in die Dynamik staatlich geschützer unbegrenzter Ungleichheit. Niemand fragt nach den Sozialgesetzen im China von heute.
Denn wer wollte nicht in dem Land leben, das die persönliche Wahl zwischen Audi, BMW, Mercedes (und bald wohl auch Porsche) weit höher und sakrosankter hält als die Wahl von Abgeordneten? In dem Land, das sich Künstler aus dem Ausland leistet, um den eigenen Künstlern nicht ausgesetzt zu sein? In the Brave New World of China, absichtlich frei ins Deutsche übersetzt: in der braven chinesischen Zukunft.