Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Von der Ästhetik des Freitods zur Athletik des Überlebens

Den "Selbstmord" zum "Freitod" zu erheben und in die Verfügung individueller Entscheidung zu stellen, gehört zu den Trends unserer Zeit. Doch warum löst sich zugleich das öffentliche Pathos des Freitodes auf?

Die Entschlossenheit und die Fähigkeit, dem eigenen Leben in ausweglosen Situationen ein Ende zu setzen, sind in unserem kulturellen Gedächtnis vor allem an die griechische und die römische Antike gebunden. Neben dem gelassenen Gehorsam gegenüber den Autoritäten des Athener Stadtstaats, mit dem Sokrates den berühmten Schierlingsbecher trank, stehen die Bereitschaft des Stoikers Seneca, angesichts der Todesdrohungen seines ehemaligen Zöglings Nero freiwillig aus dem Leben zu scheiden – und auch die bis heute sprichwörtlich gebliebene Geste von gescheiterten Feldherren, sich ins offene Schwert zu stürzen. Einen Kontrasthintergrund zur existentiellen Ästhetik solcher Situationen gibt die psychische Sperre des vor seinen Feinden flüchtenden Nero ab, Hand an sich zu legen, und die daraus entstehende Abhängigkeit von einem Diener, welcher für ihn sein Leben beendete. “Freitod” ist also im Gegensatz zu “Selbstmord” ein Wort, das wir mit Bewunderung benutzen.

Wie nicht anders zu erwarten bei einer Verhaltensform, die außerhalb der menschlichen Kulturen keine Äquivalente hat, ist die Differenzierung von Formen des Freitodes in verschiedenen historischen, sozialen und geographischen Kontexten ausgesprochen intensiv — und langfristig erstaunlich stabil. Offenbar gibt es keine Gesellschaft, wo sich der Suizid unter Männern nicht deutlich (oft um ein Vielfaches) häufiger ereignet als unter Frauen; bestimmte Nationen und kulturelle Regionen scheinen – weitgehend unabhängig von Regierungsformen und wirtschaftlichen Konjunkturen — eine besondere Suizid-Affinität zu haben: etwa Japan, Ost- und Nordeuropa und hier vor allem Weißrussland, Russland, Ungarn und Finnland (gegenüber niedrigen Zahlen in den Mittelmeerländern und ganz allgemein auf der südlichen Halbkugel).

Viel weniger konturiert sind die Affinitäten zwischen dem Suizid und historischen Situationen oder verschiedenen Religionen. Im achtzehnten Jahrhundert zum Beispiel gab es intellektuell eminente Gegener des Selbstmords, wie Immanuel Kant — und entschiedene Freitod-Befürworter desselben Rangs, wie etwa David Hume. Theologisch gesehen verbindet das Judentum, das Christentum und den Islam zwar ein gemeinsamer Vorbehalt gegen die Selbstzerstörung des von Gott geschaffenen Menschenlebens, doch auf der anderen Seite gibt es dazu auch jeweils spezifisch motivierte Gegenströmungen. Dies führt insgesamt zum Eindruck von einer besonders hohen und langfristig stabilen Differenzierung mit wenig kohärenten Regional-Profilen, von einer Differenzierung, der man mit allgemeinen Deutungen kaum beikommt – und die oft aufgrund von lokalen Verhaltens-Epidemien kurzfristige Veränderungen durchläuft, wie zum Beispiel 2009 in Deutschland, nach der intensiven medialen Reaktion auf den Suizid des Fußballtorhüters Robert Enke.

Historisch deutlicher greifbar aber ist eine sich während des frühen neunzehnten Jahrhunderts abzeichnende, im Kontrast zu den einschlägigen Ambivalenzen der Aufklärung an die klassische Antike erinnernde und möglicherweise “romantisch” zu nennende Positivierung des Suizids, welche schnell öffentliche Faszination weckte und bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer wieder Um- und Fortsetzungen fand. Sie blieb nicht auf textuelle Argumente und Phantasien beschränkt. Heinrich von Kleist etwa hatte mehr als zehn Jahre lang nach einer Frau gesucht, die bereit war, gemeinsam mit ihm aus dem Leben zu gehen. Ende 1811 ließ sich dann die unheilbar kranke Bürgersfrau Henriette Vogel von Kleist am Berliner Wannsee mit einem Pistolenschuß das Leben nehmen, bevor er seinen eigenen Kopf mit einer Kugel aus derselben Waffe durchbohrte. Heinrich und Henriette hatten diesem Tod als Moment einer nicht überbietbaren Intensivierung der Existenz in euphorischen Briefen entgegen gelebt.

1889 tötete der dreißig Jahre alte österreichisch-ungarische Kronprinz Rudolf die siebzehnjährige Baronesse Mary Vetsera, eine seiner zahlreichen Geliebten, und sich selbst auf dem Jagdschloß Mayerling, offenbar um seinem politisch und privat zerrüttenen Leben ein Ende mit leidenschaftlicher Aura zu geben. Obwohl zum Horizont der beiden Szenarien wohl noch die – schwach ausgemalte — Hoffnung auf ein gemeinsames “anderes Leben” gehörte, hatte der Tod hier nicht mehr den Stellenwert eines Übergangs oder einer Erlösung, sondern war zu einem Teil des Lebens geworden, wie es Nietzsche formulierte – und zu einem das Leben umwertenden Schlusspunkt. Eher vorbewußt vollzog sich jener Wandel in einer Zeit, wo die christliche Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod schnell ihren bis dahin gewissen Status verlor, während die Entheroisierung des Sterbens in den “Materialschlachten” des Ersten Weltkrieges unmittelbar bevorstand.

Zu diesem ästhetischen Paradigma in der Geschichte des Freitods gehören wohl auch die Suizide ranghoher nationalsozialistischer Politiker und deutscher Offiziere am Ende des Zweiten Weltkriegs, obwohl die existentielle Ausweglosigkeit und die Furcht vor dem eigenen Schicksal von ihnen viel prägnanter erlebt worden sein muss als etwa von Kleist oder dem österreichischen Kronprinzen. Wir wissen, dass Joseph Goebbels und seine Frau die Ermordung ihrer Kinder durch Zyankalikapseln und den eigenen Freitod als einen letzten Auratisierungs-Akt des Lebens zu zelebrieren versuchten. Dies galt auch für Adolf Hitler, der seine im Bunker angetraute Frau Eva und die Hündin Blondi mit in den Tod nahm, und selbst noch für den Suizid von Hermann Göring unmittelbar vor seiner Hinrichtung am Ende des Nürnberger Prozesses, mit dem er bei vielen Zeitgenossen einen Eindruck von Mut und Unabhängigkeit entweder bestätigte oder zum erstenmal erweckte.

In diesem Zusammenhang, der sich zur stoischen Todesästhetik der Antike so verhält wie ein Wagnersches Opernlibretto zu einem platonischen Dialog, kommt Benito Mussolini, Hitlers Verbündetem und frühem Vorbild, die ins Melodramatische verzeichnete Rolle eines modernen Nero zu. Denn er konnte sich in den letzten Kriegstagen nicht dazu bringen, das eigene Leben und das Leben seiner Geliebten Clara Petacci zu beenden – und wurde so auf einer aussichtlosen Flucht nach Spanien von kommunistischen Partisanen gestellt und erschossen. Die mit den Füßen an einem Fleischerhaken hängende Leiche des ehemaligen Diktators hing dann unter dem Dach einer Esso-Tankstelle nahe bei Mailand mehrere Tage zur Schau.

Eine gewisse Nähe zu den stoisch-positiven Bildern aus der Antike liegt hingegen im Freitod des politisch durchaus an Mussolini erinnernden brasilianischen Präsidenten Getúlio Vargas. Um dem vom Militär seines Landes auferlegten Rücktritt zu entgehen, nahm er sich am 24. August 1954 unter wahrhaft bühnenreifen Worten das Leben: “Gefasst vollziehe ich diesen ersten Schritt hin zur Ewigkeit und verlasse das Leben, um in die Geschichte einzugehen.” Eine derart gestimmte Ästhetik des Freitods, wie sie über eineinhalb Jahrhunderte Rahmen und Orientierung für das Lebensende von so verschiedenen Protagonisten gewesen war, gehört offenbar nicht mehr zu unserer Gegenwart. Vor etwa zwei Jahrzehnten, während der Präsidentschaft von François Mittérand, nahmen sich in Frankreich eine Reihe prominenter Politiker innerhalb weniger Monate das Leben – ohne irgendwelche Gesten öffentlicher Inszenierung. Und sollte der Tod des schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel im Jahr 1987 tatsächlich Folge einer Suizidabsicht – und nicht eines Mords – gewesen sein, dann gehört auch dieses Ereignis zu einem deutlich veränderten Muster. Man könnte es als Übergang von der Ästhetik des Freitods hin zur Athletik des Überlebens deuten.

Wenn ich an 2006 und die Tode von Slobodan Milosevic und Saddam Hussain denke und dann an die von Muammar Gaddafi und Osama Bin Laden fünf Jahre später, dann wird eine plötzliche Distanz gegenüber dem klassischen Pathos des Freitods deutlich. Obwohl keiner dieser vier historischen Protagonisten in der letzten Phase seines Lebens eine Chance auf Überleben in Freiheit hatte, boten der Freitod und sein Pathos für sie offenbar keine Verlockung mehr. Durchhalten und Überleben um beinahe jeden Preis und unter den härtesten physischen Bedingungen (in Erdlöchern, die wie die Gräber lebendiger Leichen wirkten, oder gänzlich isoliert von der Umwelt) – bei allen individuellen Differenzen — im Vordergrund zu stehen.

Wo solches Überleben – wie in den Fällen von Saddam Hussain und Slobodan Milosevic – bis zu Vernehmungen und Gerichtsverhandlungen führt, wird seine Ermöglichung allenthalben politisch korrekt als Konsequenz deutlich gesteigerter Moralansprüche gefeiert. Eben diese Chance, heißt es immer wieder, hätte man auch Gaddafi und Bin Laden zugestehen müssen. Natürlich lässt sich ein solcher Mentalitäts- und Ethoswandel als Erklärung nicht prinzipiell ausschließen. Doch eine andere These wirkt auf mich plausibler – und jedenfalls weit interessanter. Wir können sagen, dass sich das leidenschaftlich-antike Paradigma des Freitods im neunzehnten Jahrhundert als einer Zeit erneuert hatte, wo der Tod von einem Übergang in die Ewigkeit zu einem Teil des Lebens selbst geworden war — und wo mithin die Möglichkeit schwand, ihm aus der Perspektive der Ewigkeit einen nicht-banalen Sinn zu geben. Die Ästhetik des Suizids könnte zwischen dem frühen neunzehnten und dem mittleren zwanzigsten Jahrhundert solche Verluste des Sinns und der Sinngebung ausgeglichen haben.

Heute hingegen steht längst nicht mehr das Verschwinden des traditionellen Jenseits-Horizonts im Vordergrund des Erlebens, sondern der immer realistischer scheinende Traum, die Grenzen des individuellen Lebens gegen “unendlich” zu verschieben. Selbst das Leben derer zu erhalten, von denen früher gesagt worden wäre, sie hätten das Recht aufs Leben verwirkt, könnte der erste Schritt auf dem Weg hin zur Einlösung des neuen Selbst-Versprechens von der Aufhebung des Todes sein.