Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

“Zigeuner”!

Dass das Wort "Zigeuner" zu vermeiden und durch "Sinti" und "Roma" zu ersetzen ist, versteht sich inzwischen. Aber was wissen wir über sie? Warum bleiben sie Zielscheibe von Aggressionen -- und von Faszination?

Dieses Wort, “Zigeuner,” sollte man (wie seine Äquivalente in anderen Sprachen, “gypsy” zum Beispiel oder “gitano”) aus guten Gründen vermeiden, soviel steht fest – und soviel an Respekt hat sich inwischen auch eingespielt. Entscheidend ist dabei ein seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlicher, wenn auch nicht flächendeckender Mehrheits-Wille der so bezeichneten sozialen und ethnischen Gruppen, “Roma” oder (auch und vor allem in Deutschland) “Sinti” genannt zu werden, weil an den Namen “Zigeuner” eine Schreckensgeschichte von Vorurteilen, Verfolgungen und Genoziden gebunden ist, die in Gebieten unter nationalsozialistischer Herrschaft ihren bisherigen Höhepunkt erlangte.

Eine solche kollektive Reaktion ist ernst zu nehmen und einzulösen, auch wenn sie sich nicht selbstverständlich ergibt – in erstaunlich vielen historischen Situationen sind ja gerade Feindesnamen zu Selbstbezeichnungen geworden. Bemerkenswert finde ich immerhin, mit welch eigenartiger Inbrunst sich die meisten europäischen Gebildeten diese Umstellung im Vokabular zu eigen gemacht haben. Die Vielfalt der leicht verfügbaren Informationen über einschlägige Etymologien, semantische Felder und morphologische Varianten ist so dicht, dass der Eindruck entsteht, man glaube mit dem Namenswechsel das historische Leiden der Roma und Sinti ungeschehen machen und sich einer Schuld entledigen zu können. Gegen diese unscharfe Erlösungs-Illusion will ich das Wort “Zigeuner” setzen, von dem nicht nur Vorurteile und ihre fatalen physischen Folgen konnotiert werden, sondern auch eine zu ihnen gehörende “Zigeuner”-Faszination (besonders in den Gedanken und Reden von “feuriger Zigeunermusik” – wie sie in Deutschland ausgerechnet während der dreißiger und vierziger Jahre sehr beliebt war).

Wie wenig wir gebildeten Bewohner der globalen Welt — über den obligatorischen Sprachwechsel, die Tradition der Verfolgungen und die Assoziation mit dem “Feuer der Gefühle” hinaus — über die Roma wissen, ist im eigentlichen Sinn beschämend – zumal wenn man dieses “Wissen” etwa mit dem hochkomplexen Profil der jüdischen Kultur vergleicht und dabei in Rechnung stellt, dass demographische Schätzungen für die beiden Gruppen weltweit bei etwa fünfzehn Millionen konvergieren. Gewiss ist dieses unterbelichtete Bild der Roma nicht ausschließlich eine Folge von Vorurteil und Desinteresse, sondern mag auch zu tun haben mit ihrer eigenen Nonchanlance gegenüber expliziten kulturellen Selbstbeschreibungen und programmatischer kultureller Kohärenz (daneben sicher auch mit meiner eigenen, wahrscheinlich typischen Perspektive, in der die “Zigeuner”-Faszination nie durch systematische Lektüren oder gar Untersuchungen saturiert wurde – obwohl es dafür seit 2011 ein auf literarische Quellen konzentriertes Buch von Klaus-Michael Bogdal gibt: “Europa erfindet die Zigeuner”).

Das problemlos zugängliche Wissen jedenfalls ist eigenartig vage und spärlich. So liegen Thesen zur Zahl der von den Nationalsozialisten ermordeten Roma tatsächlich zwischen unter Hunderttausend und anderthalb Millionen. Wenigstens haben jüngere genetische Untersuchungen bestätigen können, dass ihre Vorfahren vor etwa fünfzehnhundert Jahren eine Migration aus der nordindisch-pakistanischen Region nach Westen begannen (die von mehr als der Hälfte der Roma im privaten Leben bis in unsere Gegenwart benutzte indo-europäische Sprache ist ein Erbe dieser Herkunft). Aus dem frühen fünfzehnten Jahrhundert stammen dann die ersten Quellen für Berührungen zwischen “Zigeunern” und den mitteleuropäischen Kulturen, welche zwischen aggressiver Abgrenzung und leidenschaftlichem Interesse changieren (so gibt es etwa mythische Erzählungen von einem Kaiser, der die Roma als Musiker und Artisten umworben und nach Europa eingeladen haben soll). Die kollektive Bewegung setzte sich seit dem neunzehnten Jahrhundert über den Atlantik fort. Heute leben über eine Million Roma in den Vereinigten Staaten und etwa achthunderttausend in Brasilien, doch osteuropäische Nationen und Territorien (vor allem Bulgarien, Rumänien und Ungarn) sind die wichtigsten Orte ihrer Geschichte geworden — und bis heute geblieben.

Was die Beschreibung einer Form oder einer Identität der Roma-Kultur so schwierig macht, ist die duchgängige Fähigkeit, in diesen Gebieten je dominante soziale Gebräuche und Religionen bis zu einem bestimmten Grad zu assimilieren. Gleichsam “unter” solchen übernommenen Schichten liegt jedoch als Permanenz eine Betonung des Lebens in Großfamilien, mit ausgeprägten Rollen männlicher Autorität, zu denen Frauen, sofern sie Mütter sind, im Alter aufschließen können. Diese Strukturen werden verdichtet durch markante Unterscheidungen zwischen der “Reinheit” und “Unreinheit” von Körperzuständen (aber auch von Tieren und Dingen), durch eine selbstverstandliche Kohärenz der Familien über viele Generationen, durch eine nicht ubiquitäre, aber doch deutliche Tendenz zur Mobilität (die anders als bei sogenannten “Nomadenvölkern” nicht bestimmten Wegen und Rhythmen folgt) und schließlich durch die Dominanz von “Gesundheit” und “Glück” als Werten über die Dimensionen von Leistung oder Wissen. Jüngere Statistiken aus Osteuropa belegen (trotz individueller Ausnahmen) ein deutliches Desinteresse von Roma-Familien an der Schulbildung ihrer Kinder, deren Ausgleich die Vermittlung von handwerklichen Fertigkeiten und performativen, vor allem musikalischen Kompetenzen ist.

Auf Grund der hier deutlich werdenden Divergenz zwischen den Existenz- und Identitätsformen der Roma und jenen der längst globalen “westlichen” Kulturen überrascht es nicht, dass sich nur wenige von ihnen über die Jahrhunderte der Oszillation zwischen wechselseitiger Abgrenzung und Symbiose einen Namen machen oder gar Ruhm erwerben konnten in der Öffentlichkeit der anderen – und zugleich eigenen – Welt. Keiner unter diesen wenigen hatte die Aura von Django Reinhardt, dem großen und für viele unvergleichlichen Gitarren-Solisten, jene Aura, die wie der zärtliche Hauch einer fernen Inspiration über Woody Allens wunderbarem Film “Sweet and Lowdown” liegt. Django Reinhardt, der 1910 im wallonischen Belgien auf die Welt gekommen war und 1953 vor seinem Haus in Fontainebleau bei Paris nach einem Hirnschlag zusammenbrach und starb, hatte nie gelernt, Noten zu lesen oder zu schreiben. Doch er beeindruckte bedeutende Jazzmusiker wie Duke Ellington und wurde in den vierziger Jahren zu Konzerten in die Vereinigten Staaten eingeladen — ohne die Chancen auf eine Karriere und den damit verbundenen Reichtum zu nutzen. Wie er in dem von der Wehrmacht besetzten Paris den Menschenjägern der “Endlösungs-”Strategie entgangen ist, obwohl mehrere Fluchtversuche in die Schweiz misslangen, weiß bis heute niemand. Mit achtzehn Jahren hatte Djano Reinhardt bei einem Brand des Wagens, in dem er mit seiner jungen Frau lebte, beinahe das Leben verloren. Zwei Finger der linken Hand blieben für immer gelähmt, und er brauchte mehrere Jahre, bis er wieder in Bars und Jazzclubs auftreten konnte. Dabei erfand Django Reinhardt eine singuläre Technik, die Gitarre mit Daumen, Mittelfinger und Zeigefinger zu spielen. Seine Soli wurden — und sind bis heute — atemberaubend, auch für Hörer (wie mich), denen die Kompetenz fehlt, sie im filigranen Detail zu schätzen – und diese Soli machen Django Reinhardt unvergleichlich präsent. Der Impuls musikalischer Inspiration hat lange in seiner Familie weitergelebt.

Was der Grund für die im Wort “Zigeuner” gebündelte Ambivalenz zwischen Zerstörungswut und Faszination ist, beantworteten Django Reinhardts Musik, sein Leben und seine Gegenwart deutlicher als alle soziologischen Thesen und Spekulationen. Denn in ihnen scheinen Möglichkeiten auf, welche am Rand des Triumphmarsches von Modernität und Aufklärung eingeklammert worden sind: eine mobile Freiheit gegenüber den durch Staatlichkeit durchgesetzten Normalisierungen; ein Können und ein Fühlen, die nicht auf Wissen (oder Noten) abgelegt werden müssen; eine Unabhängigkeit gegenüber den akkumulierenden Effekten von Leistung wie gegenüber dem Willen, sich vom Schicksal zu emanzipieren; und vor allem wohl die Projektion einer Fülle von Glück, wie sie die Roma selbst nicht erleben, weil sich die eigene Form der Existenz für sie nie zum Gegenstand einer Sehnsucht verflüchtigt hat.

2006 starb Drafi Deutscher, einer der populären Schlagersänger meiner Teenagerzeit, an Herzversagen. Mit dem Hit “Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht” war er 1965 bekannt geworden. Auf dem Web findet man eine kurz vor seinem Tod eingespielte Version, in die immer wieder – etwas hämisch – eingeblendet wird: “seine drei Ehen zerbrachen.” Das ist es genau: die Spannung zwischen der Unmöglichkeit und dem Traum von einer existentiellen Gewissheit und Fülle, die nicht vernünftig sein kann oder auch nur sein will. Um zu irritieren und zu faszinieren, muss diese Gewissheit gar nicht so erhaben sein wie Django Reinhardts Soli. Drafi Deutscher war natürlich Sinto.