Die sonst üblichen – und trotzdem immer eigenartigen – Sätze und Ansprüche vom “Wähler” (im Kollektivsingular), welcher der einen oder anderen Partei einen bestimmten “Auftrag” gegeben haben soll, waren kaum zu lesen in den ersten Reaktionen auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2013, obwohl ja schon lange kein Kanzlerkandidat mehr so deutlich als Sieger aus der Abstimmung hervorgegangen war wie Angela Merkel. Natürlich ist diese Rede vom “Wählerwillen” immer das Ergebnis einer bewusst – im Sinn spezifischer politischer Interessen – forcierenden Interpretation, deren kontrafaktische Voraussetzungen niemand wirklich ernst nimmt und niemand erwähnt. Doch diesmal sieht die statistische Vorgabe zur Regierungsbildung zu vertrackt aus, um unmittelbares Anschlusshandeln zu ermutigen. Wie bei einem Steherrennen der Bahn-Radfahrer, will sich keine Partei mit einer ersten Bewegung nach vorne wagen, und die notwendigen Koalitationsverhandlungen werden wohl außergewöhnlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Das ist der – an sich banale – Stand der politischen Dinge, den dann erst Verhandlungen und aus ihnen erwachsende Entscheidungen in halbwegs fundierte Prognosen werden überführen können.
Allerdings sind Wahlergebnisse mit einem ähnlich unschlüssigen “Auftrag” denkbar, welche sich als Symptom für die Stimmung und für die existentiellen Bedürfnisse einer Nation – oder genauer: einer Gesellschaft – eindeutig auslegen lassen (und ich beziehe das Adjektiv “existentiell” auf individuelle Lebenssituationen, die innerhalb eine national-historischen Situation typisch sind). Auch dies scheint auf den ersten Blick bei den Bundestagswahlen der vergangenen Woche nicht der Fall zu sein. Sowohl die Christdemokraten als auch die Sozialdemokraten, jene beiden Parteien, welche die Bundesrepublik Deutschland nun schon länger als ein halbes Jahrhundert prägen, gewannen Stimmen zurück — doch aus diesen Verschiebungen lässt sich weder ein Trend in die eine oder andere Richtung, noch eine Wieder-Annäherung an ein Zweiparteiensystem ablesen. Die Grünen haben, wenn man sich an die Prognosen von vor zwei Jahren erinnert, überraschend viele Stimmen verloren – doch niemand, der mit dem deutschen Alltag vertraut ist, wird daraus ein Abflauen des Engagements für eine ökologische Probleme ableiten können. Im Gegensatz zu den Grünen haben sich die Linken erstaunlich gut geschlagen – ohne dass nun gleich und ausgerechnet in Deutschland eine Renaissance des Sozialismus (oder gar eine kleine Revolution) ins Haus stünde. Und während die Implosion der Freien Demokraten als Faktum gewiss das zentrale Ereignis dieser Wahlen ausmacht, kommt sie keinesfalls unerwartet.
Wenn man sich nun – sozusagen an explizit “politischen” Interessen und Versprechungen vorbei – fragt, wofür bestimmte Parteien aus der existentiellen Sicht individueller Wähler stehen mögen (also gerade nicht aus der Perspektive ihrer im Sinn des Staatskundeunterrichts “politischen” Interessen), steckt aber doch im Debakel der Liberalen der deutlichste Ansatz zu einer Deutung. Denn historisch – und möglicherweise eben auch: existentiell – betrachtet sind sie ja nicht unbedingt eine Partei der wohlhabenden Minderheit, sondern verkörpern eine Tradition der Reduktion und Minimierung staatlicher Vorgaben gegenüber dem Leben der Individuen (und erst auf einer solchen Grundlage sind sie, sozusagen geschichtlich sekundär, zur Anti-Steuerpartei geworden). Vielleicht hat sich gerade diese Tradition angesichts einer zweifachen Entwicklung nun definitiv überlebt.
Ansprüche auf individuelle Unabhängigkeit und das Bewusstsein von den juristischen Möglichkeiten, diese zu schützen, scheinen in der heutigen, sich immer verbreiternden Mittelklasse zu einem nur noch schwer überbietbaren Grad erfüllt. Zugleich kann man beobachten, wie der Alltag aus einem Feld der Kontingenz, das heisst: aus einer von Notwendigkeit auf der einen und Unmöglichkeit auf der anderen Seite umgebenen Sphäre der Ungewissheiten, welchen durch beständiges subjektives Urteilen in Gewissheit zu überführen sind, zugleich kann man beobachten, wie der Alltag zu einem Universum der Kontingenz radikalisiert worden ist. Ein Leben im Universum der Kontingenz ist der existentielle Ernstfall. Keine absoluten politischen, nationalen, ethischen, eben “notwendigen” Ansprüche lassen sich dort mehr vertreten, aber zugleich scheint auch nichts mehr kategorial unmöglich zu sein, nicht einmal die Verwirklichung des Wunsches nach einer Befreiung vom Tod (um nur ein Beispiel zu nennen). Im Universum der Kontingenz stößt dann der individuelle Unabhängigkeitsanspruch auf die Sehnsucht, auf das Bedürfnis nach individuell verbindlichen Orientierungen. Man will dem bestaendigen urteilen-Müssen und einem Leben, in dem nichts notwendig und nichts unmoeglich ist, entgehen.
Und eben dieser profunden – heute noch weitgehend vorbewussten — Sehnsucht kommt nicht nur keine der existierenden Parteien entgegen, vielleicht ist sie für eine Partei im klassischen Sinn überhaupt nicht zu erfüllen. Die CDU und die SPD stehen mit nur schwach nuancierten Unterschieden für das, was in Deutschland schon längst und zunehmend auch im vereinten Europa ohnehin der Fall ist, nämlich für eine Konfiguration aus historisch maximalem Schutz individueller Freiheiten und einem ebenfalls historisch maximalen Grad an sozialer Sicherheit. Damit intensivieren sie aber bloß die existentielle Herausforderung der allgemeinen Ungewissheit, welche aus dem Universum der Kontingenz erwächst. Die Grünen haben es – außerhab von Südwestdeutschland jedenfalls – versäumt, den vagen Normen-Horizont einer Ahnung von “natürlichem Leben” umzusetzen in individuell lebbare Vorgaben, ja sie durch die Pädophilie-Diskussion sind sie zu einem Emblem für die Entgrenzung des bis dato “Unmöglichen” geworden – und verschärfen damit nur das Gefühl der Ungewissheit. Andererseits liegt die sich geradezu störrisch haltende Attraktivität der Linken für immerhin fast zehn Prozent der Wähler wohl gerade in ihrem Festhalten an einem traditionellen, auch existentiell lebbaren Ensemble von Werten und Verhaltensmustern begründet.
Eine solche – natürlich hoch spekulative – Interpretation des Ergebnisses der Bundestagswahl führt keineswegs zu politischen Schlussfolgerungen. Im Gegenteil. Eine neue Partei mit einer neuen Ideologie aus Werten und Orientierungsvorgaben würde wohl – stärker als je zuvor – instinktiven Widerstand zum Schutz individueller Unabhängigkeit akktivieren. So gesehen befinden wir uns – nach den Enttäuschungen und menschheitsdramatischen Verwirrungen des ideologischen zwanzigsten Jahrhunderts: hoffentlich unumkehrbar – in einer neuen, post-ideologischen Gegenwart. Und in dem Maß, wie das, was zumindest in Europa der Fall ist, das klassisch-politische Bedürfnis nach einer zukünftigen Umgestaltung der Welt gar nicht mehr weckt (weil man sich ohnehin schon ganz wohl fühlt), sieht unsere Gegenwart wohl tatsächlich post-politisch aus.
Die immer noch (aber vielleicht nicht mehr lange) latente Sehnsucht von vielen (den meisten?) richtet sich deshalb auf ein – noch gar nicht vorhandenes – Äquivalent des monastischen Lebens aus der asiatischen und der westlichen Vergangenheit. Dabei ginge es gar nicht um die religiösen Implikationen einer solchen Existenzform, sondern zunächst darum, dass sich monastisches Leben nie als allgemein verbindliche, von außen auferlegte Norm oder Notwendigkeit präsentiert hat, sondern als individuell zu wählende Möglichkeit, als eine Möglichkeit für Menschen mit hohen Ansprüchen an sich selbst. Wer monastisch leben will, der übernimmt ein Regelwerk von Orietierungen und Werten, das Kontingenz in je situationale Gewissheit überführt und dem individuellen Leben eine konturierte Form gibt; zum monastischen Leben gehört eine vorgegebene Struktur der Tages-, Wochen- und Jahres-Zeit, welche unserer Gefahr vorbeugt, individuelle Zeit in einer sich immer beschleunigenden, intransitiven Mobliiserung zu verspielen; und schließich schreibt sich monastisches Leben in eine freiwllig aufgenommene Beschränkung und interne Strukturierung des Raumes ein.
Eine politische “Partei,” die Konturen und Perspektiven dieser Art anböte, müsste heute noch an dem Eindruck scheitern, “ideologisch” zu sein. Andererseits fördert ein Parteien-Spektrum, weches auf existentielle Orientierungen ganz verzichtet, nur das immer weitere Auseinanderdriften von Alltagsleben und Poliitik. Dies vielleicht macht den Kern des deutschen Problems aus, und während eine Lösung existentiell immer dringender wird, wecken politisch all jene Lösungen, die ich mir vorstellen kann, tatsächlich nur Angst.