Natürlich sollte ein vorbildlicher Intellektueller, falls es den überhaupt geben kann, die Themen und Fragen, über die er schreibt, nicht von Schätzungen über potentielle Leserzahlen abhängig machen, denn mit einer so konsequenten Anpassung an den Lesergeschmack, ginge ja vorab jede Möglichkeit verloren, verändernd Einfluss zunehmen. Wenn ich mich für diesen Blog zu einer radikalen Strategie der Leser-Maximierung entschlösse, dann müsste ich nur jede Woche meinen (im Rollstuhl lebenden) Freund Klaus Birnstiel um einen Text über Sex und Behinderung bitten, weil nun schon beinahe zwei Jahre lang kein anderes Thema konsistent soviele Leser gefunden hat wie seine Gastbeitraege ueber „Sex und Behinderung“ – und gewiss kommt hinzu, dass Birnstiels Prosa aussergewöhnlich angenehm zu lesen ist (er ist übrigens Wissenschaftlicher Assistent für Germanistik an der Universität Basel). Vor allem aber enthalten seine Texte zu diesem Thema ein Versprechen authentischer Unmittelbarkeit.
Was kann nun die Faszination des Themas „Sex und Behinderung“ für die überwältigende Leser-Mehrheit der Nicht-Behinderten sein? Gewiss, auf individueller Ebene wird man mit unendlichen Variationen eines sozialpolitisch fortschrittlich wirkenden Engagements für die Behinderten rechnen. Aber selbst wer solchen Antworten trauen wollte, hätte noch nicht erklärt, von wo die Begierde kommt, mit den auf den ersten Blick ästhetisch ja kaum anziehenden physischen und psychischen Details von Sex und Behinderung vertraut zu werden. Das Repertoire spontan denkbarer, meist freudianisch angehauchter Lösungen des Problems will ich uns ersparen – vor allem weil ich einen Text von Klaus Birnstiel vorzustellen habe, der genau diese Frage auf zwei Ebenen und aus je verschiedenen Perspektiven in den Blick bringt. Der Text gehört zu den Vorarbeiten eines einschlägigen Buchs und geht selbst, das ist die „zweite Ebene,“ auf die 1898 von Thomas Mann zum ersten Mal veröffentlichte Erzaehlung „Der kleine Herr Friedemann“ ein, in der es um die Begierde eines – wie man früher sagte – „verwachsenen“ Mannes geht. Birnstiel interessiert sich sowohl für die historische Besonderheit dieses fiktionalen Falls aus dem späten neunzehnten Jahrhundert als auch für die im Hinblick auf Leserfaszination zentrale Frage nach der Konstitution der spezifischen Attraktivität eines Textes mit diesem Thema. Hier ist sein Essay, ein schönes Beispiel für die Transparenz und intellektuelle Provokation, zu der Literaturwissenschaft im besten Fall fähig ist.
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„Die Amme hatte die Schuld.“ So deutlich, so wenig korrekt und so rücksichtslos erklärt der erste Satz von Thomas Manns Erzählung „Der kleine Herr Friedemann“ die schwere Behinderung ihres Titelhelden. „Er war nicht schön, der kleine Johannes, und wie er so, mit seiner spitzen und hohen Brust, seinem weit ausladenden Rücken und seinen viel zu langen, mageren Armen auf dem Schemel hockte und mit einem behenden Eifer seine Nüsse knackte, bot er einen höchst seltsamen Anblick. Seine Hände und Füße aber waren zartgeformt und schmal, und er hatte große, rehbraune Augen, einen weichgeschnittenen Mund und feines, lichtbraunes Haar. Obgleich sein Gesicht so jämmerlich zwischen den Schultern saß, war es doch beinahe schön zu nennen.“ Die Amme, dem Alkohol übermäßig zugetan und folgerichtig pflichtvergessen, hatte den kleinen Johannes fallen lassen kurz nach der Geburt. Seine zwergenhaft verwachsene Gestalt ist die Spätfolge dieses Unglücks. Über knapp vierzig Seiten verfolgt Mann den Lebensweg dieses vom Schicksal Geschlagenen. An der Unmöglichkeit seines behinderten Begehrens schließlich lässt er ihn sterben.
Behinderte Liebe, behinderter Sex ist in den vergangenen Jahren beinahe zu einem Modethema des Kulturbetriebs geworden. Filme wie „Ziemlich beste Freunde,“ „The Sessions“ und andere fragen nach der Körperlichkeit der Liebe im Angesicht von Deformation und physiologischer Unzulänglichkeit. Einiges davon ist berührend, anderes hart am Kitsch, wieder anderes harmlos bis zur Ärgerlichkeit. Dass aber die Sexualität behinderter Menschen die breitere, nicht-behinderte Öffentlichkeit interessiert, ist kein exklusives Phänomen des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Seien es die frivolen Krüppeldarstellungen Pieter Breughels des Älteren, seien es die Verwachsenen, Verdrehten und Verworrenen aus E.T.A. Hoffmanns schauerlich romantischen Erzählungen: Kunst, die zwischenmenschliche, körperliche Interaktionsmagie befragt, zieht immer wieder behindertes Begehren heran, um dem Begehren an sich auf die Schliche seines In-der-Welt-seins zu kommen.
Die bürgerlichen Zurichtungen von Sexualität und Behinderung beschreibt Thomas Mann auf dem Höhepunkt der Belle Epoque in besonders eindringlicher Weise. Die Lebensgeschichte Johannes Friedemanns wird dabei zunächst zu den narrativ unverzichtbaren Stationen des Bildungsroman-Modells zusammengerafft. Kindheit, Jugend, aufkommender Sex und die Sperrigkeit behinderter Körperlichkeit werden so zum Einsatzpunkt einer individuellen Pathologie des bürgerlichen Zeitalters: „Es kam die Zeit, wo er sie auf dem Schulhofe oft von gewissen Erlebnissen sprechen hörte; aufmerksam und mit großen Augen lauschte er, wie sie von ihren Schwärmereien für dies oder jenes kleine Mädchen redeten, und schwieg dazu. Diese Dinge, sagte er sich, von denen die Anderen ersichtlich ganz erfüllt waren, gehörten zu denen, für die er sich nicht eignete, wie Turnen und Ballwerfen.“ Den ersten Kuss, den das beschwärmte Mädchen von einem anderen Knaben empfängt, beobachtet Friedemann verstohlen – und reagiert mit dem unumstößlichen Entschluss einer Entsagung auf Lebenszeit: „‚Gut,‘ sagte er zu sich, ‚das ist zu Ende. Ich will mich niemals wieder um dies alles bekümmern. Den anderen gewährt es Glück und Freude, mir aber vermag es immer nur Gram und Leid zu bringen. Ich bin fertig damit. Es ist für mich abgethan. Nie wieder. –‘“ Der pathetischen Aufgabe erotischer Hoffnungen aber kommt eine neue, eine zweite Subjektwerdung entgegen: Friedemann wird zum Künstler. „Der Entschluß that ihm wohl. Er verzichtete, verzichtete auf immer. Er ging nach Hause und nahm ein Buch zur Hand oder spielte Violine, was er trotz seiner verwachsenen Brust erlernt hatte.“
Friedemann begibt sich auf den Weg kultureller „Bildung“, übt sich in der Musik und besucht das Theater, ist „unterrichtet über die neueren Erscheinungen des In- und Auslandes“ – und verfeinert seinen Geschmack in literarischen und anderen Genussfragen so sehr, dass man beinahe sagen konnte, „dass er ein Epikuräer war.“ Friedemanns Kunstfrömmigkeit entfaltet Thomas Mann als authentischen Ausdruck einer subjektiv vollständig gerechtfertigten inneren Entwicklung. In den Worten der zeitgleich aufkommenden Psychoanalyse ist sie bloße Kompensation, Ersatzbefriedigung für ein nicht zu erfüllendes Begehren. Manns Erzählstimme aber hält an der Gültigkeit dieses kleinen Glücks fest: „Ist nicht das Leben an sich etwas Gutes, gleichviel, ob es sich nun so für uns gestaltet, dass man es »glücklich« nennt? Johannes Friedemann fühlte das, und er liebte das Leben. Niemand versteht, mit welcher innigen Sorgfalt er, der auf das größte Glück, das es uns zu bieten vermag, Verzicht geleistet hatte, die Freuden, die ihm zugänglich waren, zu genießen wusste. Ein Spaziergang zur Frühlingszeit draußen in den Anlagen vor der Stadt, der Duft einer Blume, der Gesang eines Vogels – konnte man für solche Dinge nicht dankbar sein?“ Selbst seine „S e h n s u c h t“ – in Manns Novelle ist sie gesperrt gesetzt, und unterstreicht damit noch typographisch ihr gedehntes Sich-Verzehren – kann Friedemann erfolgreich in seine versöhnte Welterfahrung integrieren, und so weist der Text denn auch die unverständige Außenwahrnehmung der „Anderen“ mit wenigen Sätzen ab: „Das wussten die Leute wohl nicht, die ihn auf der Straße mit jener mitleidig freundlichen Art begrüßten, an die er von jeher gewöhnt war. Sie wussten nicht, daß dieser unglückliche Krüppel, der da mit seiner putzigen Wichtigkeit in hellem Überzieher und blankem Cylinder – er war seltsamerweise ein wenig eitel – durch die Straßen marschierte, das Leben zärtlich liebte, das ihm sanft dahinfloss, ohne große Affekte, aber erfüllt von einem stillen und zarten Glück, das er sich zu schaffen wusste.“
Friedemanns ästhetischer Selbstgenuss wird erst erschüttert, als mit der jungen Frau des Oberstlieutenants von Rinnlingen („‚ein prächtig konservierter Vierziger‘“, notiert Manns Erzähler), Gerda, erschütternde Sitten Einzug in die Kleinstadt halten. Gerda von Rinnlingen raucht, reitet und verhält sich überhaupt burschikos, sehr zum Missfallen der ortsansässigen Honoratiorengattinen, von denen es heißt, dass sie „geradeheraus nicht einverstanden“ waren „mit dem Sein und Wesen Gerdas von Rinnlingen.“ „Frau Rechtsanwalt Hagenström“ bemerkt insbesondere die befremdliche Wirkung der Dame auf Männer: „Sehen Sie, sie ist durchaus nicht hässlich, man könnte sie sogar hübsch finden: und dennoch entbehrt sie jedes weiblichen Reizes, und ihrem Blick, ihrem Lachen, ihren Bewegungen fehlt alles, was Männer lieben. Sie ist nicht kokett, und ich bin, Gott weiß es, die letzte, die das nicht lobenswert fände; aber darf eine so junge Frau – sie ist vierundzwanzig Jahre alt – die natürliche anmutige Anziehungskraft … vollkommen vermissen lassen? Liebste, ich bin nicht zungenfertig, aber ich weiß, was ich meine. Unsere Herren sind jetzt noch wie vor den Kopf geschlagen: Sie werden sehen, dass sie sich nach ein paar Wochen gänzlich dégoutiert von ihr abwenden …“. Ein solches Geschöpf jedenfalls scheint wie gemacht, den erotischen Ungrund des kleinen Herrn Friedemann nachhaltig zu erschüttern. Ein erstes Aufeinandertreffen Friedemanns mit Gerda muss stumm bleiben.
Eine bald darauf folgende Begegnung in der Opernloge aber malt Mann kunstgemäß aus: „Als die Ouvertüre begann und Frau von Rinnlingen sich über die Brüstung beugte, ließ Herr Friedemann einen raschen, hastigen Seitenblick über sie hingleiten. Sie trug eine helle Gesellschaftstoilette und war, als die einzige der anwesenden Damen, sogar ein wenig dekolletiert. Ihre Ärmel waren sehr weit und bauschig, und die weißen Handschuhe reichten bis an die Ellenbogen. Ihre Gestalt hatte heute etwas Üppiges, was neulich, als sie die weite Jacke trug, nicht bemerkbar gewesen war; ihr Busen hob und senkte sich voll und langsam, und der Knoten des rotblonden Haares fiel tief und schwer in den Nacken. Die Geigen sangen, die Posaunen schmetterten darein, Telramund fiel, im Orchester herrschte allgemeiner Jubel, und der kleine Herr Friedemann saß unbeweglich, blass und still, den Kopf tief zwischen den Schultern, einen Zeigefinger am Munde und die andere Hand im Aufschlage seines Rockes.“ Die uneingelöst bleibende, nur angedeutete sexuelle Epiphanie, die auf Friedemann zukommt, stürzt ihn zunächst in einen „Zustand von Schwindel, Trunkenheit, Sehnsucht und Qual“, der für seine ästhetische Lebensweise nicht folgenlos bleiben kann.
Mit Gerda tritt das Begehren wieder ein in Friedemanns Welt, und für den surreal gedehnten Augenblick einer Woche schwankt er zwischen Erblühen und Verwelken, Hoffnung und Verzweiflung, anämisch wie ein Onanist: „seine Wangen waren eingefallen, seine geröteten und dunkel umschatteten Augen zeigten einen unsäglich traurigen Schimmer, und es sah aus, als sei seine Gestalt verkrüppelter als je“. Auf einer Soiree des Ehepaars von Rinnlingen, im Garten, am Wasser, kommt es schließlich zum intensiven Moment eines Geständnisses von Liebe und ihrer grausam notwendigen Verkennung. Die Liebesrede Johannes Friedemanns versinkt in Schluchzen und Selbstanklage, Kniefall und Tränen. Gedemütigt bis zur Vernichtung geht Friedemann ins Wasser, und kriechend nimmt er sich das Leben: „Auf dem Bauche schob er sich noch weiter vorwärts, erhob den Oberkörper und ließ ihn ins Wasser fallen. Er hob den Kopf nicht wieder; nicht einmal die Beine, die am Ufer lagen, bewegte er mehr. Bei dem Aufklatschen des Wassers waren die Grillen einen Augenblick verstummt. Nun setzte ihr Zirpen wieder ein, der Park rauschte leise auf, und durch die lange Allee herunter klang gedämpftes Lachen.“
In der ihm eigenen Lakonie hat Thomas Mann über vierzig Jahre später den Geschehens- und Ideenzusammenhang der Erzählung in einem Vortrag „On Myself“ im amerikanischen Exil an der Princeton University auf den Punkt gebracht: „Die Hauptfigur ist ein von der Natur stiefmütterlich behandelter Mensch, der sich auf eine klug-sanfte, friedlich-philosophische Art mit seinem Schicksal abzufinden weiß und sein Leben ganz auf Ruhe, Kontemplation und Frieden abgestimmt hat. Die Erscheinung einer merkwürdig schönen und dabei kalten und grausamen Frau bedeutet den Einbruch der Leidenschaft in dieses behütete Leben, die den ganzen Bau umstürzt und den stillen Helden selbst vernichtet.“ Manns prägnante Selbstkommentierung sieht von einer tiefen Sinnzuschreibung ab – und leistet, strikt an der Textoberfläche verbleibend, doch eben eine solche. Mindestens vier wesentliche Begriffe umkreist sie, „Natur“, „Schicksal“, „Leidenschaft“ und ‚Vernichtung‘. Friedemann, als „von der Natur stiefmütterlich behandelter Mensch“, wird in der Erzählung von Anfang an als Objekt wie Subjekt eben jener Spaltung von Körper und Geist geschildert, welche am Beginn menschlicher Selbsterfahrung der Neuzeit steht.
Diese Spaltung, welche das „Schicksal“ ihm auferlegt, reicht viel tiefer als ein psychoanalytisches Vokabular von ‚Ich-Spaltung‘, ‚Verdrängung‘, ‚Kompensation‘ oder ähnlichem ausleuchten kann. Einmal in der Welt, ist die Trennung von „res cogitans“ und „res extensa“ nicht mehr zu heilen. Sexualität aber ist der Name eben dieses Versprechens der Heilung, dieser Verheißung von Ganzheit, und wen sein eigenes körperliches Ungenügen davon ausnimmt, dem ist auch mit der selbstgewählten Einsicht in die Notwendigkeit dieser Scheidung nicht zu helfen. Den Wirrnissen aufdrängender „Leidenschaft“ ist Friedemanns prothetisches Selbstbild, welches den Liebes- durch den Kunstgenuß zu ersetzen sucht, nicht gewachsen, und den Anbrandungen schierer Körperlichkeit, die ihm der Text zumutet (insbesondere Gerda von Rinnlingens massive Brüste werden immer wieder zum obsessiv besetzten Objekt von Friedemanns Begehren, und von Thomas Manns Erzähltext), hält es nicht stand. Es nimmt denn auch nicht wunder, dass der Autor Thomas Mann den Grund für Friedemanns Vernichtung weniger in dem „kalten und grausamen“ Verhalten Gerdas sehen will als in dem „Einbruch der Leidenschaft“ in Friedemanns Leben an sich, welcher „den ganzen Bau umstürzt“ und den „Helden selbst vernichtet.“
Sicherlich: es ist die schockhafte, im Wortsinn traumatische Begegnung mit der rätselhaft Schönen, welche den Kollaps des sorgsam errichteten Selbstgebildes allererst herbeiführt. Doch dessen Umsturz ist eher ein Einsturz, mehr Implosion als Explosion – schließlich mordet Friedemann nicht etwa die widersetzliche Geliebte, um sich ihrem Leib hinzugeben, sich einfach zu nehmen, wessen er bedarf, sondern seinen eigenen, verkrüppelten, liebesuntüchtigen Körper. Das quasi-homerische Gelächter, das diesen weiblich konnotierten Wassertod begleitet, zeigt den metaphysischen – und nicht nur individuell-psychischen – Rahmen an, in welchem diese Selbstauslöschung stattfindet. Friedemanns Weg ins Wasser, das Ende seines körperlichen Daseins, ist konsequenter Ausdruck eines ontologischen Zusammenbruchs, der aus einem mehrfachen Ans-Ende-Kommen resultiert. Ans Ende gekommen sind Friedemanns cartesianische Leib-Seele-Spaltung, ans Ende gekommen ist sein ethisch-poetischer Selbstentwurf, ans Ende gekommen ist seine Distanznahme von der Körperlichkeit der Liebe, und ans Ende gekommen ist schließlich nicht nur dieses kleine Begehren, sondern die Sexualität und die Liebe selbst.
Statt Glück und Erfüllung zeichnet Thomas Manns Erzählung die tiefen Lebenslinien eines Seins zum Tode. Friedemanns cartesianische Physiognomie, die Scheidung von Körper und Geist, die Selbstermächtigung eben dieses Geistes und die Verwerfung des Körpers, wird krank an der Seele in eben dem Moment, in welchem sein Körper erneut zu leben beginnt. Die ursprüngliche Gewalt der Scheidung, der Trennung, die Friedemanns Dasein allererst erträglich gemacht hat, fällt machtvoll auf ihr Subjekt und Objekt zurück. Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen, weiß die überlieferte eheliche Klugheit. Für Friedemann bekommt der Satz umgekehrt eine bittere, ja tödliche Note. Was Friedemann getrennt hat, soll nunmehr vereint werden, und um den Weg der versöhnenden Vereinigung mit sich selbst zu beschreiten, bedarf es zuerst der begegnenden Vereinigung mit dem Anderen, der Anderen. Gerda von Rinnlingen aber verweigert sich ihrer Rolle in dieser phallokratischen Schmierenkomödie. Vom Objekt des Begehrens wird sie zum Subjekt der Verweigerung. Der ihr zugeschriebenen Macht, leben zu machen, entwindet sie sich – und stößt Friedemanns verkrüppeltes Dasein in den Tod, lässt sterben und nicht leben. Selbstverständlich ist Friedemann ein Künstler (ein anderes Sein als das Künstler-Sein fügt sich schlecht in die Topographie der Erzählwelten Thomas Manns), und seine gesamte Lebensgestaltung ist eine künstlerische. Der Genuss von Oper und Literatur, von schweren Zigarren und erlesener Kulinarik, die mehr nebenamtliche Verwaltung einer Firma und das kleine „‚Bureau‘“, das Friedemanns liebster Rückzugsort ist, sind Ausdruck einer ästhetischen Selbstschöpfung, die für Friedemann die Leerstellen des verloren geglaubten Lebenssinns füllt.
Das Wiederaufbrechen der kauterisierten Wunde aber läßt Friedemanns ästhetischen Selbstgenuß an sein infektiöses Ende gelangen. Die Verschlingung ist eine mehrfache: so fusst Friedemanns Dasein da, wo es als Dasein gelingt, auf einer Verwechslung von Kunst und Leben, die ein Leben überhaupt erst möglich macht. Die Kunst dieses Lebens aber gelangt an ihr Ende bei dem Versuch, auf eine ästhetische Herausforderung vital zu reagieren. Denn mehr als frivoles Kunsthandwerk ist die schwüle Erotik der Gerda von Rinnlingen kaum, und würde sich Friedemann auf die Spielregeln ihrer „ars amatoria“ einlassen, so würden sich die Grenzen tändelnder Unverbindlichkeit womöglich schnell erweisen. Friedemann aber verwechselt erneut Kunst und Leben, nimmt für Leben, was Kunst sein soll, und handelt doch auch als Künstler, wo er Liebender zu sein vermeint. Die Poiesis seiner Lebensästhetik aber verliert innerhalb dieser Widersprüchlichkeiten an Lebenskraft, trocknet aus und versiegt. Der Weg ins feuchte Wasser ist ihr finaler, buchstäblich humoristischer Kunstgriff.
Das Abstandhalten vom Körperlichen, die Distanz vom liebenden Körper erweist sich als fatal erst dann, wenn körperliches Verlangen auf Friedemann zukommt. Friedemanns metaphysisch gesteigerter Körperverlust macht das Begehren beiderseits unzustellbar: dem Dasein Johann Friedemanns fehlt eine körperliche Adresse, eine Hausnummer des Seins, an welche nicht nur Gerda von Rinnlingens ludische Wünsche, sondern vor allem seine eigenen Phantasien gerichtet werden könnten. Es ist nur konsequent (und in dieser Konsequenz grausam), wenn die ein Leben lang geübte Distanznahme vom Körper in einer Geste maximaler Körperlichkeit ihr Ende finden muss. Als letzte und zugleich maximale Körpererfahrung bleibt nur der robbende Weg ins Wasser.
In ihrer unerbittlich radikalen Konsequenz vermag Thomas Manns Erzählung vom kleinen Herrn Friedemann die romantischen Phantasmen heutiger Sozial-Pädagogik von schrankenloser ‚Inklusion‘ und Teilhabe behinderter Körper an der flüssigen Zirkulation gesellschaftlicher Sexualität mit einiger Nachhaltigkeit zu erschüttern. Dem Künstler-Schriftsteller Thomas Mann aber gelingt mit seiner Erzählung unterderhand auf vorzügliche Weise etwas, woran er seinen Helden zerbrechen lassen muss – die verwechselnde Ersetzung von Kunst und Leben. Aus der Literatur der Lust wird so die Lust der Literatur, und aus den Texten vom Sex erwächst der Sex der Texte.
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So suggestiv sie ja zunächst wirkt, mir scheint Birnstiels Rede von der „Lust der Literatur“ und vom „Sex der Texte“ noch nicht hinreichend zu erklären, warum es derart faszinierend ist, sich als Leser auf das Thema „Sex und Behinderung“ einzulassen. Doch viel mehr liegt mir an der Frage, ob die in Thomas Manns Erzählung mit so unheimlicher Kraft aufscheinende Unmöglichkeit einer Lösung des Verhältnisses zwischen Sex und Behinderung als historisch spezifisch verstanden werden kann – oder als eine durchgängig geltende existentielle Situation verstanden werden muss. Dass die Sublimation eines physischen Lebensschicksals in der existentiellen Entgrenzung ästhetischer Erfahrung, wie sie der fiktionale Herr Friedemann sich zum Lebensgesetz gemacht hatte, eine im Bürgertum seiner Zeit zur Institution gewordene Reaktion war, steht außer Frage – ebenso wie die Einsicht, dass eine solche „Lösung“ kaum belastbar war. Die „sozialpädagogischen“ Ermutigungen unserer Gegenwart und die mit ihnen verbundenen Versprechungen einer weitestgehenden Emanzipation vom Schicksal sind sicher nicht weniger historisch spezifisch, aber wahrscheinlich sehr viel weniger erfolgreich als es die ästhetische Sublimation der Vergangenheit gewesen war. Denn ein Fall wie der von Herrn Friedemann lässt sich ja – im wörtlichen Sinn – nicht wegreden, was in vielen Fällen bei einer ausschließlich psychischen Disposition sehr wohl denkbar ist.
Lösungen, die nicht über Verzicht oder Sublimation zustande kommen und stabil bleiben, können heute – historisch zum ersten Mal – Lösungen einer physischen, genauer gesagt: einer chirurgischen Intervention sein. Sie mögen oft auf ihre eigene Weise traumatisierend wirken, aber sie sind jedenfalls die eine neu gewonnene Möglichkeit, um auf ein primär physisches Problem mit einer physischen – und nicht psychologisch eingebrachten — Veränderung zu reagieren.