Der Beginn der klassischen Psychoanalyse lässt sich auf den November 1899 datieren, als Sigmund Freuds “Traumdeutung” erschien, das Buch, mit dem er alle Versuche hinter sich ließ, seelische Vorgänge unter Einschluss körperlicher Phänomene zu erklären, um sich ausschließlich auf Interpretationen der Sprache und des Verhaltens seiner Patienten zu konzentrieren. Nur wenig früher hatte sich eine Gruppe von akademischen Fächern, die in der Interpretation ihr “Organon,” das hieß: ihr Wesenszentrum, sehen wollten, unter dem programmatischen Namen “Geisteswissenschaften” von den empirisch ausgerichteten Disziplinen abgelöst. So war mit größerem institutionellem Gewicht als je zuvor ein neues Jahrhundert der metaphysischen Tiefe eröffnet worden, also jener Prämisse der intellektuellen Praxis, welche den Bedeutungen und dem Sinn absoluten Vorrang gegenüber den Dingen und den Körpern geben will.
Dinge und Körper werden zur “bloßen Oberfläche,” abgewertet, während die Dimension der “Tiefe” – mit all dem, was der primären Wahrnehmung nicht zugänglich ist – ein absolutes Versprechen von Bedeutsamkeit mit sich führt. Nichts ist bis heute für intellektuelles, moralisches und auch politisches Ansehen abträglicher als ein Ruf der Oberflächlichkeit, und das galt schon immer besonders deutlich in der Tradition der “Linken,” deren Überlegenheitsanspruch ja über Karl Marx auf Hegels Suche nach angeblich in der Tiefe wirkenden “Geschichtsgesetzen” zurückgeht. Sie sollen die Oberfläche des Geschichtsverlauf als eine Abfolge von logischer Notwendigkeit erscheinen lassen.
Seit dem späten achtzehnten Jahrhundert aber hat sich – eher am Rande der dominanten Institutionen – eine Gegentradition herausgebildet, welche die Aura von Interpretation und Tiefe herausfordert und zwar meist aus ironischer Perspektive. Eine ihrer herausragenden Gestalten ist Denis Diderot. In “Jacques le Fataliste,” seinem wohl berühmtesten Roman, macht er sich über den Diener Jacques lustig, der in einer nicht enden wollenden Unterhaltung mit seinem aristokratischen Herren zum Vorläufer der linken Weltsicht wird, indem er absolut alles, auch die banalsten Details und die zufälligsten Ereignisse, als Ausdruck eines seit langem festliegenden Schicksals deutet. Man kann den Text als Plädoyer für eine Weltsicht der Kontingenz lesen. Sie lässt das Leben als eine zwischen dem Notwendigen und dem Unmöglichen liegende Sphäre der Unbestimmtheit erscheinen, in der man sich allein durch den Gebrauch der Urteilskraft zurechtfinden kann, das heißt durch die Fähigkeit, in je singulären Situationen und ohne in der Tiefe liegende Orientierungen allgemeine Unbestimmtheit in spezifische Bestimmtheit zu überführen.
Zur Sicht der Welt als Kontingenz und zum Gebrauch der Urteilskraft gehörte bei Diderot ein Materialismus, der weniger durch die Qualität seiner philosophischen Argumente beeindruckt als durch die hartnäckige Energie, mit der er belegen wollte, dass alle Phänomene – Bewegungen so sehr wie Bedeutungen – der Materie inhärent sind und deshalb aus dem Kontakt der menschlichen Sinne mit der Materie erschlossen werden können. Eine Distanz und einen Kontrast zwischen Oberfläche und Tiefe kann es in so einer Weltsicht nicht geben, was Diderot oft den Vorwurf der Oberflächlichkeit eingebracht hat. Er hat darauf in einem seiner späten Texte reagiert, im “Neveu de Rameau,” wo das scharf gezeichnete Portrait eines zeitgenössischen Originals, der heruntergekommene Neffe des berühmten Komponisten Rameau, einem wohl parodistischen Bild (vielleicht sogar dem parodistischen Selbstbild) eines in seiner metaphysischen Tiefe ebenso selbstgefälligen wie umständlichen “Philosophen” gegenüber steht. Rameau ist laut, zynisch, aggressiv, ungeduldig, unberechenbar, ein Ausbund an Oberflächkeit also – aber seiner intellektuellen Agilität ist der Philosoph nie gewachsen und von der Intensität seiner existentiell-sinnlichen Momente kann er nicht einmal träumen.
Es ist gewiss kein Zufall, dass Goethe vom “Neveu de Rameau” hingerissen war und ihn unmittelbar nach der Lektüre ins Deutsche übersetzte (während das unveröffentlichte Original für mehere Jahrzehnte verloren ging, was Goethes Version zur einzig verbleibenden Spur dieses Meisterwerks machte). Darin scheint eine Affinität zwischen Diderots Eindimensionalität und Goethes sinnlicher Weltnähe auf, die eigentlich keinen Platz hatte im Tiefen-gestimmten Idealismus seiner deutschen Zeitgenossen. Zur anti-metaphysischen Tradition gehört auch Heinrich von Kleist, der heute vielleicht am leidenschaftlichsten gelesene deutsche Klassiker, weil er bis hin zur Inszenierung seines Freitods im Jahr 1811 textuell und existentiell immer wieder die Grenzen erlebbarer Intensität herausforderte. Explizit wurde die bei Diderot, Goethe und Kleist präsente Umwertung des metaphysischen Vorurteils schließlich in Friedrich Nietzsches Philosophie, die einsetzt mit einem philologischen Lob auf die Wörtlichkeit der Textoberfläche.
Vor dreißig oder vierzig Jahren, in der großen Zeit von philosophischen Positionen wie der Dekonstruktion oder dem Konstruktivismus, welche unverdrossen die Einsicht hervorhoben, dass ein Zugang zur Welt nur durch die Filter der Sprache und des Wirklichkeits-konstituierenden Wissens möglich ist, wurde eine erneute Präferenz für Eindimensionalität zur intellektuellen Konvention. Doch ihre Kritik der Metaphysik und ihr Lob der Oberfläche blieben verhalten, weil sie die Dimension einer “wirklichen Wirklichkeit” ja nie wirklich ausblendeten, sondern bloß als unzugänglich für die Menschen auswiesen. In unserer jüngsten elektronischen Gegenwart hingegen bildet sich ein bisher ungeahntes Verhältnis zur Welt heraus, unter dessen Vorzeichen die Strukturen der anti-metaphyisischen Tradition aktiviert werden – und ein Plädoyer der Oberfläche gar nicht mehr aufzuschieben ist.
Denn die Gegenwart des Lebens vor dem Computer-Bildschirm ist eine Gegenwart, in der einerseits der gesamte Horizont der Vergangenheit als Wissen zur Verfügung steht und andererseits eine oft auf Sekundenbruchteile reduzierte Zukunft durch instinktive Reaktionen geprägt werden kann. Zwischen dieser Zukunft und jener Vergangenheit präsentiert sich die Welt als ein Universum absoluter Kontingenz, wo die Tiefe der Psychoanalyse oder der Geschichtsphilosophie ihren Platz verloren haben. Wir befinden uns nicht mehr in einem Feld der Kontigenz zwischen Notwendigkeit und Unmöglichkeit, sondern in einem Universum der Kontingent, wo selbst das Unmögliche und das Notwendige zum Möglichen geworden sind. Seine Zeitlichkeit ist eine richtungslose Mobilität von hoher Frequenz, und zu ihrem ihr Raum wird das Verhältnis zwischen der Unendlichkeit des im Internet zugänglichen Wissens und seinen jeweils auf dem Bildschirm präsenten Ausschnitten. Das Surfen in diesem Universum ist nun unsere primäre Existenzform, die sich als ebenso ursprungslose wie ziellose Reihung von fast unbemerkt vollzogenen Urteilen im Meer der Kontigenz vollzieht.
Auf diesen permanenten Status des Weiter-Lebens reagieren wir mit einer wachsenden Sehnsucht nach Strudeln von Intensität, die uns in kollektive Bewegungen der Körper hineinziehen und so für einen Moment von der Unendlichkeit des elektronischen Universums und von der Flachheit des je nächsten Schritts erlösen sollen. Die durch Kommunikation über Handys in Bewegung kommenden Manifestationen ohne politische Richtung, wie sie sich in vielen arabischen Ländern und jüngst auch in Brasilien ereignet haben, sind wohl Fälle von solch dynamischer Intensität — aber auch die Stadien der Sport- und Musikereignisse, die sich im letzten Jahrzehnt so bemerkenswert gefüllt haben, die Diskotheken oder die immer weiter wachsenden Migrationsschübe des Tourismus.
Sie anzupeilen und sich ihrer Dynamik zu überlassen, um es dann existentiell und physisch erfrischt wieder mit den Wellen der Kontinenz aufnehmen zu können, macht den Kern einer neuen Intelligenz aus. Wer nicht in ihre Welt hineingeboren wurde, der kann sie nur aus der Ferne bewundern.