In einen “Fall” (oder einem “Kasus”) schlägt die Erzählung eines Ereignisses um, so beschrieb es der holländisch-deutsche Literaturwissenschaftler André Jolles in seinem 1930 veröffentlichten Meisterwerk “Einfache Formen,” wenn sich in der Erzählung zwei oder mehr Perspektiven der Deutung mit paradigmatischer und nicht auflösbarer Unvereinbarkeit begegnen (Jolles übrigens wurde als gebürtiger Holländer während seiner Jahre als deutscher Professor zum enthusiastischen Nationalsozialisten und nahm sich 1946 das Leben). Die Diskussion und Kommentierung von faktischen oder fiktionalen “Fällen” in dem von Jolles definierten Sinn hat seit jeher zur Tradition der juristischen Ausbildung gehört. Ganz unabhängig von der möglicherweise nie abschließend zu rekonstruierenden Sachlage ist der gewaltsame Tod des Models Reeva Steenkamp, wie er sich in Gegenwart ihres Liebhabers, des zweifach beinamputierten Kurzstreckenläufers Oscar Pistorious, in der Nacht vom 13. zum 14. Februar dieses Jahres in Pretoria ereignete, ein paradigmatischer Fall. Er lenkt nicht allein sensationslüsternen Voyeurismus auf sich, sondern verdient auch die wache intellektuelle Aufmerksamkeit aller Beobachter, denen die Zukunft des Sports am Herzen liegt.
Von Pistorius war in der einschlägigen Berichterstattung mehrfach – und ich meine zurecht – als einem “der größten lebenden Sportler” die Rede. Dies allerdings wäre vor nur wenigen – ich vermute genauer: vor nur vier – Jahren noch nicht der Fall gewesen, und schon in solcher historischen Differenz artikuliert sich der signifikante Widerspruch, um den es mir im Kasus von Oscar Pistorius geht. Vor nur vier Jahren waren die so genannten “Paralympics” ein Ereignis, das die Bewunderung der Weltöffentlichkeit allein unter den Vorzeichen moralischer und moralpolitischer Motivationen aktivierte. Die Intensität solchen Respekts stand in einem Verhältnis umgekehrter Proportion zu den bis dahin stets begrenzten Zuschauerzahlen bei den Paralympics, die sich aus Behindertensportlern, Familienmitgliedern und den Repräsentanten ethisch verantwortungsbewußter Institutionen ergaben. Die Londoner Paralympics von 2012 hingegen fanden zum ersten Mal eine genuin neue Form von Aufmerksamkeit: das war eine Ästhetik und Faszination durch Körper, die nicht der anatomischen Normalität und Norm entsprechen. Nur diese Verschiebung – und neue Modalität – der Sportbegeisterung kann das ganz plötzlich eingetretene sprunghafte Anwachsen des einschlägigen Interesses erklären.

Die Figur von Oscar Pistorius – und wohl auch die individuelle Form seines Ehrgeizes – brachte die beiden Formen der Faszination in einer lange kaum sichtbaren Spannung zusammen, die offenbar existentiell nicht durchzuhalten war. Pistorius erreichte einerseits (nach langen und komplizierten Auseinandersetzungen mit den internationalen Sportverbänden, nach Auseinandersetzungen, auf deren Gleichheits- und Ungleichheitsargumente wir hier nicht eingehen brauchen) die Zulassung zu den olympischen Wettkämpfen und gewann dort als ausscheidender Läufer im Halbfinale über 400 Meter den ethisch motivierten Respekt des Publikums und seiner Konkurrenten. Diese Vorgeschichte rückte ihn anschließend in den Fokus des anders motivierten, neuen Interesses bei den Paralympics.
Man könnte auch sagen: die Unterbein-Prothesen von Oscar Pistorius waren zugleich Symptom für eine klassische existentielle Tapferkeit des behinderten Körpers und Ikone einer neuen Ästhetik des hybriden Körpers. Dass Pistorius allerdings genau jenes Argument, nach dem technologisch neue Formen von Unterbeinprothesen ein Problem für die sportliche Chancen-Gerechtigkeit sein sollen, gegen den brasilianischen Überraschungssieger im 200 Meter-Lauf der Paralympics kehrte, jenes Argument also, welches er selbst erfolgreich blockiert hatte, um seine Zulassung zu den Olympischen Spielen durchzusetzen, das gab nicht wenigen Beobachtern zu denken – und wirkte in den vergangenen Monate als eine kleine Narbe auf seinem strahlenden Weltstar-Image nach.
In zahllosen Interviews und aus ihnen übernommenen Zitaten, die dann weltweit wie Werbesprüche politischer Korrektheit zirkulierten, hatte Pistorius immer wieder seinen Status als physisch behindertem Athleten heruntergespielt, ja beinahe geleugnet. Auf der anderen Seite war die Tatsache aber stets offensichtlich (und blieb doch unerwähnt), dass für einen im 400-Meter Halbfinale der Olympiade ausgeschiedenen Läufer ohne Prothesen – und das heißt: ohne Behinderung – das von Oscar Pistorius erreichte Ansehen und das von ihm erlangte Einkommen gänzlich undenkbar gewesen wären. Der Status des gewaltsamen Tods seiner Freundin als Kasus wird nun dadurch unterstrichen, dass Reeva Steenkamp ein Model war (ein mehr oder weniger berühmtes Model zu Lebzeiten, aber das wahrscheinlich weltweit berühmteste Model nach ihrem Ableben). Denn der Begriff des “Models” steht ja für eine Körper-Normalität, die angesichts ihrer Vollkommenheit in scheinende Körper-Normativität umschlägt. Auf den gemeinsamen Photographien präsentierte sich Oscar Pistorius immer wieder als das männliche Äquivalent von Reeve Steenkamps scheinender physischer Normativität.

Gerade in einer Valentines-Nacht, so kann man dann die Geschichte dieses Paars in die bewusste Fiktionalität eines Kasus weiter-imaginieren, musste es eigentlich zu einer Situation kommen, wo jene auratische Äquivalenz nun in drastische und deshalb unerträgliche Differenz umschlug. Gegen diese Art der Differenz war Oscar Pistorius wohl nicht gewappnet, und an ihr könnte der Entwurf seiner Existenz gescheitert sein. Die Anerkennung “mildernder Umstände” zu seinen Gunsten würde er in diesem solchen Fall nicht notwendig verdienen.
Doch seit den Paralympics von London besteht die Hoffnung, dass eines Tages aus der drastischen und unerträglichen Differenz von “normalen” und hybriden Körpern eine andere, eine scheinende und erotisch faszinierende Differenz wird.