Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Was auf dem Spiel stand in Wembley

Das Endspiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München hat weltweit ein ungewöhnliches Interesse geweckt. Welche -- gar nicht spezifisch deutsche -- Faszination liegt in der Rivalität dieser Mannschaften?

Santiago de Chile, wo ich bis Mitte Juni bleibe, befindet sich jetzt im Winter, und über Nacht fällt das Thermometer manchmal in die Nähe des Gefrierpunkts. Die Stimmung auf den Avenidas und in den Cafés könnte kaum verschiedener sein vom europäischen Frühsommer – mit einer heißen Ausnahme: auch hier kommen dieser Tage die meisten Gespräche beim Champions League-Endspiel an, obwohl das Land eigentlich nicht zu den klassischen Fußball-Nationen Südamerikas gehört. Anscheinend geht eine besondere Faszination vom deutschen Finale aus, und selbst beim Schreiben kann sich ein echter BVB-Fan (“echt,” wie in “ächte Liebe,” ist ja sehr dortmunderisch, was oft vergessen wird), ächte Liebe jedenfalls kann und will sich dem authentischen Interesse des tiefen Südens nicht entziehen. Aber was macht die besondere Lebhaftigkeit dieses Interesses aus? Was steht auf dem Spiel? Um das spezifisch Deutsche an der Begegnung, von der im Land von Jürgen Klopp und Jupp Heynckes soviel und in staatstragend-gehobenem (oder gar wissenschaftlichem) Ton gesprochen wird, geht es der südlichen Hemispháre nicht. Kann es überhaupt etwas anderes sein, das die Attraktivität des deutschen Endspiels ausmacht?

Es geht um den Fußball, und dieser Satz, hoffe ich, ist weniger Sepp Herberger-banal, als er zunächst aussieht. Gemeint ist der Fußball als vielfarbiger, intensiver, exuberanter Enthusiasmus, mit dem es im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert wohl kein anderer globaler Enthusiasmus aufnehmen kann. Keinesfalls gemeint sind dagegen der FIFA-Imperialismus, unter dem alle konkurrierenden Begeisterungen verschwinden sollen, gemeint ist nicht der Fußball als “wirtschaftliches Phänomen,” das eigentlich keine Berge versetzt (im Vergleich zur Mode- oder zur Auto-Industrie etwa) und – schon gar nicht – so etwas Verblasenes wie “Sport als Ausdruck kultureller Identität.” Nichts bewegt heute – für kurze eineinhalb Stunden und die Woche davor – soviele Gemüter, soviele Beine, Arme und Stimmen in sovielen Lándern wie ein weltweit übertragenes Fußballspiel. Ich weiß, das klingt wie eine allzu starke Behauptung, doch wer könnte eine Gegenbehauptung aufstellen, ohne Erkenntnisansprüche auf “wahre” oder gar “tiefe Bedeutung” zuhilfe zu nehmen? Dieser Samstag in Wembley ist – ganz empirirsch gesehen – ein Ereignis, bei der die Zukunft des Fußballs als singulärem Enthusiasmus unserer Gegenwart auf dem Spiel steht.

Erstens und vor allem hat die Faszination damit zu tun, dass sich in Borussia Dortmund und Bayern München – mehr als vielleicht je zuvor – zwei ganz verschiedene Typen von Begeisterung zeigen. Warum haben die Bayern in der zuende gehenden Saison soviel besser (nicht nur erfolgreicher) als früher gespielt? An spektakulären neuen Spielern allein kann es nicht gelegen sein, denn die Transfer-Ereignisse waren heuer eher weniger sensationell als sonst (aber deutlicher auf funktionale Ergänzung ausgerichtet). Vor allem hat die Mannschaft eine ausgeglichene und anhaltende Perfektion erreicht. Die Zuverlässigkeit der Abwehr und die Effizienz des Angriffs sind den einschlägigen Idealwerten denkbar nahe gekommen, und daraus ist eine Schönheit des Spiels entstanden, die man — ganz ohne Ironie — “apollinisch” nennen kann. Dagegen hat die Abwehr von Borussia Dortmund ihre im vorausgehenden Meisterjahr ziemlich zuverlässige Stärke verloren. Das Drama von Spielen mit Torlawinen (2012 schon angedeutet in einem 4:4 beim Heimspiel gegen Stuttgart) hat sich mehrfach – zu oft eigentlich – wiederholt. Sieg- oder Ausgleichstore, die in einem – “dionysischen” — Rausch der letzten Spielminuten gelangen (oder verhindert wurden), sind zum Markenzeichen geworden: im Champions League-Viertelfinale gegen Málaga, im Halbfinale gegen Madrid und auch beim Bundeslige-Unentschieden in Wolfsburg. Nichts ist unmöglich für diese Mannschaft, nicht einmal eine peinliche Heimniederlage gegen Hoffenheim zum nationalen Saisonausklang. Wegen dieses Kontrasts liebt man Bayern wie das schönste Model auf dem Laufsteg — und Borussia wie die Tanzstundenfreundin eines ewigen Schlussballs.

Diese beiden Formen enthusiastischer Liebe sind natürlich nicht neu, aber in ihrem archetypischen Gegensatz sehr ansteckend – bis nach Chile, das sich sonst gerne als “Ende der Welt” ansieht. Doch neben dem Ton (“flavor” ist das anglo-amerikanische Wort, das mir hier fehlt) des Fußball-Dramas und der Fußball-Liebe geht es zweitens um die Zukunft einer Fußball-Ästhetik, wie sie derzeit vor allem in Deutschland zu erleben ist (ohne mit einem “Wesen des deutschen Fußballs” zu tun zu haben). Es ist ein Fußball, der das über gut fünf Jahre dominierende Tika-Taka des FC Barcelona und der spanischen Nationalmannschaft herausgefordert hat, das lange Ballhalten mit dem plötzlich tödlichen Pass auf den unvergleichlichen Lionel Messi, ein Fußball, der kollektive athletische Hochform verbindet mit dem Risiko ebenso schneller wie direkter Ball-Stafetten und langer Pässe in Richtungen und auf Ráume, mit denen die andere Mannschaft nicht gerechnet hatte, ein Fußball der Bewegung schließlich, in dem kein Protagonist unersetzlich bleibt. In dieser Hinsicht haben sowohl Borussia Dortmund wie Bayern München – mit je verschiedener Tonalitát eben — ein Versprechen von Schönheit zum Stil werden lassen, das schon minutenweise bei einigen Spielen der deutschen Mannschaft 2010 in Südafrika aufgeschienen war. Sollten die Konkurrenten von Wembley den Limit ihrer – apollinischen und dionysischen – Möglichkeiten erreichen, statt in Vorsicht oder Nervosität zu erstarren, dann wird genau dieser Stil weltweit Resonanz finden und, für die nächsten Jahre jedenfalls, zu einer internationalen Signatur werden, auf die Trainer setzen.

In einer ganz anderen Dimension stehen drittens die Erzähl-Bögen von zwei weiteren Dramen auf dem Spiel, Dramen, die weit über einzelne Spiele und Spielzeiten hinausgehen. Im Gegensatz zu jenen Jahrzehnten, wo sie ein stagnierender “Abonnementsmeister” waren, haben die neuen Bayern einen Bogen dynamischen Fortschritts aufgenommen, welcher sich der Perfektion nähert – und genau innerhalb dieser Logik vielleicht die Grenze des im Fußball Möglichen verschieben wird (andere Motivationen als die so sich fortsetzende Steigerung kann der Schritt von Heynkes zu Guardiola kaum gehabt haben). Eine Niederlage in Wembley würde die Bayern nicht entscheidend zurückwerfen (das ist ja auch nach den Niederlagen von 2010 und 2012 gegen Inter wie Chelsea nicht geschehen), aber sie könnte die Dynamik einer begonnenen Entwicklung erstarren lassen. Dies wáre dann jene Rückkehr zur Langeweile der national ohnehin dominierenden Bayern, welche als Potential (und Kehrseite einer apollinischen Ästhetik) das Spiel dieser Mannschaft immer begleitet. Das entsprechende Potential der Borussia (und das andere Gesicht des dionysischen Rauschs) ist – tatsáchlich — die Tragödie eines sich zur Katastrophe beschleunigenden Zusammenbruchs. Sie steht permanent am Horizont des Dortmunder Spiels und macht die Vermutung schwer abweisbar, dass die Energie jener unvergesslichen Schlussmomente, wo sich das Unmögliche nicht aufgrund einer Entwicklung sondern im Rausch ereignet, dass solche Energie erst auf der Flucht vor drohenden Tragödien frei wird. Zusammenbrüche hat es in der Geschichte von Borussia Dortmund immer wieder gegeben, mit der größten Fallhöhe nach dem Champions League-Gewinn von 1997. Zwischen weniger dramatischen Amplituden ist die Geschichte des Erzrivalen Schalke 04 nach einem ähnlichen Rhythmus verlaufen. Vielleicht muss die Frage nach den Gründen für solche Affinitäten unbeantwortet bleiben (die üblichen soziologischen Ansátze finde ich jedenfalls kaum überzeugend). Erstaunlich genug ist ja schon, dass genau auf dieser Ebene bestimmte Unterschiede über Generationen hinaus — und also sehr nachhaltig — zur Identität verschiedener Clubs gehört haben.

Viertens geht es am Samstag um die Zukunft von zwei sehr unterschiedlichen Modalitäten des Zuschauens. Im Beben der gelben Wand auf der Dortmunder Südtribüne können Fans dem Traum vom Aufgehen in einem kollektiven Körper, zu dem auch ihre Mannschaft gehört, denkbar nahe kommen. Ihr Rhythmus und ihre Stimmung geben selbst Pay TV-Übertragungen aus Dortmund einen Schuss von realer Präsenz. Und man überzieht wohl den bestehenden Gegensatz nicht über die Maßen mit der Intuition, dass in der Münchner Allianz-Arena umgekehrt live-Ereignisse von einer Dynamik intelligenter Distanz durchschossen werden. Gewiss, die Polarität dieser beiden Formen des Zuschauens existiert schon lange, schon seit jenen Zeiten im dritten und im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhundert wenigstens, wo sich das Ende der live-Faszination unter dem Druck immer längerer Fußball-Sendezeiten abzuzeichnen schien. Die damals totgesagte live-Faszination hat freilich nicht bloss überlebt, sondern ein starkes Comeback durchlaufen, und auf dem Spiel steht mittlerweile, ob sich die beiden Möglichkeiten weiter auseinanderentwickeln werden, und ob es am Ende zur Dominanz der einen oder der anderen kommt. Hintergrund der vierten Faszination und Frage ist der Gegensatz zwischen zwei grundsátzlich gegebenen Reaktionen auf eine sich allein im Bewusstsein vollziehende Alltagswelt, die immer dominanter geworden sind in unserer Welt elektronischer Medien. Im Stadion sein, als Teil der Zuschauer-Präsenz, ist Kompensation für ein immer abstrakter und distanzierter werdendes Leben — was umgekehrt die Möglichkeit einer wachsenden Annährung von live-Ereignissen an medienvermittelte Ereignisse keinesfalls ausschließt.

Gefragt habe ich mich auch, ob – Hand aufs Herz – all diese Fragen nicht bei jedem wichtigen Fußballspiel, ja bei jedem sportlichen Großereignis anstehen und nur immer wieder anders beantwortet werden. Als ein Potential sind sie natürlich stets gegeben, aber ich habe den Eindruck, dass Fußball-Fans weltweit den eigentlich kaum zu steigernden Kontrast zwischen den Konfigurationen von Bayern München und Borussia Dortmund spezifisch faszinierend finden. Samstagnachmittag kurz vor drei werde ich in einem der japanischen Restaurants von Santiago das Finale sehen und unter keinen Umständen zufrieden sein, wenn nicht Borussia Dortmund gewinnt. Dass es dabei um ein ein “deutsches Endspiel” geht, interessiert mich nicht einmal am Rande – denn wie sollte mir dies über eine mögliche Niederlage von Borussia Dortmund hinweghelfen?