Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Was für einen Papst braucht die katholische Kirche (und die Welt)?

Ein römisches Konklave steht an -- und schon werden außerhalb und innerhalb der katholischen Kirche die üblichen Forderungen nach einem "moderneren" Papst laut. Wem wäre mit solch einer Rollen-Besetzung gedient?

Ein eigentümlicher, ja vielleicht einzigartiger Kontrast hat über das vergangene halbe Jahrhundert die aufeinanderfolgenden Wahlen des Oberhaupts der katholischen Kirche gekennzeichnet (und natürlich kürzt die säkulare Formel von der “Wahl des Oberhaupts” in diesem Zusammenhang eine fast grenzenlose theologische und kanonisch-rechtliche Komplexität ab). Dem schönen Konservativismus der in ihrer Grundstruktur nie veränderten Rituale (zum Beispiel: die Regel der Versammlung aller Kardinäle in Rom, ihre Isolation von der Umwelt bis zum entscheidenden Wahlgang, der schwarze und weiße Rauch) steht eine Vielfalt der Temperamente in den Papst-Gestalten gegenüber, welche aller Bilder und Deutungen der Kirche als einer eintönig-verknöcherten, ja arteriosklerotischen Institution spottet. Auf den von der modernen Welt in anscheinend mystischer Distanz abgeschiedenen Pius XII., der doch als ehemaliger Vatikanbotschafter in der Welt der politisch Mächtigen zuhause war, folgte der volksnahe, seinen Intuitionen als Eingebungen Gottes vertrauende Johannes XXIII.; Paul VI. lenkte mit weltoffener Strenge  die Energiewellen des von seinem Vorgänger einberufenen Konzils in die Kanäle und traditionellen Formen der Kirche; nach ihm kamen in Johannes Paul I. und Johannes Paul II. zwei Charismatiker mit traditionalistischen Visionen ihrer Religion, während Benedikt XVI. eben diese theologische Position untermauerte als ein für institutionelle Selbstkritik offener, erster intellektueller Papst seit langer Zeit. Keine von den internationalen Medien beobachtete Wahl ist also — erstaunlicherweise gewiss – ähnlich offen und in ihren Ergebnissen unvorhersehbar wie die Papst-Wahl, und diese Offenheit und Variation steht dann wieder im Kontrast zu der von den außerkirchlichen Öffentlichkeiten seit vielen Jahrzehnten halsstarrig und ganz ohne Modifikation artikulierten Erwartung, ja Forderung, dass der jeweils nächste Papst säkulärer ausgerichtet, ja liberaler sein soll als seine Vorgänger.

Formen, Vorschriften und Perspektiven wie das Zölibat, die enge Assoziation zwischen Sexualität und Fortpflanzung oder auch das Prinzip von der Unfehlbarkeit des Papstes, hört und liest man immer wieder, seien “nicht mehr zeitgemäß.” Gerade dieser sich selbst als fortschrittlich verstehende Ton der Reaktionen ist aber in seiner Beschränktheit und Inflexibilität kaum zu überbieten. Denn er setzt ja voraus, dass es eine absolute Verpflichtung des Zeitgemäß-Seins gebe, der sich das institutionelle und theologische Selbstverständnis der katholischen Kirche bewusst, programmatisch und vor allem: illegitimerweise widersetze. Gewiss, aus den sechziger Jahren, dem Moment des zweiten vatikanischen Konzils, kam der Begriff vom “aggiornamento,” von einer begrenzten Anpassung der Kirche an die jeweilige Gegenwart (“an den Tag”), und es ist auch richtig, dass gar nicht wenige der jahrhundertealten institutionellen Strukturen des Katholizismus nicht prinzipiell von Veränderung und Revision ausgenommen bleiben müssen. Doch grundsätzlich sollen seine Identität und der Anspruch der katholischen Kirche als von Gott gewollter und zugleich Gott auf Erden vertretender Institution gerade darauf beruhen, dass sie sich nicht an den – ja erst seit dem späten achtzehnten Jahrhundert – säkular durchgesetzten Imperativ des historischen Wandels anpasst. Abstrakter und aus der Gegenperspektive formuliert: mit der Forderung, “zeitgemäß” zu sein, kommen der säkular-praktische Geist und das historische Weltbild zu einer Position zusammen, gegen die sich die Kirche seit dem Beginn der Neuzeit definiert, selbst verstanden und ausgeformt hat.

Dabei muss diese Differenz gar nicht immer eine feindlich-polemische Differenz sein, wie es im späten neunzehnten Jahrhundert (zur Zeit des ersten vatikanischen Konzils) der Fall gewesen war. Es ist sehr wohl möglich, den Konservativismus der Kirche als eine Dimension der Komplementarität und des Ausgleichs gegenüber dem Säkularismus zu verstehen. Einen Ansatzpunkt zu gerechtfertigt allgemeiner, politisch-ethischer Kritik der nicht-säkularen kirchlichen Positionen könnte es ja überhaupt nur dann geben, wenn die katholische Kirche in der Lage wäre, allen Menschen auf dem Planeten – oder wenigstens allen Menschen in einer jeweiligen Gesellschaft –  ihre Gesetze und Lebensformen alternativenlos aufzuerlegen. Dies ist jedoch heute nirgends mehr der Fall – und gehört auch nicht zu einem nostalgischen Fundus von Wünschen und Zielen der Kirche. In den allermeisten national-politischen Kontexten, unter denen sie heute agiert, stellt vielmehr bürgerliches Recht die Wahl eines religiösen Lebens überhaupt und einer spezifischen Form von Religiosität in die Verfügung der Individuen.

Gerade unter diesem Vorzeichen ist nun lange behauptet worden, dass sich die katholische Kirche durch ihre – gegenüber den protestantischen Konfessionen viel prononciertere – Distanz zum Säkularismus in eine nachteilige Position gebracht habe. Doch genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wenn man weltweit – und unter bestimmten Prämissen selbst in Europa – die juengsten Entwicklungen in der Demographie von Katholizismus und Protestantismus vergleicht. Denn wer als Bürger in einer säkularisierten Welt und Öffentlichkeit lebt, der braucht eigentlich keine religiöse Institution zur Bestätigung gleichsam und zur Wiederholung des alltäglichen Säkularismus; in diesem Sinn hat ein allzu historisches und allzu säkulares Selbstverständnis den verschiedenen Protestantismen wohl eher geschadet. Attraktiv sind im Gegensatz dazu offenbar gerade eine sich nicht selbst relativierende Identität und die aus ihr erwachsenden ethischen Forderungen — selbst wenn die meisten Katholiken diese nicht mehr detailliert in ihre individuellen Lebensentwürfe aufnehmen. Der Kirche als Institution, könnte man also sagen, wäre mit einem deutlicher säkularen Papst gar nicht gedient.

Aber vielleicht nützte eine sich säkularisierende katholischen Kirche nicht einmal der Welt außerhalb ihrer selbst. Ich möchte die These wagen, dass sich die römische Kirche erst zu einer fast universell angesehenen moralischen Autorität entwickelt hat, seit ihr Konservativismus in Berufung auf Gottes Willen nicht mehr in Kontrast und Polemik gegenüber Säkularismus und Historismus stehen will, das heißt seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Seit dem Pontifikat Johannes’ XXIII. hat die katholische Kirche immer weniger darauf bestanden, bestimmte politisch-ideologische und politisch-nationale Positionen zu stützen oder zu verurteilen. Ihre nicht-säkulare und nicht-historische Identität wurde vielmehr zu einer Basis der allgemeinen Distanzierung gegenüber der politischen Welt. Genau in dieser Distanz hat die römische Kirche eine moralische Legitimität und Autoritäten gewonnen, wie sie ihr vielleicht nie zuvor in ihrer zweitausendjährigen Geschichte zuteil geworden war. Wer außer den Päpsten der vergangenen Jahrzehnte hätte etwa bei einem Besuch Israels den Anti-Semitismus der eigenen Institution und des Christentums generell anklagen können und zugleich Israel wegen seiner Politik gegenüber den Palästinensern kritisiert? Wem sonst gelingt es, sich auf Distanz sowohl zum Sozialismus wie zum Kapitalismus zu halten, ohne dabei selbst ethisch neutral zu sein? Und welche andere Institution hätte es vermocht, eine interne, Jahrhunderte-alte Tradition sexuellen Missbrauchs mit ähnlicher Konsequenz zu verurteilen, zu verfolgen und zu ahnden, wie es die katholische Kirche in der jüngsten Vergangenheit getan hat (einigen elitären Privatschulen in Europa ist dies jedenfalls gerade nicht gelungen)?

Natürlich liegt mir nichts daran, der Kirche irgendeine – historisch gewiss nicht existierende — Position ethischer Überlegenheit zuzuschanzen. Doch ihre (relative neue) politisch neutrale Distanz zum Säkularismus und Historismus hat der Kirche eine Autorität eingetragen, derer die Welt – vielleicht mehr als die Kirche selbst – heute bedarf. Ein stärker säkular agierender Papst, wie ihn soviele Stimmen der internationalen Öffentlichkeit immer wieder fordern, würde bloß über eine Autorität verfügen, die der Stellung des UN-Generalsekretärs vergleichbar wäre. Seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aber haben die Päpste Ansprüche und Motivationen freigesetzt, wie sie die säkulare Welt aus ihren eigenen Prinzipien gar nicht entwickeln und bieten kann — und dass dies heute generell für die christlichen Konfessionen, insbesondere für die katholische gilt, hat gerade ein Philosoph wie Jürgen Habermas in den letzten Jahren immer wieder hervorgehoben, der sich selbst gerne “religiös unmusikalisch” nennt

In diesem Prädikat des “religiös Unmusikalischen” finde auch ich mich – trotz einer lebenslangen Faszination durch Theologie als einer “Philosophie mit intellektuell-argumentativen Hindernissen.” Ich bin Agnostiker und war schon als junger Familienvater, wie man in Deutschland sagt, “aus der Kirche ausgetreten,” um “Kirchensteuer” zu sparen. Doch in mir hat sich eine kulturelle Sympathie für die katholische Kirche erhalten, die in dem Maß wächst, wie sie alle Forderungen nach mehr säkularem Geist ignoriert.