Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Rausch der Wachheit

  Ohne weiteres verbindet wohl kaum jemand die Volksweise von der "Mühle am rauschenden Bach" mit der unleugbaren Faszination des Rausches (die allerdings...

 

Ohne weiteres verbindet wohl kaum jemand die Volksweise von der “Mühle am rauschenden Bach” mit der unleugbaren Faszination des Rausches (die allerdings ohne Erinnerungen an den Fluch der Räusche nicht zu haben ist). Aber wer Begriffen gerne den Puls fühlt, der weiß, wie produktiv solche überraschenden Arhytmien sein können. Denn das Klappern der Mühle am rauschenden Bach fügt sich nicht einfach als eine weitere in beliebig viele Komponenten des romantisches Genrebilds ein, sondern steht in einem Bedeutungs-Gegensatz zum Rauschen des Bachs, der uns hilft, dem Rauschen (wie dem Rausch) auf seine Akustik und auf seine Schliche zu kommen. Das Klappern der Mühle lässt sich gegen das Rauschen des Bachs als Hintergrund nur deshalb so gut vernehmen (wissen wir, auch wenn wir keine Minute des Lebens in der Nähe von Mühlen verbracht haben), weil es rhythmisch ist und also eine Form hat. Das Klappern der Mühle wiederholt sich als ein Ton (oder als eine Sequenz von Tönen) in regelmäßigen Abständen — genau dadurch wird es zu einer Form. Hingegen hat das Rauschen keine Ton-Effekte, die regelmäßig wiederkehren. Rauschen, das meinen wir, wenn wir vom “Rauschen” eines Radios oder eines Fernsehgeräts sprechen, ist Ton ohne Form, es ist Background-Noise, der für immer ungeeignet bleibt, eine Botschaft oder eine Bedeutung zu übertragen.

 

Doch das Rauschen des Bachs an der klappernden Mühle hat eher wenig mit dem zu tun, was wir “Rausch” nennen. Ganz anders ist das, erklärte mir Yasushi, mit einem Effekt des Klapperns an rauschendem Wasser, auf den wir beide in einem Kloster von Kioto stießen. Dieses Gebäude soll von Zen-Meistern bewohnt sein und wird jedenfalls für Zen-Übungen benutzt. Es hat Räume (fast möchte man sagen “Zellen”), die zur Meditation dienen und deren vierte Wand sich auf einen umschriebenen Freiraum mit all den Künstlichkeiten der japanischen Gartenkunst öffnet. Ein kleiner Fluss durchquert Moose und Bäume, um schließlich langsam und immer wieder ein Bambusrohr zu füllen, das von einer Art Scharnier in der Schwebe gehalten wird, und so in regelmäßigen Zeit-Intervallen, wenn es sich zu mehr als der Hälfte gefüllt hat, klappernd auf den Boden aus Steinen schlägt. Der Rhythmus des Klapperns, sagte Yasushi (der manchmal seine produktiven Intuitionen für Fakten hielt), der Rhythmus des Klapperns sei die Form, vor der als Hintergrund und Kontrast das Rauschen des Wassers zur absoluten Offenheit des Bewußtsein werden könnte, zu einer Offenheit, die nichts ausschließt, zum Zen-Rausch der Wachheit.

 

Das ist der eine Rausch. Was ihn von dem anderen (und berühmteren) Rausch unterscheidet, von dem Rausch, an den man sich mit geschwollenem Gehirn erinnert und von dem unter vielen anderen Nietzsche in seinem Tragödien-Buch schreibt, ist nicht vor allem der Alkohol oder der Joint, an die Nietzsche nicht dachte, sondern der tiefe Schlaf, der auf ihn folgt. Was der Rausch Nietzsches und der Rausch der Süchtigen aber mit dem Rausch der Wachheit teilen, das ist eine Offenheit, welche – tendenziell zumindest – nichts ausschließt. Man nennt das meistens (mit Anklängen an den Psycho-Jargon) “enthemmt sein.” Wer enthemmt ist, der erlaubt sich vieles, was sonst (meistens zurecht) von einer aus Erziehung und Sozialisation erwachsenen “Zensur” aussortiert und unterdrückt wird. Dass dieses Enthemmt-Sein ab und an ästhetisch oder intellektuell lohnende Wirkungen hervorbringt, weiß jeder – weil es ja eher zu oft erwähnt wird.

 

Vom Rausch der Wachheit aber ist heute leider nur selten die Rede. Dass ich “leider” sage, hat einen Grund, welchen vor einem halben Jahrhundert der damals unter Intellektuellen sehr angesehene französische Paläontologe und Theologe Teilhard de Chardin (ohne große Ambitionen) beschrieben hat. Er bemerkte mit einem Erstaunen, das nie in Selbst-Bewunderung umschlug, wie die wichtigsten Intuitionen, die besten Texte, die größten Leistungen und die wenigen Momente eines Glücks aus Erfüllung ohne Ausnahme zu Zeiten seines Lebens gehört hatten, in denen er sich mit Aufgaben und Verpflichtungen übernommen hatte (wie wir heute so gerne sagen). Dagegen seien Wochen oder Monate, die er frei gehalten hatte, um produktiv oder gar kreativ zu arbeiten, ohne Ausnahme erschreckend ergebnislos verlaufen. Wenn ich mich richtig erinnere, verzichtete Teilhard de Chardin auf psychologische oder gar theologische Theoreme, um seine Erfahrung zu erklären, was sie nur noch interessanter macht. Denn es gibt einen Rausch der Wachheit, der sich gerade deshalb einstellen kann, weil man keine Aufgabe zurückweist, nichts ausschließt, sich viel zu viel zumutet und (das vor allem hat mit Wachheit zu tun) dabei nur wenig schläft.

 

Auf konkrete und tatsächlich eminente Fälle dieser Art stoße ich in meinem Alltag immer wieder (und das ist wohl in den meisten Berufen und den meisten Länder möglich). Ich bin voller Bewunderung und erstaunt vor allem über College-Studenten (Studenten im Alter von siebzehn bis zweiundzwanzig Jahren) an einer Elite-Universität, denen es während eines erfolgreichen Studiums und als Teil dieses Studiums gelingt, Weltklasse-Sportler zu werden. Mein Erstaunen beginnt mit der ständig an mich selbst gerichteten Frage, ob ich im selben Alter nicht allein schon vom Niveau und von der Komplexität der Lern-Aufgaben am College überfordert gewesen wäre (denn dieser Teil des Studiums ist nicht auf ein “Fach” beschränkt). Und doch gibt es Studenten, die Zeit finden, welche sie eigentlich gar nicht haben — wie Elaine, der neben vielem anderen Akademischen eine brillante Abschlussarbeit über Geschichtsschreibung im antiken Griechenland während desselben Sommers gelang, an dessen Ende sie von der Peking-Olympiade als Slibermedaillengewinnerin im Schwimmen zurückkehrte. Der sportliche Erfolg, erzählte sie mir, hatte sechs tägliche Trainings-Stunden im Wasser vorausgesetzt, und der Studien-Erfolg ist, meine ich, auf mindestens das Doppelte zu veranschagen. Dabei setzte sie nicht aus mit ihrem Engagement als freiwillige Sozialarbeiterin in der Methodisten-Gemeinde, deren Gottesdienst sie besuchte.

 

Viel Zeit zum Schlaf blieb Elaine angesichts dieses Programms kaum. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass ihr so enorm viel ohne konsequente Zeitplanung und ohne viel Selbstdisziplin gelungen wäre. Aber auf der anderen Seite gehört es doch – und vor allem – zum Rausch der Wachheit, dass die Furcht vor dem nicht-Gelingen (oder gar Scheitern) und der Anspruch auf Freizeit oder Entspannung gar nicht erst auftauchen. Das Ausbleiben von Selbst-Zweifeln und von Sorgen um das eigene Wohlbefinden sind das strukturelle Äquivalent des Enthemmt-Seins aus der anderen Art des Rauschs. Mit einem eingängigeren (und bewusst auch ambivalenten) Bild beschrieben: Hochseilartisten stürzen solange nicht vom Seil, wie in ihrer Wachheit kein Platz für solche Gedanken ist – was nichts zu tun hat mit den Qualen von Verdrängung oder Selbstzensur.

 

Worauf ich hinaus will? Und wem – außer absoluten Ausnahme-Talenten wie Elaine – geholfen sein könnte mit dem Rausch der Wachheit? Zum einen will ich sagen, dass ein erhebendes Gefühl (ich wage diese Formulierung) davon ausgehen kann, in der Gegenwart solcher Größe zu leben. “Erhebend” nicht in dem Sinn, dass wir alle von Olympiasiegern und Nobelpreisträgern “lernen” könnten, wie dauernd behauptet und sogar gefordert wird. “Erhebend” viel mehr, weil das, was ihnen gelingt, schön ist – und uns versöhnt mit einer Welt, zu deren Möglichkeiten dieses Schöne gehört. Zugleich liegt aber die Frage auf der Hand, ob wir nicht auch deswegen im Zeitalter der Depressionen und des Burn-Out leben (ich weiß, diese Zeitung hat zu Neujahr das “B”-Wort auf ihre Abschussliste gesetzt), weil wir beständig vom vorauseilenden Krisen-Management des möglichen Misslingens und von der geizig abgehandelten Freizeit überlastet sind.

 

Dass wir wie besessen nach Pathologien bei denen suchen, die sich den Rausch der Wachheit nicht nehmen lassen und dass wir uns Sorgen um ihre Gesundheit machen, ist in Wirklichkeit kein Zeichen warmherzig pochender Empathie – sondern eher eine grüne Ampel auf der Straße zur schleichenden Selbstvernichtung.