Selbst wenn Sie ein eingeschworen-exklusiver Biertrinker, ein Nichtalkoholker (erstaunlich übrigens, wie wenig freiwllige Nichtalkoholiker man in einer Gegenwart des boomenden Vegetarismus trifft) oder ein halb bis ganz professioneller Wein-Connaisseur sind, selbst dann kennen Sie – vom Zuschauen wenigstens – das mulmige Gefühl einer kulturellen Mehrheit, aus deren Peinlichkeits-Perspektive ich schreiben will. Noch nie ist ja soviel auswärts gegessen worden wie heute, durchaus auch in Lokalen, die sich für “anspruchsvoll” halten und wie Pilze aus den Baulücken oder durch Räumungsverkäufe freigewordenen Kubikmetern der Innenstädte schießen. Und das Prädikat “anspruchsvoll, verdient sich ein Restaurant, global, kann man sagen, vor allem durch seine Weinkarte. Darauf will ich hinaus, und da genau fängt eben das mulmige Gefühl an.
Denn die meisten Gäste sind, Hand aufs Herz, von den Weinkarten, die ihnen keine Sekunde später als die Speisekarte gereicht werden, ganz und gar überfordert. Der Normalkunde vermag zu unterscheiden zwischen Schaum-, Weiß- und Rotweinen (welches Wissen angesichts des Umfangs vieler Weinkarten allerdings eines eigenen Inhaltsverzeichnisses bedarf, um zur Anwendung zu kommen) — und natürlich auch zwischen den verschiedenen Preisen. Wie der Wein, den ich am Ende auswähle, schmecken wird, das kann ich mir – vage, im besten Fall und als eigentlich begeisterter Weintrinker – höchstens in einem von zehn Fällen vorstellen. Natürlich, ich sollte den Kellner fragen oder gar einen der ordensbeladenen Sommeliers heraufbeschwören. Für oder gegen diese Mutprobe entscheidet sich der Gast je nach Temperament. Die Schüchternen bestellen mit verkniffenen Lippen (und mit der Angst im Hals, den Weinnamen falsch auszusprechen) selbst eine Marke, die sie kennen und immer schon sauer fanden, oder auch, um einen guten Eindruck zu machen, eine teure Sorte — wenn sie sich nicht ohnehin gleich dem Zufall ergeben. Wer Risiko liebt, kann natürlich auch ein Gespräch mit dem Oberkellner oder dem Sommelier beginnen, bei man entweder schweigt und dann keine Chance hat, die sofort einsetzende Suada zum Halten zu bringen — oder redselig von eigenen Weinerlebnissen berichtet (“in Iphofen, wo ich meinen Rotwein kaufe”), mit der kaum zu elimierenden Gefahr, sich bis auf die Knochen zu blamieren. Nichts ist jedenfalls schwerer und mutiger, als sich der ja nicht nur gut gemeinten Empfehlung zur allerteuersten Flasche zu verweigern.
Irgendwann kommt die Flasche dann zum Tisch, womit ueberhaupt erst der zentrale Akt der Wein-Passion anhebt – und ein Abgrund sich öffnet, der jeden mühsam erworbenen sozialen Status verschlingen kann. Der Wein wird dekantiert, das heißt vorsichtig aus der Flasche in ein bauchiges Gefäß gegossen, und weil dies erstaunlich viel Zeit in Anspruch nimmt, ohne dass der Sinn des Rituals jedem Kunden evident ist, kommt schon wieder die Gefahr auf, eine falsche Frage zu stellen. Am schlimmsten wäre es natürlich, darauf zu bestehen, dass der Sommelier den dekantierten Wein sofort ins Glas gießt. Denn damit hätten Sie preisgegeben, dass Sie Ihren teuren Wein nicht atmen lassen wollen und ihn also wirklich nur gewählt haben, um Eindruck zu schinden.
Wer hingegen bis dahin alle Klippen umschifft und noch zehn Minuten Geduld hat, der nähert sich dem rettenden Ziel der Probe im doppelten Sinn des Worts. Endlich wird der kostbare Tropfen (den natürlich seit den Rheinwein-seligen Zeiten von Konrad Adenauer niemand mehr so nennt) eingeschenkt, “wer mag probieren,” sagt der Sommelier ausnahmsweise leutselig, und zu antworten “die Dame!” gilt weniger als ein Zeichen galanter Perfektion denn als strafwürdiges Desinteresse (weil man sich bei jeder Stufe der Zeremonie das Recht verdienen muss, die teure Sorte bestellt zu haben). In den Vereinigten Staaten mehr noch als in Europa, ist es wichtig, zunächst mit leichtem Druck auf das untere Ende des Glases den Wein, als sei man ein wenig ungeduldig, in leicht kreisende Bewegung zu schwenken. Man fasst die Flüssigkeit respektvoll-ernst ins Auge, hebt das Glas unter die Nase, riecht, ohne das Riechen in ein Geräusch umschlagen zu lassen, führt es endlich zum Mund – und nippt. Danach der stille Moment der Reflexion, begleitet von einer verhaltenen Mundbewegung. Schiefgehen kann nicht mehr viel. Jetzt allerdings zu sagen, dass der Wein “korkt,” entspricht einem willfährigen Lösen der Notbremse im ICE – alle kommen aus dem Rhythmus, sind frustriert und können doch erstmal nichts dagegen tun. Peinlicher sind auch hier Ausrufe aus dem Register der Adenauer-Zeit wie “kostbares Tröpfchen” oder, protzig statt lauschig: “ganz vorzüglich” und “Donnerwetter!” Als zulässig gelten allein Semantiken (dieses Plural in ihr Lexikon aufzunehmen, empfehle ich den wahren Weinkennern) des Sublimen – oder beredte Sprachlosigkeit. “Mein Gott,” “nicht zu fassen,” alternativ ein einvernehmliches aber nur leichtes Nicken hin zum Sommelier, die beglückte Sekunde in den Augen der Gattin oder ein Ausdruck fassungslosen Transfiguriert-Seins (das den meisten Gästen eher schwer fällt).
An dieser Stelle ließe sich nun der in der Populär-Soziologie so beliebte “Bewohner eines anderen Sterns” herbeizitieren (oder auch der “gute Wilde” aus dem Zeitalter der Aufklärung), die dieses Ritual befremdlich oder lächerlich fänden angesichts seiner evidenten Dysfunktionalität. Aber das wäre nicht weniger banal als die früher viel gebrauchte Beschreibung des Fußballs als “zweimal elf erwachsene Männer, die einem Ball hinterherrennen.” Rituale, nicht nur Rituale der gesellschaftlichen Distinktion, erscheinen prinzipiell funktionslos außerhalb ihres jeweiligen Kontexts – und deshalb immer potentiell lächerlich. Was das Weinritual zu einem extremen Fall dieser Gattung macht, ist die Asymmetrie zwischen der Komplexität seiner internen Struktur, welche über Jahrhunderte unter Weinkennern entstanden ist, und dem heute zu beobachtenden demographischen Sog einer Partizipation, dem sich aus guten Gründen kaum ein sozial Ehrgeiziger entziehen möchte. Ich weiß von einem jungen Kollegen aus Brasilien, der in einer Favela aufgewachsen war – und sich als Strategie des Erfolgs auf der akademischen Karriereleiter in einem nicht überteuerten Kurs zum Weinkenner ausbilden ließ – mit Erfolg. Seine Option finde ich überzeugender und auch sympathischer als den Fallschirmabsprung eines Opel-Händlers aus Witten, der – ganz ohne alle Konkurrenz, aber “als Allererster” — den Beaujolais Primeur eines Jahrgangs in seine Heimat an der Ruhr bringen wollte. Aber welches unter stets vielen zur Verfügung stehenden Ritualen in einem bestimmten geschichtlichen Moment zum Magneten für sozial Ehrgeizige wird, das scheint nicht bloß auf den ersten Blick zufällig – sondern lässt sich wohl nur in wenigen Fällen überhaupt erklären.
Übel nehme ich den Weinkennern am Ende nur die – wenn man es genau nehmen will: unverantwortliche – Beschreibungssprache, die sie kultivieren. Warum ist eigentlich um Designer-Krawatten, Designer-Kleinstmöbel oder Designer-Schreibgeräte, als Artikel in vergleichbarer Preislage, ein solcher Diskurs nie entstanden, der Adjektive und Substantive in litaneiischer Unendlichkeit reiht, ohne dass sich deren (nach dem Prinzip: je mehr, desto besser) akkumulierte Bedeutungen je zu einer inhaltlichen Konfiguration zusammenfügten und im Ernst mit unseren prinzipiell – aus physiologischen Gruenden eher unterkomplexen – Geschmackseindrücken assoziieren ließen? Hilft irgendjemanden die Rede vom “leicht rauchigen Waldbeeren- und kräftig säuerlichen Kirschengeschmack mit mild verzögertem Abgang”? Sie mag niemandem helfen, aber sie hat ihren Grund. Denn es ist eine weitere Folge der Assymetrie zwischen Wein als einer höchst differenzierten, historisch gewachsenen Kulturtechnik und der überwältigend breiten Partizipation heute, dass eine verwirrende Zahl von Wein-Sorten auf dem Markt sind, unter denen einige – und dagegen ist natürlich nichts einzuwenden — astronomische Preise erzielen. Für einen Wein aber kann sich der Kunde nicht – wie für Krawatten oder Möbel – “auf den ersten Blick” entscheiden. Wenn der Wein-Konsument endlich weiß, worauf er sich eingelassen hat, ist es zum Umtausch zu spät. Die Anbieter sind also zum differenzierenden Beschreiben gezwungen – und ich will gar nicht in Abrede stellen, dass sie selbst all das zu schmecken glauben, wovon sie so wortreich reden und schreiben. Grundsätzlich stellt sich deshalb — wieder einmal — die Frage, ob differenzierte Urteile und Erinnerungen des Schmeckens und des Geschmacks je in Sprache übertragen werden können.
Wir stoßen hier auf ein objektives Dilemma. Goethe zum Beispiel, der zeit seines Lebens gerne Wein trank und deshalb ein Kenner gewesen sein muss, hub zwar oft (nicht immer mit seinem besten Versen) zum Lob des Weins an (“der Frankenwein ist ganz gewiss / ein Vorgeschmack zum Paradies”), blieb aber dabei durchaus unspezifisch. Natürlich, kann man einwenden, er musste ja auch keinen Wein an den Kunden oder Gast bringen. Aber vielleicht sollten wir Wein-Laien einfach darauf verzichten, die jeweils volle Komplexität des Angebots durchsortieren zu wollen — und uns auf die wenigen Unterscheidungen verlassen (und die Namen aus dem Gedächtnis: mein Freund Klaus zieht “1968er güldene Abtsleite” vor), welche uns ohnehin zur Verfügung stehen, zusammen mit dem Urteil der Spezialisten, an die wir diese Wörter und Namen als Bestellung weitergeben. Allzu lange Wort-Kaskaden machen den Geschmack ja taub.
In Santiago de Chile, wo ich diesen Blog schreibe, scheinen die Kellner und Gaeste davon ebenso eine gelassene Ahnung zu haben wie in Lissabon oder Biel. In Witten, Houston und Berlin eher weniger.