Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

“Sex ist auch nicht mehr das…”

So etwas wie eine "Normalisierung" von Sex hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vollzogen. Liegt darin ein Verlust an existentieller Intensitaet? Oder handelt es sich um einen institutionellen Schritt individueller Emanzipation?

Was könnte peinlicher sein, als diesen Satz vervollständigt zu sehen, noch dazu aus den Fingern eines politisch nicht ganz standfesten Alt-Achtundsechzigers oder Baby-Boomers? Diese Peinlichkeit will ich niemandem zumuten – nicht einmal mir selbst. Anders gesagt: wenn der erwartbare Relativsatz je hinzukäme, dann sollte es in dem entstehenden ganzen Satz nicht etwa um eine kulturelle Klage gehen oder um existentielles Sodbrennen, sondern tatsächlich darum, dass sich etwas verändert hat am Sex [“historisch” sozusagen], etwas, das man nicht ohne weiteres auf Begriffe bringen kann. Vielleicht ist “Stellenwert” das richtige Wort für die Perspektive, um die es mir geht. Etwa in dem Sinn, dass vor zwanzig Jahren, wenn jemand von der “zweitwichtigsten Sache im Leben” oder von dem “zweitgrößten Vergnügen sprach,” immer unterstellt war, allein Sex könne die virtuelle erste Stelle einnehmen, während ein zwanzigjähriger Gesprächspartner im entsprechenden Milieu heute durchaus auch auf “Gesundheit” tippen könnte, auf “Jazz,” auf “Weihnachten” oder auf “Radfahren.” Sex, das ist der Eindruck, von dem ich ausgehe, liegt mittlerweile für Jung und Alt viel weniger als früher an einem übergeordneten Fluchtpunkt der Erfahrungsdimensionen.

Implizit bestätigt diese Beobachtung eine Position und These des großen französischen Historikers Michel Foucault, die vor einem kurzen halben Jahrhundert für viel Aufregung sorgte. Es war die These, dass sich die Menschheit [oder wenigstens doch die westliche Kultur] entgegen einer bis dahin kaum hinterfragten Meinung nicht auf einem Weg wachsender sexueller Selbstbefreiung oder “Emanzipation” befand. Historisch variabel, schrieb Foucault, sei nicht so sehr der Grad von Freiheit oder Intensität in der sexuellen Praxis, sondern vor allem die Regeln, nach denen man über Sex sprechen könne. So wurde denkbar, dass wir derzeit einfach nur nach anderen Regeln und mit einem anderen Repertoire von Tönen über Sex kommunizieren, ohne dass sich die Praxis entsprechend verändert hätte. Sehr schnell ist diese Konzeption zu der unter Intellektuellen favorisierten Denkweise über Sex aufgestiegen, welche inzwischen den Glauben an eine fortschreitende “sexuelle Emanzipation” weitgehend ersetzt hat.

Was Sex über Jahrtausende an variierende, aber durchgängig strikte Regeln band, war seine Untrennbarkeit von der Funktion der Reproduktion und in diesem Kontext auch die Untrennbarkeit von Interessen der weiteren Familie [vor allem, jedoch nicht auschließlich ihrer männlichen Mitglieder]. Um die – wie ein lateinisches Sprichwort sagte: “stets ungewisse” – Vaterschaft [und von ihr abhängige Erb- und Besitzverhältnisse] identifizierbar zu halten und um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu minimieren, waren dem Alltags-Sex innerhalb der Monogamie als Institution enge, oft religiös legitimierte Grenzen gesetzt, mit in ihrer Strenge stets asymmetrisch auf die Geschlechter verteilten Sanktionsmöglichkeiten. Sex außerhalb dieser Grundstruktur war die je verschiedene Privilegien voraussetzende Ausnahme auf verschiedenen Symbolebenen: durchgängig galt das für Prostitution, die man ja nicht zufällig wegen ihrer ökonomischen Voraussetzung so gerne mit etwas vertrockneter Ironie “das älteste Gewerbe der Menschheit” nennt; Knabenliebe war an vielen kulturellen Orten der klassischen Antike ein Privileg wohlhabender Männer im Erwachsenenalter; und seit dem elften Jahrhundert begann die mittelalterliche Aristokratie ein Ideal allein um der Erotik willen existierender Liebe, das mit Ehe nicht vereinbar sein sollte, als Standesanspruch und Privileg gegen den Totalitätsanspruch kirchlicher Moralkontrolle zu kehren.

In einem 1939 veröffentlichten, noch heute in seiner ganzen gelehrten Komplexität [und trotz einiger inzwischen prekär gewordenen Aspekte] sehr lesenswerten Buch mit dem Titel “L’amour en Occident” hat der westschweizerische Philosoph Denis de Rougement gezeigt, wie dieses mittelalterlich-aristokratische Ideal zur dominanten Norm der Liebe in den westlichen Kulturen wurde. Zentral ist erstens die anhand des Tristan-Stoffes entwickelte Einsicht, dass solche “Liebe” in ihrem Ursprungskontext, das heißt vor dem Hintergrund der Monogamie als Institution, die Unmöglichkeit ihres dauernden Bestehens impliziert und deshalb mit Leiden assoziiert wird, das zur Leidenschaft wird [Rougement geht so weit, Liebe mit dem Tod als existentiellem Horizont zu verbinden]. Zweitens ist es historisch wahrscheinlich, dass Liebe als Leidenschaft gerade deshalb in den nachmittelalterlichen Jahrhunderten über Medien wie die Poesie und das Theater zum erfahrungsprägenden Ideal und zur Norm wurde, weil es für sie keinen Rahmen institutioneller Normalität gab. Drittens schließlich kam es in den frühbürgerlichen Gesellschaften um 1800 zu einer – historisch gesehen: paradoxalen – Fusion von Ehe als Institution und Liebe als Leidenschaft, aus der die Erwartung hervorging, dass sich die Ausnahme einer leidenschaftlich ekstatischen Beziehung zur Dauerbeziehung – und tatsächlich: zum institutionellen Ort der Reproduktion — entwickeln müsste. Es war der Ort, an dem die animalische Energie des menschlichen Lebens – mit unvermeidlich tragischen Konsequenzen – der Kultur unterworfen war.

Was Denis de Rougement an diesem Punkt der historischen Darstellung unterstellt, hat Niklas Luhmann später in seinem Buch “Liebe als Passion” soziologisch ausbuchstabiert: jene paradoxale Erwartung hat die Institution der bürgerlichen Ehe in eine langanhaltende Situation der Überforderung geführt. Gerade ihre Dauerkrise als Syndrom aus Leidenschaft und Stetigkeit aber scheint zum einen den Normativitäts- und Exklusivitätsanspruch der bürgerlichen Ehe nur verschärft zu haben, was erklären mag, warum sich Homophobie gerade im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zu einem historischen Kulminationspunkt steigerte. Zum anderen kann dieses Krisen- und Tragödienpotential als Kontext wohl erklären, warum Sex – als die außerhab der Institution verbotene und innerhalb der Institution unmögliche Intensität – zu jener existentiell konkurrenzlos faszinierenden, in der Tat einmaligen Dimension wurde, an die sich ältere Generationen heute mit verschiedenen Graden von Nostalgie erinnern.

Aus der Perspektive von Rougement und Luhmann zeichnet sich also die Möglichkeit einer Geschichte von Sex ab, die weder auf das banal gewordene Versprechen fortschreitender Emanzipation noch auf die bloße Variation von Konventionen der Kommunikation [im Sinne von Foucault] setzt – und vor allem vermittelbar ist mit dem Eindruck eines nun plötzlich spürbar veränderten existentiellen Stellenwerts von Sex. Denn auf allen Stufen ihrer geschichtlichen Transformation war ja für “Liebe als Leidenschaft” – für die “westliche Form der Liebe” — die an Reproduktion gebundene Institution der Ehe ausschlaggebend, als Kontrast und später als Bezugspunkt einer paradoxalen Fusion. Deren bis vor kurzem unvordenkliche Voraussetzung aber, die Untrennbarkeit von Reproduktion und Sex, hat sich im vergangenen halben Jahrhundert fortschreitend gelockert und wird möglicherweise in einer nahen Zukunft aus durchaus rationalen medizinischen Gründen nahezu aufgehoben werden. Man könnte es so formulieren: Sex ist zunehmend von der Funktion [und von der Bedrohung] der Reproduktion entlastet worden; das gilt – mit anderen Konsequenzen – auch für die Institution der Ehe, die so primär oder ausschließlich zur langfristigen Partnerschaft zwischen zwei Individuen wird; und schließlich hat sich unter diesen Voraussetzungen auch das Verhältnis von Sex und Ehe als auf Dauer gestellter Partnerschaft verändert. Ob Sex und Ehe verbunden werden sollen, ist heute weitgehend der individuellen Entscheidung überlassen: in den europäischen Gesellschaften zumal hat sich der traditionell einschlägige Druck auf ein Minimum reduziert.

Dass die Folgen dieser säkularen Veränderung vorerst “unabsehbar” zu nennen sind, versteht sich. Zu ihnen gehört natürlich die neue weitgehende Funktionsäquivalenz zwischen verschiedengeschlechtlichen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, der sich die Rechtssysteme in vielen Ländern bereits angepasst haben. Daneben steht eine ebenfalls neue Gelassenheit im Hinblick auf Sex als existentielle Dimension. Es ist gar keine Pointe mehr zu sagen, das Sex heute weniger herausgehoben erscheint unter vielfachen – und immer neu entdeckten — Möglichkeiten, den Körper als Quelle intensiven Erlebens zu nutzen: in verschiedenen Formen praktizierten Sports etwa oder in einer neuen Ästhetik der Gastronomie. Man kann dies alles als Effekt von Entlastung schätzen und – auf Umwegen sozusagen – auf der traditionellen Denkschiene von Emanzipation und Fortschritt abbuchen.

Müssen solche Auswirkungen der veränderten Sex-Situation für jene Generationen selbstverständlich sein, die in ihre Emergenz hineingeboren sind? Oder werden sie – wie die romantisch Gestimmten unter uns Alten — Liebe als Privileg, Ekstase und Leidenschaft vermissen, obwohl sie gar keine solchen Erinnerungen haben können? Vor zwei oder drei Jahrzehnten fand die Prognose weite Resonanz, dass eine Renaissance von erotischer Enthaltsamkeit als sozialem Wert bevorstehe. Sie hat sich nicht bewahrheitet. Dennoch bleibt vorstellbar, dass eines Tages neue Formen von Zugewandtheit zum Vorschein kommen, innerhalb derer Sex nicht mehr die immer auch bedrohliche Schicht von “Animalität” in der menschlichen Existenz ist, sondern eine Möglichkeit, sich gemeinsam und in Ausschließlichkeit auf Momente ohne die Kontrolle des Bewusstseins einzulassen.

An die Stelle von Leidenschaft im wörtlichen Sinn träte dann Sex als Gelassenheit im wörtlichen Sinn und als eine neue ästhetische Form der Existenz. Auch davon kann ein Baby-Boomer träumen.