Wer als halbwegs gebildeter Zeitgenosse an Lyrik denkt, an Gedichte oder an Poesie, der erwartet wohl vor allem den Ausdruck “individueller Gefühle,” so ekstatisch “individuell” im typischen Fall, dass sie sich nicht im sozialen Medium der Sprache artikulieren lassen. Ohne es wirklich erklären oder auch nur plausibel machen zu können, glaubt man dann weiter, dass die besonderen, “prosodisch” genannten Formen solcher Texte (Vers, Rhythmus, Reim, Strophe) diese Unmöglichkeit, diesen Schwund des transparenten Ausdrucks ausgleichen können, indem sie Modalitäten von Kommunikation erschließen, welche nicht auf die Dimension des Sinns beschränkt sind.
Für viele Gedichte, die in der westlichen Kultur zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik also, geschrieben worden sind, trifft eine solche Erwartung im großen Ganzen auch zu. Denn das war jene Zeit, in der sich das seit der Renaissance dominierende Selbstbild der Menschen als einem gegenüber der Welt der Dinge exzentrischen “Subjekt” zur “Individualität” steigerte, das heißt: zur einer erlitteten und zugleich zelebrierten Exzentrizität innerhalb der Gesellschaft. Aus Sicht der Individualität schien plausibel, dass die besondere Form-Dimension von Gedichten jener spezifischen – individuellen — Exzentizität zum Ausdruck verhelfen sollte. Historisch langfristig jedoch ist die so zu beschreibende romantische Prämisse des Verstehens von Gedichten viel spezifischer und begrenzter, als man heute allgemein annimmt. Sie hatte eigentlich bis hin zur Zeit um 1800 nie gegolten, und sie steht auch bei den besten Gedichten unserer Gegenwart keinesfalls im Vordergrund.
In der europäischen Tradition setzt Lyrik während des achten und siebten Jahrhunderts vor der Zeitenwende ein als von der Lyra, der Leier, begleiteter Sprechgesang, der sich an die Götter wendet. Und was könnte die Funktion der prosodischen Sprachformen gewesen sein? Sie alle lassen sich alle dem Begriff “Rhythmus” unterordnen. Wenn immer wir von “Rhythmus” sprechen, beziehen wir uns – meist ohne es zu wissen – auf Möglichkeiten, Phänomenen eine stabile Form zu geben, die sich, wie Sprache, nur in Zeitlichkeit, das heißt: in beständiger Veränderung, verwirklichen. Vers, Reim, Strophe nun geben der Sprache Form, indem sie je bestimmte Abfolgen von Klängen in Schleifen der Wiederholung bringen. So unterbrechen sie den alltäglichen Ablauf von Zeit, während dieser zugleich sich fortsetzt. Eine solche Unterbrechung von Zeit schafft in der Geschäftigkeit des Lebens Momente der Konzentration und der Aufmerksamkeit – der Konzentration auf die Götter zum Beispiel. Zugleich suggeriert sie, dass im Stillstand der laufenden Zeit Momente der Vergangenheit oder auch entfernte Gegenstände präsent werden können. Eben deshalb sind Zaubersprüche in allen Kulturen prosodisch gefasst: sie sollen Vergangenes oder Entferntes, zuallererst die Götter, heraufbeschwören und in die Gegenwart bringen.
Am Beginn der antiken Lyrik machten die Gesänge Sapphos, der legendären Priesterin von der Insel Lesbos, Göttinnen und Götter, weibliche Schönheit, aber auch Situationen von Schmerz und Eifersucht gegenwärtig. Ein gutes Jahrhundert später beschworen die Gedichte des Pindar Siege und Sieger bei den athletischen Spielen Griechenlands herauf, zusammen mit den Göttern, welche die Siege – durchaus mit physischer Unterstützung – möglich gemacht haben sollten. Solche Texte waren Medien religiöser Konzentration, zu der ein Potential kollektiver Extase gehörte. Ich bin freilich überzeugt, dass die Geste des Heraufbeschwörens und die Funktion der Vergegenwärtigung nicht nur in der griechischen Antike, sondern in all ihren historischen Kontexten die Lyrik begleitet, ja ausgemacht haben. Was sich geschichtlich veränderte, waren die gesellschaftlichen Situationen des Heraufbeschwörens und die so vergegenwärtigten Objekte.
Nie wohl haben Dichter sexuelles Erleben und seine Sinnlichkeit den Lesern näher gebracht, als es Catull oder Ovid im antiken Rom gelang. Die Minnelyrik des Mittelalters gab höfischen Festen ein Hochgefühl erotischer Spannung, wie es in der Wirklichkeit jener Epoche gar nicht existiert haben mag. Das Inszenieren von Stimmungen, vor allem von Stimmungen, für die es institutionalisierte Erwartungen gab, scheint die dominante Funktion von Gedichten in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit gewesen zu sein. Solche “Gelegenheitsgedichte” zum Lob von Monarchen und Philosophen, zu Ritualen wie Taufe oder Begräbnis, zu aristokratischer Geselligkeit und zum Trinken unter Kumpanen waren eine Stärke des Zeitalters der Aufklärung, wie sie im reduzierten Format von Poesie-Alben (durch die man sich gegenwärtig macht und gegenwäertig hält) oder in Liedern für Geburstagskinder das zwanzigste Jahrhundert erreicht haben. Nur weil nach 1800 und bis heute Lyrik als Ausdruck prekärer Individualität zur Norm und zentralen Erwartung wurde, konnte der Eindruck einer Gegenstrebigkeit zwischen Lyrik und Aufklärung entstehen. Dabei ist das Individualitäts-Paradigma im neunzehnten Jahrhundert bald von einer Steigerung abgelöst worden, die zu unserer Modernität führen sollte. In den Gedichten der “Fleurs du mal” (der “Blumen des Bösen”) von Charles Baudelaire aus dem Jahr 1857 zum Beispiel bannt ein beweglicher Beobachter, der keinen festen Platz mehr in der Gesellschaft hat, die flüchtigen Eindröcke einer sich beschleunigenden Welt.
Seit der Romantik spätestens hatte Lyrik die Musik und ihre Verkörperung durch Rezitation immer weiter hinter sich gelassen, um schließlich in freien Versen, Proagedichten und Bildgedichten auch die Gesten des Heraufbeschwörens und die Funktion des Vergegenwärtigens aufzugeben. Damit schien bis über die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts hinaus – im Sinn einer geschichtlichen “Logik” – ein Endpunkt erreicht zu sein, wo die moderne Lyrik, als Lyrik reduzierter Prosodie, zu einem sprachphilosophsichen Experimentierfeld geworden war – oder alternativ zu einer gutgemeinten Lieblingsform politisch und moralisch erbaulicher Belehrung. Doch entgegen allen – vergangenen – Erwartungen hinsichtlich der Zukunft von Dichtung ist es mittlerweile schon Jahrzehnte her, seit eine mit Begeisterung Prosodie-bewusste und prosodisch elaborierte Lyrik in die Literatur unserer Zeit zurückgekehrt ist, zusammen mit Institutionen und Ritualen lyrischer Rezitation (durch die wohl zuerst die Kultur der späten Sowjetunion in den Jahren ihrer politschen und wirtschaftlichen Agonie von sich reden machte). Inzwischen sind Seminare und Workshops beliebt geworden, welche Techniken zum Schreiben von prosodisch gebauten Gedichten vermitteln – und dies allein wäre in den eineinhalb Jahrhunderten zwischen dem romantischen Paradigma individuellen Ausdrucks und jenem der politischen Gesinnungslyrik kaum vorstellbar gewesen.
Doch ich behaupte nicht, dass diese Rückkehr zum Form-Repertoire der Lyrik und seinen Funktionen ein quantitativ bemerkenswerter Trend unserer Zeit sei. Im Gegenteil: bis heute beeindruckt mich eine 1995, bei der Verleihung des Nobelpreises an den irischen Lyriker Seamus Heaney, beiläufig gelesene Bemerkung (nicht nur ich halte Heaney för den vielleicht bedeutendsten lebenden Gedichtautor), nach der kein Lyriker der Gegenwart allein von den Einnahmen für seine Bücher und für Lesungen leben könnte. Die “Rückkehr zur Lyrik,” wenn man sich auf so eine so gängige Formulierung überhauot einlassen will, ist bemerkenswert wegen der Kompetenz und des Prestiges derer, die sie vollziehen – keinesfalls wegen ihrer Zahl. Richard Rorty, einer der großen philosophischen Autoren des vergangenen Jahrhunderts, sagte in einem Gespräch wenige Wochen vor dem Tod auf die Frage, was er an seinem Leben ändern wollte, wenn er eine zweite Chance bekäme, dass er in einem zweiten Leben mehr Gedichte auswendig lernen würde. Was er denn ausgerechnet Gedichten abgewinnen könne, fragte sein nicht wenig überraschter Gesprächspartner weiter, um die Antwort zu provozieren: “nichts kann man von ihnen lernen, aber sie klingen schön, und deswegen hätte ich sie gerne für mich gehabt.” Doch woher kommt diese neue Lyrik-Begeisterung?
Wer die Zeit aufbringt, sich auf einen — sprachlich ja meist komplexen – lyrischen Text zu konzentrieren, der unterbricht die heute ebenso endlos wie ziellos verlaufende Zeitlichkeit des Alltags. Und ein solcher Ansatz zur Aufmerksamkeit wird beim Lesen oder Rezitieren eines Gedichts zu jener anderen, sozusagen archaischen Aufmerksamkeit, welche zum Aussetzen der fließenden Zeit führt und zum Heraufbeschwören von vorher abwesenden Dingen und Stimmungen. Lyrik als Form ist eine Signatur unserer Gegenwart, weii sie für Momente das erhält und an das erinnert, was dieser Gegenwart am meisten fehlt, nämlich Form, Ruhe, Konzentration und wohl auch Gelassenheit — in einer elektronisch erregten Umwelt von vielfältigen, ziellosen, zentrifugalen Bewegungen ohne Richtung. Lyrik kann ihre Leser noch festhalten in verkörperten Formen, die einst das Wesen menschlicher Existenz waren – aber vieleicht nicht mehr lange bleiben. Sie macht gegenwärtig, was bald unumkehrbare Vergangenheit sein könnte.