Vor zwei Wochen schrieb mir ein besonders hochgestellter, trotzdem befreundeter und nur etwas weniger betagter Kollege aus Deutschland, um mit den allerbesten Absichten Trost zu spenden. Es gebe “ein Leben danach,” und überhaupt sei ja die Verabschiedung aus unserem Beruf gar nicht so einschneidend wie bei Chirurgen oder Richtern zum Beispiel. Schließlich – der Kollege nutzte die ganze Palette von Motiven einschlägigen Zuspruchs – schließlich sei es ja durchaus legitim und an der Zeit, einen Gang zurückzuschalten [die Worte “im Alter” vermied er]. Und das war nur ein — verbal besonders reichhaltiger — Fall unter vielen. Denn auf einen “bevorstehenden großen Tag” wollen mich derzeit wohl die Hälfte der zwischen deutschem Morgen und deutschem Abend ankommenden Mails einstimmen. Ich bin nicht wirklich überrascht: wer einmal Beamter war, kann wohl nie vergessen, dass die “Vollendung des fünfundsechzigsten Lebenjahres,” wie es in der Amtssprache heißt, trotz aller einschlägigen Sonderregelungen weiterhin die nationale Schwelle zum Altenteil mit absolutem Anspruch markiert. Außerdem stecke ich mitten in einer komplizierten bürokratischen Prozedur für angehende Senioren, die den Beamtenstand verlassen, aber dennoch auf die Auszahlung einer — vom eifersüchtig-beleidigten Staat auf groteskes Niveau heruntergestuften — Rente nicht verzichtet haben.
Sonst [mit Ausnahme dieser Rentenberechnung] habe ich keinerlei Anlass zu berechtigter Klage. Einerseits hat die Arbeitnehmer der Vereingten Staaten, zu denen ich gehöre, ein Beschluss des Obersten Gerichtshofs von allen institutionell auferlegten Altergrenzen befreit, und andererseits weiß ich es zu schätzen, wie mich die gutgemeinten Trostworte aus Deutschland an eine Ästhetik erinnern, die dem Leben Formen gibt. Denn in einer Gegenwart, wo es zur selbstgewählten Regel geworden ist, beständig sein “Leben zu ändern,” um mit Rilke und Sloterdijk zu reden, wo die Sequenz von Ausbildungen, Berufen und Abschnittspartnern [alle im Plural!] kein Ende mehr hat, sollte man sich durchaus über die Möglichkeit freuen, auf Jahrzehnte der Arbeit zurück- und auf einen Herbst der Freizeit vorausblicken zu können. Um nichts anderes scheint es den trostspendenden Mails zu gehen. Anders gesagt: im ersten Anlauf erweist sich die Frage nach dem “richtigen” Moment der Pensionierung als ein Luxusproblem, weil sie sich ja nur denen stellt, welche die Wahl haben. Darin liegt ein ehemaliges Privileg, das nun dabei ist, zum Anspruch zu werden, denn aus wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Gründen sind während der vergangenen Jahrzehnte immer mehr Personen in seinen Genuss gekommen. Und wie es mit Privilegien so geht: eigentlich kann einem niemand helfen bei der individuellen Wahl des Pensionierungszeitpunkts.
Ganz anders stellt sich die Lage aus der Perspektive jener Institutionen dar, welche die Auswirkungen des Privilegs abzufedern haben – so anders, dass man sich fragen kann, ob das “richtige” Problem des Pensionierungsalters erst hier einsetzt. Etwa mit dem Dilemma der Universität in Kalifornien, an der ich unterrichte. Da es sich um eine private Universität handelt, sind erstens die Gehaltsunterschiede zwischen den Dozenten desselben akademischen Status – Lehr-leistungsbezogen, heißt es – viel größer als bei staatlichen Bildungssystemen. Da zweitens die Altersversorgung in den Vereinigten Staaten weitgehend von persönlicher Initiative und Investition abhängt, erscheint unmittelbar plausibel, was auch tatsächlich der Fall ist: fast alle Dozenten mit geringeren Einkommen stehen aus Versorgungsgründen unter einem Druck, ihre Pensionierung lange – wenn nicht für immer – aufzuschieben. Da man nun drittens (und davon lässt sich bei uns leichter sprechen als zum Beispiel in Deutschland) davon ausgehen kann, dass im Durchschnitt die Lehre der Dozenten mit den geringsten Einkommen über Jahrzehnte am schlechtsten bewertet worden ist, sind anspruchsvolle Universitäten mit hohen Studiengebühren gezwungen, eine für die Qualität ihres Angebots fatale Logik zu durchbrechen. Stanford belohnt deshalb Emeritierungen vor dem siebzigsten Geburtstag mit zwei außer der Reihe gezahlten Jahresgehältern. Für mich hat dieses Angebot – neben seinem finanziellen Gehalt – in angenehmer Weise die aggressive Komplexität der Entscheidung über den Emeritierungs-Zeitpunkt reduziert, wie sie sich aus einer Umwelt ohne bindende Pensionsschwelle ergibt. Ich gebe ein Privileg auf, das mich wohl langfristig nervös gemacht hätte – und lasse mir diesen Schritt vergolden, während alle Lasten der Lösung vom Universitätshaushalt zu tragen sind.
Außerdem kann man sich – bei guter Stimmung und am Sonntagmorgen zumindest — zugute halten, dass ein solcher Schritt beiträgt zur Freisetzung von institutionellem und intellektuellem Raum für Kollegen der nachfolgenden Generationen. Sähe allerdings die demographische Situation der Vereinigten Staaten so aus wie in den meisten Gesellschaften der Europäischen Union, dann stellte sich die Gegenfrage, nämlich ob es den geburtenschwachen Generationen unserer Kinder und Enkel zuzumuten ist, den Unterhalt heute noch durchaus arbeitsfähiger, aber schon aus dem wirtschaftlichen Prozess abgezogener Mittsechziger — möglicherweise auf Jahrzehnte — zu bestreiten. Natürlich wird nur den wenigsten von uns Alten die Spannung zwischen dem Wert der Räumung von Arbeitsplätzen und dem Wert eines fortgesetzten Beitrags zur Volkswirtschaft wirklich zum existentiellen – das heißt: zum persönlichen — Dilemma. Man redet in dieser Generation graugewordener Sandkastenrevolutionäre zwar gerne (und tendenziell immer zuviel) von “Ethik” und “Moral,” doch wenn sich ein Dilemma stellt, so scheint dies – in Abwandlung eines französischen Sprichworts – immer nur das “Dilemma der anderen” zu sein.
Worauf ich hinaus will, ist ein überraschender Eindruck von Paradoxie. Entscheidungen über das richtige Pensionsalter sind – nicht prinzipiell, aber unter den gegenwärtigen demographischen und wirtschaftlichen Bedingungen — zugleich immer zu einfach und immer zu schwer. Auf individueller Ebene sind sie für viele von uns nicht nur einfach, sondern tatsächlich zu einfach, weil aus der Vielfalt möglicher Lösungen die belastende Komplexität von Beliebigkeit zu werden droht. Auf institutioneller Ebene hingegen – und das heißt: aus der Perspektive von Politikern und Gesetzgebern – fallen Entscheidiungen nicht nur schwer, sondern zu schwer, weil der objektive Widerspruch zwischen dem Ziel, Arbeitsplätze zu schaffen, und dem Ziel, eine wirtschaftliche Überlastung zukünftiger Generationen zu vermeiden, bis auf weiteres nicht aufhebbar ist.
Vorerst letzte Volte des Problems: im streng logischen Sinn handelt es sich dabei bloß um den Eindruck einer Paradoxie. Eine wirkliche Paradoxie, so wird der Begriff seit Aristoteles definiert, liegt nur dann vor, wenn Positionen und ihre Gegen-Positionen innerhalb desselben Bezugssystems auftauchen. Was aber die Frage nach dem “richtigen Pensionalter” angeht, so gehört die diagnostizierte “Beliebigkeit” zur Privatsphäre (wahrscheinlich zur Privatsphäre einer Mehrheit von Personen meiner Generation), während ausschließlich Politiker mit der objektiven “Unmöglichkeit” einer Lösung konfrontiert sind. Ein Dilemma innerhalb der Konstellation von Paradoxie erlebt also allein, wer – in “staatsbürgerlichem Bewusstsein” — seine private Entscheidung mit der gesellschaftlichen Lage zu vermitteln sucht. Aber sind wir nicht alle angehalten, uns genau um diese Vermittlung zu bemühen? Etwas beschämt will ich zugeben, dass ich – außerhalb von Oberseminaren – ganz gut damit lebe, solche [“ethisch motivierten”] Vermittlungs-Verpflichtungen einzuklammern. Sollte es meinem eingangs erwähnten – hochgestellten — Freund in Deutschland darum gegangen sein, genau dies – durch seine tröstende Teilnahme – zu verändern?