Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Kann Stress zu Intensität werden?

Stress-Vermeidung ist zu einem unserer höchsten Werte und zu einer unserer striktesten Verpflichtungen geworden. Nun stellt sich die Frage, ob der Kult dieses Werts existentielle Intensität blockiert.

“Mach Dir aber bitte keinen Stress” — gibt es irgendeinen Satz der deutschen Sprache den man heute öfter hört? Wer ihn gebraucht, unterwirft sich der ebenso strengen wie allgemeinen Verpflichtung, “locker” zu sein so bedingungslos, dass die implizite Spannung zwischen zur Schau gestellter Großzügigkeit und ihrem moralisch-ernsten Appellcharakter leicht zum double bind gerät. Letztlich sollen diese Worte ja bedeuten “Du brauchst Dich nicht zu bemühen,” so als sei jede freiwillige Anstrengung oder gar das, was man früher “Pflichtbewusstsein” nannte, ein unter allen Umständen zu vermeidender Exzess. Stressfrei, wird vorausgesetzt, kann allein der Feierabend sein, und als “die wichtigsten Tage des Jahres” können allein Urlaubstage gelten.

Die uns allen so evidente und gerade deshalb strikt geheim zu haltende Erfahrung, dass opulent zur Verfügung stehende und dann mit Optimierungseffekt durchzuplanende Freizeit sich oft als stressvoll erweist, will ich vorerst in Klammern setzen, um die Frage anzuvisieren, ob die allgegenwärtige Stress-Warnung nicht mittlerweile eine potentielle Dimension glücklichen Lebens verpestet hat – eine Dimension, die Martin Heidegger zum Beispiel in Briefen der zwanziger und dreißiger Jahre gerne – zeittypisch und für heutige Leser etwas peinlich – “Existenzfreude” nannte. Im Vergleich zu jener Zeit sind unsere Ansprüche ans permanente Glück sehr unnachgiebig und die einschlägige Investitions- oder gar Risikobereitschaft minimal geworden. Letzte Woche erst sagte ein Kollege unseren fest vereinbarten Termin unter Verweis auf den Stress ab, welchen ein verregnetes Wochenende, meinte er, über ihn gebracht hatte. Auf der anderen Seite haben Sie alle schon gehört (und vielleicht auch gesagt), dass Stressgefahr der entscheidende Grund ist, um sich einen Kinder-Wunsch zu versagen (oder auf höchstens ein Kind zu reduzieren — dessen Leben dann nach Hubschrauber-Manier beständig zu überwachen und optimieren ist); um gerade nicht das Studienfach zu wählen, für dessen Inhalt man sich leidenschaftich interessiert; oder um ein ehrgeiziges sportliches Ziel aus dem Horizont des Möglichen zu streichen. Ein Leben mit doppelten Ärmelschonern ist in unserer Gegenwart zum Leben der Weisheit mutiert.

Den peinlichen Heidegger-Begriff der “Existenzfreude” als Gegenpol zu solchen Stress-geleiteten Reaktionen will ich nun durch das heute einigermaßen gängige Wort “Intensität” ersetzen und fragen, wie es kommt, dass sich die Furcht vor Stress und die Strategien der Stress-Vermeidung allenthalben so lückenlos vor die Freude an Intensität geschoben haben. Aber was genau meinen wir, wenn wir “Intensität” sagen, und wie unterscheidet sich Intensität von Stress? Anders gesagt: ist eine Einstellung denkbar, die hilft, Stress hinter uns zu lassen und für Intensität offen zu sein? Physikalisch wird Intensität als Kraft pro Raumeinheit definiert, also als ein Aspekt zahlreicher Phänomene, der sich – steigend oder sinkend – ganz auf einer Skala der Quantifizierung erfassen läßt. Dass Intensität in der menschlichen Existenz stets Steigerung bedeutet und deshalb zu einer qualitativen Differenz allenfalls über Quantifizierung werden kann, haben Gilles Deleuze und Félix Guattari vor drei Jahrzehnten in ihrem Buch Mille Plateaux deutlich gemacht. Doch nicht jede Steigerung des Existenzgefühls wird als Intensität erfahren. Man kann sich auf Grund existentieller Steigerung auch überfordert fühlen oder das – möglicherweile für unsere Zeit besonders charakteristische — Gefühl haben, dass eine sich nach Kraft und Geschwindingkeit immer steigernde Bewegung nicht in das Zurücklegen eines Raums umschlägt oder in irgendeine andere messbare Auswirkung. Das genau geschieht ja in der Schluss-Szene von Becketts Godot den beiden Protagonisten, die “sich bewegen, ohne von der Stelle zu kommen.”

Wenn wir von “Intensität” reden, dann muss also die Selbsterfahrung einer existentiellen Steigerung verbunden sein mit der Selbsterfahrung oder Fremderfahrung einer Form von Veränderung. Eigenartigerweise allerdings ist die hier wirksame besondere Form der Selbsterfahrung nicht identisch mit dem, was wir sonst Selbst-Beobachtung oder Selbstreflexivität nennen. Intensität ist kein Messen einer Leistung durch das Bewusstsein. Sie ist, meine ich, das nicht begrifflich, sondern allein quantitativ zu fassende Gefühl einer Steigerung der Körperfunktionen (stärkeres Atmen, größere Muskelspannung, schärferes Sehen) verbunden mit den Intuitionen einer (nicht notwendig linearen) Richtung im Raum und eines (möglicherweise sehr fernen) Endes in der Zeit, welche gemeinsam die Körpersteigerung erst zu einer Form machen. Eben durch diese Formqualität unterscheidet sich Intensität von den Eindrücken des Überfordert-Seins, der leerlaufenden Mobilität oder des Gestresst-Seins. Durch Intensität in diesem Sinn sind die Spieler einer Mannschaft oder die Musiker eines Orchesters untereinander und mit ihrem Publikum verbunden, und das gilt analog auch für einen charismatischen Redner mit seinen Hörern und für jede sexuelle Interaktion, die zu erotischem Erleben wird.

Was kann man tun, damit sich Momente von Intensität einstellen? Ich denke, sie lassen sich vor allem nicht über Intentionen oder aktive Strategien heraufbeschwören. Fast nichts steht Intensität so diametral im Weg wie ein einschlägiger Wille oder gar eine Verpflichtung. Aber es ist andererseits doch möglich, offen zu sein für Steigerungen der Körpergefühle und Körperfunktionen, vielleicht sogar konzentriert und entschlossen, sie aufzunehmen und wirken zu lassen, sobald sie kommen. Dass sie je kommen, lässt sich nie und von niemandem provozieren oder herbeiführen, es könnte immer auch gerade nicht geschehen — so dass Intensität stets und notwendig das Ergebnis eines Ereignisses und seines Umschlagens ist, das Ereignis eines Spürbar-Werdens und sich nach außen-Stülpens eines sonst — von außen — nicht zu beherrschenden oder gar zu steuernden Energie-Potentials.

Vielleicht könnte es eine weitere Entfaltung des von unserer philosophischen Tradition erstaunlich unterbelichteten Phänomens und Begriffs der Intensität ja sogar ermöglichen, der Beantwortung einer Frage näher zu kommen, welche seit der Poetik des Aristoteles die Geister fasziniert hat. Es ist die Frage, wie – ohne sadistische Akzente, muss man freudianisch aufgeklärt hinzufügen – die Erfahrung eines schrecklichen und zerstörenden Schicksals anderer Menschen in der Tragödie zum ästhetischen Genuss werden kann. Eine erste Reaktion macht uns klar, dass das positive Gefühl von Intensität, wie es eine Tragödie auslöst, als rein quantitatives nicht im Konflikt mit dem Verlauf ihrer Handlung stehen muss – einmal ganz abgesehen davon, ob die von Aristoteles zuerst lancierte Vermutung wirklich immer aufgeht, dass die von der Tragödie ausgelösten Reaktionen von Furcht und Schrecken die Zuschauer von ihrer Anfälligkeit gegenüber Furcht und Schrecken befreien.

In der deutschen Literatur hat wohl kein Autor Intensität als eine positive Wirkung von existentieller Steigerung so gesteigert wie Heinrich von Kleist. Von seinen ersten überlieferten Briefen an, die er als Jugendlicher schrieb, schlägt Intensität als eine existentiell positive Dimension immer wieder durch – zum Beispiel in den Beschreibungen vom Überfall einer Postkutsche im deutschen Mittelgebirge oder von den verwahrlosten Geistesgestörten in einem Würzburger Krankenhaus. Später wird diese Simultanität von negativem Schicksal und Intensität, welche sich nie in einem Widerspruch verfängt, spürbar an einigen von Kleists großen Protagonisten: bei Penthesilea etwa, die an ihrer Liebe zu Achill zugrunde geht und doch entschlossen ist, sich der existentiellen Intensität des Liebens und Sterbens ganz zu öffnen; und vor allem bei Michael Kohlhaas, der dem Moment seiner Hinrichtung als Moment des endgültigen Scheiterns mit positiver Intensität entgegenlebt.

In einer solchen Hochstimmung hat Kleist auch seinem Freitod entgegengelebt, gemeinsam mit Henriette Vogel, die bereit war, mit ihm zu sterben – als Augenblick einer selbstzerstörenden Intensität, die durch nichts zu überbieten war und allein deshalb schon endgültig sein musste. Die wenige Stunden vor ihren Toden geschriebenen Liebeslitaneien der beiden zum Sterben Bereiten haben eine bis heute ihre Leser berührende Intensität des Glücks absorbiert, der niemand nachfahren kann.

Und doch gibt es eine Lehre aus dieser extremen Situation: dass nämlich die Möglichkeiten, die positiven Möglichkeiten des menschlichen Lebens versäumt, wer – im extremen Gegensatz zu Henriette Vogel, Heinrich von Kleist und seinen Protagonisten – der Vermeidung schmerzvoller Momente alle Schichten der Existenz unterstellt. In solcher Vermeidung als Lebengesetz liegt eine Logik, die langfristig Stress-Anfälligkeit steigert, ohne je den Ausgleich intensiver Momente in Aussicht zu stellen.