Nur einmal verirrte sich die Weltgeschichte nach Niihau, auf die hundertachtzig Quadratkilometer große, nordwestlichste unter den bewohnten Inseln des hawaiianischen Archipels – und es war eine Notlandung. Auf der Rückkehr vom Angriff auf Pearl Harbor am 9. Dezember 1941, bei dem seine Maschine mehrfach von der amerikanischen Flakabwehr getroffen wurde, folgte Schigenori Nischikaischi, ein einundzwanzigjähriger japanischer Pilot, der Instruktion des Kommandos, die Insel Niihau anzufliegen, welche irrtümlich als unbewohnt identifiziert worden war. Die damals etwa zweihundert Bewohner von Niihau wussten nichts von der vorausgehenden Bombardierung Pearl Harbors und empfingen Nischikaischi mit den traditionellen Gesten polynesischer Gastlichkeit. In den folgenden Tagen jedoch entwickelte sich eine Spannung zunächst aufgestauter Gewalt zwischen einigen Hawaiianern, die der Fremde mit seiner Pistole bedrohnt hatte, und einer japanischen Siedler-Familie, die den Piloten beschützen wollte. Knapp eine Woche später erschlug die Frau eines der Hawaiianer, auf die er geschossen hatte, Nischikaischi mit einem Stein. Der hawaiianische Japaner, der den Piloten aufgenommen hatte, nahm sich das Leben, während dessen Frau, obwohl sie nicht an dem gewaltsamen Aktionen und Reaktionen beteiligt war, bis zum Ende des Weltkriegs in Haft gehalten wurde. Einige Historiker sehen in diesem “Niihau-Zwischenfall” und seiner zeitgenössischen Interpretation den Ursprung für die Deportationen und für die Diskriminierung, denen amerikanische Bürger japanischer Herkunft während der folgenden dreieinhalb Jahre ausgesetzt sein sollten.
Nicht nur dass Niihau bewohnt war, entging dem japanischen Kommando, sondern auch sein Status als “verbotene Insel,” die selbst friedlichen Besuchern prinzipiell nicht zugänglich war — und ist. Man sieht sie im Abstand von etwa zwanzig Kilometern auf der linken Seite bei der schnellen Bootsfahrt über den Pazifik zur Felsenküste von Kauai, einer größeren Insel, auf der Szenen vieler berühmter Hollywood-Filme gedreht worden sind, unter anderem “Jurassic Park.” Rechts, noch auf Kauai, liegt ein Sperrgebiet der U.S. Navy mit Rampen für Abwehrraketen (allein in Nordkorea heißen nicht alle Raketen “Abwehrraketen”). Aber warum ist Niihau eine “verbotene Insel”?
Dies hat nur über mehrfache Ebenen der Vermittung mit der Raketenabwehr, aber alles mit der Geschichte der Insel zu tun. Im Jahr 1864 wurde sie für zehntausend Gold-Dollars von dem hawaiianischen König Kamehameha V. an Elizabeth Sinclair verkauft, die wohlhabende Witwe des Royal Navy-Kapitäns Francis W. Sinclair, der dem Herzog von Wellington bei einem Unwetter auf der Rückkehr nach der Schlacht von Waterloo das Leben gerettet hatte. Um 1864 sollen auf Niihau an die dreihundertfünfzig Menschen gelebt haben (heute sind es etwas über hundertfünfzig) und zwanzigtausend Schafe. Doch bald erwies sich, dass die landwirtschaftliche Nutzung der Insel wegen immer wieder einsetzender Dürreperioden nicht einträglich war. Stattdessen fassten die Nachkommen von Elizabeth Sinclair wohl schon sehr früh den (inzwischen von den aufeinanderfolgenden Generationen immer deutlicher zur privaten Ideologie gesteigerten) Beschluss, auf Niihau eine Reihe von bedrohten Tiergattungen und Pfanzenarten, aber auch die Kultur der Eingeborenen zu bewahren. Seit Hawaii 1959 zum fünfzigsten amerikanischen Bundesstaat wurde, sind diese Einwohner natürlich auch Bürger der Vereinigten Staaten, doch als Allein-Besitzer behalten sich die Mitglieder der Familie Robsinson vor, den Zugang zu Niihau konsequent zu blockieren. Bezahlte Ausnahmen werden nur für Einsatzübungen der Navy gewährt und manchmal für Jagdgruppen. Von den dabei entstehenden Einnahmen bestreiten die Robinsons seit 1991, seit der Schließung der einzigen Farm auf der Insel, alle infrastrukturellen Kosten für den Lebensunterhalt und die Krankenversorgung der Inselbewohner – ganz nach Besitzer-Gutdünken.
So ist Niihau – auch wenn anscheinend niemand davon sprechen möchte – zu einem privat betriebenen Menschen-Reservat geworden. Medizinische Hilfe für die Einwohner wird, wie gesagt, von den Besitzern der Insel bezahlt. Es soll sogar eine vom Staat Hawaii unterhaltene Schule auf der Insel geben, doch da die schulpflichtigen Kinder auch auf Kauai am Unterricht teilnehmen dürfen, hat man den Eindruck, dass dieser Aspekt des Lebens eher wie eine ihre Authentizität bedrohende Komponente angesehen – und deshalb kaum ernstgenommen — wird. Ähnlich geht es mit dem Fernsehen, dessen Sendungen auf der Insel nicht zu empfangen sind (die wenigen dort vorhandenen Fernsehgerate werden mit Sonnenenergie betrieben und allein zum Abspielen von Videofilmen benutzt). Auch fließendes Wasser steht den Bewohnern von Niihau nicht zu Verfügung.
In gelegentlichen Interviewa und öffentlichen Erklärungen hat der heute zweiundziebzigjährige Keith Robinson, der sich heute den Besitz von Niihau mit seinem Bruder Bruce teilt, immer wieder betont, dass der Erhalt eines ähnlichen Reservats (er gebraucht tatsächlich das Wort “reserve”) unter anderen, eben nicht privaten Bedingungen dem amerikanischen Steuerzahler Kosten in zweistelliger Millionenhöhe pro Jahr verursachen würde. Dabei ist wohl impliziert, dass der eigentliche Wert der “Verbotenen Insel” in den dort erhaltenen Pflanzen- und Tierarten liegt, die gefährdet und also durch zusätzliche Maßnahmen zu schützen wären, wenn die Bewohner der Insel in Kontakt zur heutigen Zivilsation, einschließlich ihrer Technologien stünden. Zugleich hält sich das Gerücht, dass der Staat Hawaii als Vertreter der amerikanischen Bundesregierung den Robinsons eine Milliarde Dollar für den Verkauf der Insel geboten hat – wobei, nehme ich an, militärstrategische Gründe ausschlagend gewesen sein müssen.
Doch die Brüder Keith und Bruce beharren auf ihrem durch amerikanisches Gesetz offenbar nicht zu brechenden Recht auf den Privatbesitz von Niihau. Und wer sollte sich daran stoßen? Gewiss, es wäre denkbar, die “Verbotene Insel” der Weltöffentlichkeit als einen menschenrechtlichen Skandalfall zu präsentieren. Denn offenbar fragt dort niemand die – im wörtlichen Sinn – “Eingeborenen,” ob sie denn genau so leben wollen, wie schon ihre Vorfahren seit mindestens anderthalb Jahrhunderten gelebt haben. Aber keine staatliche Stelle fragt ja auch in Ingolstadt oder Rostock geborene Kinder, ob sie wirklich da – und bei ihren Eltern – aufwachsen wollen. Immerhin haben die Bewohner Niihaus als amerikanische Bürger die Möglichkeit, an allen staatlichen Wahlen teilzunehmen, und machen von diesem Recht nur etwas weniger Gebrauch als der Durchschnittsamerikaner – übrigens immer mit eklantanten Mehrheitsergebnissen für die republikanischen Kandidaten. Letztlich gibt Niihau also kaum Gelegenheit zu moralischer Entrüstung und menschenrechtlichem Protest, aber sehr wohl Anlass, über ökologische Positionen im Grenzwert-Bereich nachzudenken.
Sollte es Menschen-Reservate überhaupt geben dürfen? Wem kann am Erleben und an der Bewahrung einer “Authentizität” gelegen sein, die nur durch Maßnahmen der Isolation gegenüber der global gewordenen Kultur unserer Gegenwart aufrecht zu halten ist? Vor allem: kann der Wert eines Naturreservats die – hier ja tatsächlich gegebene — Existenz eines Menschenreservats rechtfertigen? Und wem ist damit gedient, dass die auf Niihau erhaltenen Pflanzen- und Tierarten weiterleben, wenn niemand außer den hundertfünfzig Bewohnern der Insel sie sehen kann? Haben die Insel-Einwohner daran selbst ein Interesse? Und ist menschliches Interesse überhaupt die einzig mögliche Rechtfertigung für ökologische Erhaltungsbemühungen? Sollten die Antworten auf all diese Fragen negativ sein, dann provozierten sie nur die weitere Frage, nämlich ob sich Menschen denn eigentlich – gegen ihre eigenen spontanen Interessen und Bedürfnisse – zu Interessenvertretern der Natur und ihrer Erhaltung machen können und sollten. Auf die Spitze getrieben mündete eine solche Denkbewegung in die Empfehlung, dass Menschen als evolotionärer Ausnahme- und Störfall an ihrer eigenen Elimination aus dem Kosmos arbeiten sollten. Warum nicht? In diesem Gedanken steckt ja auch ein eigenartig tröstlicher Horizont der Erlösung – von uns selbst.
Oder bedarf die Natur vielleicht menschlicher Hilfe gar nicht, um sich von den Menschen zu befreien? Falls wir uns an diese Frage und den in ihr artikulierten Gedanken gewöhnen, könnten wir vielleicht etwas ökologisch gelassener werden.