Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Mannschaft und Masse als mystische Körper

Was könnte heute eigentlich banaler, billiger und auch (im wörtlichen Sinn} mehr herunter-gekommen sein als all die Rollen und Posen des "Individualismus,"...

Was könnte heute eigentlich banaler, billiger und auch (im wörtlichen Sinn} mehr herunter-gekommen sein als all die Rollen und Posen des “Individualismus,” den heroische Freigeister, Exzentriker und Intellektuelle der Aufklärung und der Romantik für sich (und bis heute: für uns alle) gegen staatliche Macht, religiöse Ansprüche und strenge gesellschaftliche Konventionen erstritten hatten? Zu sagen, dass Individualität das zentrale Massenphänomen des frühen einundzwanzigsten Jahrhundert ist, mag für einen Moment interessant klingen, trifft aber nur ins Schwarze einer Selbstverständlichkeit. Im Namen der Massen-Individualität will “man” an keinerlei Verpflichtungen oder Solidaritäten gebunden sein, doch andererseits auf die endlose Unterstützung “des Staates” und seiner geduldigen “Steuerzahler” vertrauen können; im Zeichen der Individualität lassen sich noch die groteskesten Fehlleistungen und Verhältensstörungen zwischen Kindergarten und Abitur in Verdiensten, ja Triumphe ummünzen (“Ihre Tochter stört am kreativsten von allen Kindern!”) – und mittlerweile hat der Individualitäts-Wahn ja sein verdichtendes Haupt-Emblem in wohlhabenden  Helikopter-Eltern gefunden, die ihre Einzelkinder mit einstweiligen Verfügungen (und anderen juristischen Tricks) absondern von allen Gleichaltrigen und besonders von ihren Lehrern.

Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach dem früher einmal gefeierten “Bad in der Masse” eine schweigende Auferstehung feiert, die sich während der vergangenen Jahrzehnte zum Beispiel objektiviert hat in immer häufiger ausverkauften Stadien (trotz Liga-deckender live-Übertragungsysteme) und in beständig wachsenden Gemeinden bei Papst-Messen unter offenem Himmel (trotz fallender Zahlen der sonntäglichen Kirchenbesucher). Schweigend vollzieht sich – vor allem in Deutschland — diese Wiederauferstehung der Sehnsucht, Teil einer Masse zu sein, weil Massen seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert durchgängig einen schlechten Ruf gehabt haben, bei Intellektuellen zumal. So hatte der damals weltweit gelesene spanische Philosoph und Journalist José Ortega y Gasset 1929 sein Buch vom “Aufstand der Massen” veröffentlicht, in dem er Selbstzufriedenheit und Anspruchsdenken der Mittelmäßigen als Massenphänomen geißelt. Eigentlich scheint es Ortega um die Banalität des normalisierten Individualismus gegangen zu sein, so als habe er Lebensformen unserer Gegenwart schon im Auge gehabt – und also gerade nicht primär um die besondere Faszination und Ambiguität der Massen, wie sie manchmal zu einem kollektiven Körper zusammenzuwachsen können, dessen gefährliche Energie niemand zu zähmen, aufzuhalten oder gar zu steuern vermag. Massen als kollektive Körper sind deshalb seit einem guten halben Jahrhundert beinahe obsessiv assoziiert worden mit den entfesselten Hörern von Josef Göbbels berüchtigter Sportpalast-Rede (“Wollt ihr den totalen Krieg?”) und gelegentlich auch mit kollektiven Energie-Entladungen bei Sportereignissen, durch die Dutzende von Zuschauern einen gewaltsamen Tod gefunden haben.

Elias Canettis brillante sozialpsychologische These von einer in der Masse zu gewinnenden Freiheit hat gegen dieses dominante, einseitige und leider auch leicht nachvollziehbare Vorurteil bezüglich der Massen kaum etwas ausrichten können. Anders als Canetti (aber gar nicht im Widerspruch zu ihm) will ich unterstellen, dass heute schon allein das Versprechen auf Erlösung von der Banalität des Individualitätszwangs genügt, um eine neue Faszination der Massen als mystischen Körpern zu erklären – und mich konzentrieren auf die ebenso selten gestellte wie schwierige Frage, unter welchen Bedingungen überhaupt der äußere Eindruck und das innere Gefühl einer Masse als kollektivem Körper entstehen kann. Wenn ich dabei indirekt auf eine frühchristliche (und von der katholischen Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts wiederentdeckte) Beschreibung der Kirche als “mystischem Körper (Christi)” zurückgreife, so will ich – ohne alle religiösen Assoziationen – betonen, dass solche kollektiven Körper  (erstens) nicht einfach aus einem Konsens oder aus einer Komplementarität von Absichten entstehen und (zweitens) doch kein exklusiv physisches Phänomen sind, sondern eine Dimension des Erlebens einschließen.

Noch einmal also: wie entsteht der Eindruck, dass eine Pluralität von Körpern zu einem kollektiven Körper werden? Stellen wir uns ein volles Stadium bei einem Fußballpiel vor (oder bei einem Cricket-Testmatch). Dort lassen sich ganz selbstverständlich mindestens drei verschiedene kollektive Körper identifizieren: die Spieler auf dem Feld (geteilt in zwei Mannschaften); die Zuschauer (auch meistens in zwei Blöcke geteilt); und die manchmal für Momente manifeste Gemeinschaft von Spielern und Zuschauern. Wenn wir überhaupt von “kollektiven Körpern” reden, beziehen wir uns auf einen Form-Eindruck: wir sind dann überzeugt, dass die Bewegungen von mehreren Körpern in einer gemeinsamen Form koordiniert sind. Wie kommt es dazu? Bewegungen, die einen Form-Eindruck hervorrufen, sind das, was wir “Rhythmen” nennen. Umgekehrt formuliert: wenn sich bestimmte Sequenzen der Veränderung in einer Bewegung regelmäßig wiederholen, dann schreiben wir ihnen Rhythmus und Form zu. Niklas Luhmann hat Rhythmen als Form der “Kopplungen erster Ordnung” dargestellt, als Form von solchen Kopplungen zwischen Körpern, welche nicht produktiv sind, das heißt: in ihrer Interaktion weder neue Formen noch Ebenen der Selbstreflexion entwickeln. “Kopplungen zweiter Ordnung” hingegen sind Interaktionen (der Normalfall eines Gesprächs zum Beispiel), die als Effekt ihres Vollzugs sowohl neue Phänomene als auch eine Dimension der Selbstbeschreibung und Selbstreflexion hervorbringen. Mit der Unterscheidung zwischen “Kopplungen erster” und “Kopplungen zweiter Ordnung” kommt eine Erfahrung zur Sprache, die uns allen vertraut ist — naemlich dass eine starke Dimension der Bewusstseins-Beteiligung nicht förderlich ist für die Entstehung (des Eindrucks) kollektiver Körper.  Wenn wir hingegen Teil einer Masse als kollektivem Körper sind, dann fühlen wir uns weniger befangen (“less self-conscious,” sagt man auf Englisch) und eher bereit, uns auf vertraute Muster der Bewegung zu verlassen, als wir dies in einem Gespräch oder in einer Interaktion zwischen zwei oder mehreren Individuen tun.

Anlässlich einer ganz anderen Beschreibung ähnlicher Phäneomene hat der amerikanische Philosoph George Herbert Mead im frühen zwanzigsten Jahrhundert die Absenz reflexiver Bewußtseinskontrolle assoziiert mit einer Vision von frühen Formen des Menschseins. Der frühe Mensch nimmt ein Geräusch wahr; diese Wahrnehmung löst in seinem Bewußtsein zum Beispiel die Imagination von einem schwächeren Tier aus; die Imagination wirkt über die Nerven direkt und unwiderstehlich auf seine Muskeln, und er beginnt, dieses schwächere Tier zu jagen. Eine komntrollierende Reflexion oder gar ein Zögern gibt es dabei nicht. Adam Smith, jener schottische Philosoph der Aufklärung, dem die erste Beschreibung des Kapitalismus gelang, vergleicht den Effekt jener (Metapher von einer) “unsichtbaren Hand,” welche eine jeweilige Vielfalt nicht koordinierter wirtschaftlicher Intentionen und Handlungen zu einer Form und zu nationalökonomischem Wachstum machen soll, mit Eindruck, dass mehrere Jagdhunde, welche gemeinsam eine Beute jagen (natürlich ohne sich “abgesprochen” zu haben!), aussehen können wie eine bewegliche Form, so als ob eine subtile Komplementarität zwischen ihren Bewegungen existierte.

Diese Beschreibungen von der Emergenz eines geschlossenen Form-Eindrucks aus einer Vielfalt von Bewegungen, lassen sich, glaube ich, auf Mannschaften im Sport anwenden, die ja keinesfalls dann am homogensten wirken, wenn – wie in der müden Version einer Ballett-Choreographie – jeder Schritt vorkalkuliert und von den Akteuren durchgedacht ist. Wie genau aber die vielfältigen Stufen der Bewegungskoordination von (Jagdhunden oder) Mannschaften im Sport funktionieren, das hat meines Wissens noch niemand beschrieben. Gewiss ist allein,  dass kollektive Formen und kollektive Körper nie einfach das lineare Produkt perfekter Koordination und bester Absichten sein können. Wechselseitige Wahrnehmung der Körper in der eigenen oder gegnerischen Mannschaft spielt sicher eine zentrale Rolle – aber eben nicht im Sinn einer Wahrnehmung, die in bewusste Erfahrung übersetzt wird. Dies zumindest, die Kopplung erster Ordnung auf einem Niveau der Wahrnehmung, die nicht zur Erfahrung wird, ist auch eine Voraussetzung für die – viel weniger agilen und differenzierten – Bewegungen der Zuschauer im Stadium als kollkektivem Körper. Klar ist, dass “la ola” als kollektive Bewegung nur selten in Schwung kommt und einfach Spaß macht, wenn sie vom Stadionsprecher als Teil eines “Unterhaltungsprogramms” eingefordert wird. Doch klar ist auch, dass Momente existieren und manchmal tatsächlich einen Teil der Zuschauer und “ihre Mannschaft” oder sogar beide Mennschaften mit allen Zuschauern so vereinen, dass das Stadion zu einem einzigen mystischen Körper wird. Ich erinnere mich an einen 6:1-Auswärtssieg meiner liebsten Bundesliga-Mannschaft in der vergangenen Spielzeit, nach dem in einer Ecke des Stadions (am Ende nur noch spärliche bekleideten) Spieler auf dem Feld und ihre Fans auf den Rängen eine gute halbe Stunden miteinander – tanzten (das wäre wohl das bestmögliche, aber doch kaum treffende Wort).

Um Teil solcher kollektiven Körpers zu werden, muss man sich in eine schon bestehende oder eben emergierende kollektive Bewegung fallen lassen, ihr und seinen eigenen Instinkten vertrauen – was nicht ungefährlich ist, wie wir aus vielen historischen Erfahrungen wissen, aber jedenfalls das genaue Gegenteil banaler Individualität.  Besonders beeindruckt mich eingefleischten Stadion-Fan immer wieder die Beobachtung, dass mystische Körper der Mannschaftssportarten vor allem zusammenfinden in der nur wenige Stunden anhaltenden Belebtheit von Stadien — die davor und danach fast zwei Wochen leer stehen. Während eines Spiel wiederholt sich gerade dieser Kontrast fast unendlich: das Spielfeld ist leer, wenn ich ins Stadion komme; dann betreten die Mannschaften das Feld zum Aufwärmtraining, meist frenetisch begrüßt von ihren jeweiligen Fans; sie verlassen das Feld und kommen schon bald aus den Kabinen, ganz konzetriert auf das Spiel. Dieses Ritual wiederholt sich während der Halbzeit – und auch nach dem Spiel sind die Zuschauer angehalten, das Stadion schnell zu verlassen, so dass bald wieder Leere entsteht.

Könnte es sein, dass man als Teil des mystischen Stadionkörpers auch Teil der berühmten Frage ist (Teil der Frage ist, nicht sie repräsentiert oder verkörpert), welche nicht allein Martin Heidegger als philosophische Frage an sich unterstrichen hat, nämlich Teil der Frage, wie es kommt, dass es etwas gibt – und nicht nichts. In unserer menschlichen Existenz sind wir diese Frage immer, nicht nur im Stadion; aber Teil der Faszination des Stadions könnte daran liegen, mit größerer Intensitaet das genau zu bleiben, was wir schon immer sind.