for my favorite artist, the day after her birthday
Für mehrere hundert Millionen Dollar hat meine Universität, an der ich hänge, obwohl ich mich nicht immer mit ihrem Image identifizieren will, mit Spenden, die vor allem aus Kalifornien kamen, hat meine Universität mitten in Silicon Valley eine Konzerthalle für ungefähr tausend Hörer gebaut und im vergangenen Januar eingeweiht, deren Beliebtheit bei ganz verschiedenen Gruppen längst alle Erwartungen übertroffen hat. Dabei lag die Prominenz der Solisten und der Ensembles, die bisher dort gespielt haben, von einigen Eröffnungs-Ausnahmen abgesehen noch gar nicht auf dem für Silicon Valley finanziell leicht möglichen Niveau.
Es gibt jedenfalls, dachte ich ich am vergangenen Sonntagnachmittag, als wir zum ersten Mal bei einem Konzert klassischer Musik in der neuen Bing Hall waren, Anzeichen im Publikum für eine Art von Begeisterung, wie ich sie bisher noch nie gesehen habe – bunte Flecken sozusagen zwischen den noch nicht ganz verwelkten Rüschen bildungsbürgerlicher Konvention, den bedeutungsschweren Mienen der echt Gebildeten und dem Glas Prosecco in der immer zu kurzen Pause. Zum Beispiel sprach einer der Musiker des Streichquartetts (eher unbeholfen als hochkompetent) für die Hörer von seiner besonderen Begeisterung für jedes der vier Stücke auf dem Programm; er und seine Kollegen erlaubten ihren Körpern, sichtbar auf die Musik zu reagieren, die sie uns hören ließen, während der Cellist beinahe laut verschiedene Rhythmen mit seiner Fußbewegung markierte. Nicht zu weit von den alltäglich-bequem gekleideten Musikerin saßen Hörer in Leichtathletik-Hemden, die tief unten den Armen ausgeschnitten waren wie bei einem Marathonlauf; Shorts und Turnschuhe waren gang und gäbe, und selbst in den eher geriatrischen Ballungen des Publikums sah man kaum eine Krawatte oder die Andeutung einer Konzertrobe. Ich wünschte mir, dass dies alles nicht einfach Protestverhalten wäre, aber auch nicht das Bewusstsein, “dass es nun so endlich möglich sei” (wie man “nun auch endlich Rotwein zu einem Forellengericht trinken darf”) – und die Verteilung des Beifalls ließ dann eigentlich das Beste hoffen. Respektvoll schütterer Applaus für die Interpretation eines Stücks von Benjamin Britten am Anfang; derselbe Ton erschöpfter Dankbarkeit für das Streichquartett eines zeitgenössischen Komponisten. Dann plötzlich warme Begeisterung, die wirklich nicht zum Ende kommen wollte, für Mozarts Oboen-Quartett; und zum Schluss eine Beifalls-Explosion mit Knallern schallenden Lachens nach dem dritten Razumovski-Quartett von Beethoven.
Benjamin Britten, dachte ich naiver Konzert-Hörer, das war ein Protokoll des schlechten modernistischen Gewissens vor jeder Harmonie und vor jedem Ansatz eines Rhythmus, in den man sich fallen lassen will – so als müsse es bei der Kunst und ästhetischen Erfahrung vor allem um moralisch gemeintes Verhindern von Bequemlichkeit gehen. Mozart löste, für einen Sekundenbruchteil nur, einen kritisch-historischen Reflex bei mir aus, einen Gedanken wie: “die heile Welt des achtzehnten Jahrhunderts,” und dann verlor ich mich glücklich in den Tonfolgen und Harmonien, in den Wiederholungen mit immer neuen Variationen, wo die schön verhaltene Fülle der Oboen-Stimme zusammenkam mit den Stimmen der drei anderen Instrumente, so dass ich wußte, wie ich mir immer nur diese Stimmen gewünscht hatte, ohne es zu ahnen, immer wieder, immer komplexer bis zu Freudentränen und immer auch, als ob dies alles mein eigener Puls sei.
“Historisch gedacht,” ist es ja erstaunlich und genau das, was wir “klassisch” nennen, dass diese Musik, geschrieben vor mehr als zweihundert Jahren, für Hörer, die den Ton einer Maschine nicht hätten identizifieren und die Funktion eines Tonträgers nicht vorstellen können, dass uns diese Musik aus dem späten achtzehnten Jahrhundert am vergangenen Sonntag in Silicon Valley so traf, aber vielleicht liegt darin gar nicht mehr und nicht weniger als dies: dass etwas richtig ist an dieser Musik (obwohl es so aussehen will, als ob man mit einem solchen Satz all seine intellektuelle Redlichkeit aufs Spiel setzte). Und danach Beethoven, “with lots of craziness,” wie der Violinist sagte, noch viel komplexer als Mozarts Oboe, weniger zart, gegenstrebig manchmal, und gegen Schluss wie das Abheben eines Überschall-Flugzeugs, unendlich beschleunigend, ein Ende also, an dem nichts zuende sein kann, in dem sich nur eine Spannung entlädt – und so lachten tatsächlich nicht wenige Hörer, erschrocken vielleicht und sicher auch erleichtert und erfreut nach dem letzten Takt. Aber darf man lachen, im Ernst: darf man wirklich lachen am Ende eines Beethoven-Quartetts?
Lachen und Weinen haben als Formen des menschlichen Verhaltens über die vergangenen Jahrhunderte erstaunlich viele Philosophen interessiert, und noch erstaunlicher ist es vielleicht, dass sich in ihren Erklärungsversuchen eine deutliche Konvergenz entdecken lässt. Wir lachen oder weinen, wenn es nicht gelingen will, da liegt diese Konvergenz der Einsichten, wenn es nicht gelingen will, uns zu einem Erleben, das heißt: zu einer Wahrnehmung, die vom Bewußtsein registriert wird, in ein Verhältnis der Sinngebung zu setzen. So viel auch in dieser Richtung geschrieben worden ist, Mozarts Quartette, Beethovens Symphonien oder irgendeine andere Musik, sie können für uns einfach nichts “bedeuten,” nichts “darstellen,” sie haben keinen je spezifischen Sinn – als Formen von Musik in je verschiedener Komplexität und mit je verschiedenen Strukturen umgeben sie uns bloß, umgeben uns als sie selbst und nichts sonst, und vielleicht sind die Gefühle, mit denen wir reagieren, das Weinen zum Beispiel und das Lachen am vergangenen Sonntag, Spuren jener Momente, wo wir uns endlich und manchmal gestatten, keinen Sinn mehr zu suchen, nichts identifizieren zu wollen, nichts zu deuten, einfach nur wieder Teil der materiellen Welt zu werden und zu sein, zu der unsere Körper gehören.
Möglicherweise wirkte ihre Musik ganz anders zu Lebzeiten von Mozart oder Beethoven, als der Alltag soviel weniger weniger als heute ein Leben fast ausschließlich des Bewußtseins war, noch nicht (wie das Leben jetzt) ein Leben als Fusion von Bewußtsein und Software, ein Leben, das vor größeren oder kleinen Bildschirmen vergeht. In den Zeiten von Mozart und Beethoven war es noch eine Bedürfnis und eine Utopie, das Leben von der Schwere und Fragilität des Körpers zu befreien, statt den Körper – wie heute — in Wellness-Studios oder auf dem Tennis-Feld wieder zu finden und in unsere Existenz zurückzubringen. Obwohl davon unter Komponisten während der Jahrzehnte vor und nach 1800 kaum die Rede war — vielleicht konnten und wollten ihre Hörer in der Musik jener Zeit noch einen Ausdruck und eine Darstellung all dessen entdecken, was sie im Innersten bewegte.
Wenn wir dann aber die bildende Kunst in der westlichen Kultur seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert verfolgen, dann entdecken wir, wie das ästhetische Verhältnis zur Welt offenbar immer weniger ausschließlich abhing von ihrer Darstellung, immer weniger von der sogenannten “mimetischen” Funktion der Bilder und Skulpturen und immer mehr von jener direkten Berührung und Aktivierung der Sinne, die sich sonst und zugleich immer weiter aus dem Alltag zurückzogen. Hatten die Bilder früher einmal vor allem räumlich und zeitlich fremde Welten vor die Augen ihrer Betrachter gebracht, so ging es schon den romantischen Malern um die Welt aus besonderen (“subjektiven”) Blickwinkeln, dem Impressionismus und dem Kubismus mit wachsender Intensität um die Berührung der Sinne bei der Erfahrung der Welt – bis hin, im frühen zwanzigsten Jahrhundert, zur Schwelle der sogenannten “großen Abstraktion” (auf deutsch kann man sagen: zur Schwelle der “Gegenstandslosigkeit”), wo Bilder eine Wirklichkeit wurden, die allein sie selbst war, statt etwas darzustellen; wo Kunst unmittelbar gegenwärtige Wirklichkeit war, an der sich die Zuschauer existentiell festhalten konnten – festhalten inmitten einer Welt, die sich zunehmend durch vielfache Vermittlungen entfaltet und immer weiter vom Körper entfernt hatte und bis heute entfernt. In dieser Zeit und unter diesen Bedingungen ist die Musik von Pergolesi und Bach, Haydn, Mozart und Beethoven, ohne dass wir dies zugleich verstehen müssen, eine Kathedrale, eine von Gott verlassene Kathedrale wohl, in der unsere verkörperte Existenz jenen für sie richtigen Raum findet, den sie sonst nicht mehr hat. Denn wer heute nach Florenz, nach Bali oder auf die Osterinsel geflogen und dort abgesetzt wird, der muss sich eigentlich exzentrisch fühlen, wenn er Gebäude, Landschaften und Skulpturen unmittelbar, das heisst: anders als durch sein I-Phone erlebt, anders als mimetisch; so wie wir ja auch einen Hang entwickelt haben, uns am liebsten per Skype zu begegnen und durch Museen großer Kunst elektronische Photos schießend zu eilen, von denen wir die meisten nie mehr sehen.
In einer Welt, die uns mehr und mehr zuerst mimetisch, zuerst als Bild gegenwärtig wird, brauchen die Bilder der Künstler nichts mehr darstellen oder ausdrücken; manchmal wollen sie, so kann man manche Werke von Gerhard Richter sehen, gerade jene Bilder sein, die nicht mimetisch fungieren und die Welt nicht darstellen, sondern Welt sind. Deshalb sind in der neuen Alltags-Welt, die wir nur noch mimetisch erleben, ästhetische Momente – auch und vor allem beim Hören und Spielen von Musik – zu einer Modalität geworden, welche unsere physische Beziehung zur Welt der Gegenstände bewahrt oder auch erst wieder findet; eine Modalität, die plötzlich und für den den kurzen Augenblick eines Akkords, für einen Augenblick im konkreten Sinn dieses Worts, die primäre Beziehung zur Welt der Dinge wiederentdeckt und bewahren will.
Noch intensiver als die Musik unserer Gegenwart vielleicht scheinen viele Stücke aus dem Repertoire, das wir “klassisch” nennen, diese Ahnung, diese unsere Existenz grundierende Erinnerung zu eröffnen, wieder Teil einer Welt der Dinge zu werden. Genau das könnte die Intuition, die vorbewusste Intuition der Hörer im ausgeschnittenen Marathon-Hemd sein — die sich zu weinen und zu lachen erlauben, wenn sie Mozart und Beethoven hören.