Digital/Pausen

Digital/Pausen

Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Ein freundliches Ende der Geisteswissenschaften?

Würden es gebildete Zeitgenossen außerhalb der Universität bemerken, wenn die Geisteswissenschaften von der institutionellen Bildfläche verschwänden? Genau diese Situation ist bereits eingetreten --

Viel zu oft unterläuft es mir, dass ich einen sichtbar desinteressierten Gesprächspartner (im schlimmsten Fall stundenlang, zum Beispiel während eines Transatlantikflugs) mit Berichten und persönlichen Meinungen über American Football, Fußball oder auch Eishockey belästige, doch an die Regel, die ich hier und heute breche, halte ich mich sonst mit einiger Konsequenz. Von den sogenannten “politischen” Probleme der Geisteswissenschaften und von den Neuigkeiten aus ihrer kleinen Welt will ich wirklich nur mit Kollegen sprechen (und nicht einmal mit Studenten), vor allem weil mir die ressentimentgeladene Selbstüberschätzung dieses Berufs und die mit ihr verbundenen kleinformatigen Ambitionen bei jedem Kontakt mit seiner Umwelt immer nur peinlich sind. Außerdem sage ich eigentlich nie etwas Negatives – oder beflissen “Kritisches” – über die Stanford University, meinen Arbeitgeber und die akademische “Liebe meines Lebens” (falls man das auf Deutsch überhaupt sagen kann). Dahinter steht der Entschluss zu einer Einstellung – oder vielleicht sogar zu einer Haltung – beinahe absouter Solidarität.

Wenn ich also heute von einem “ersten Ende der Geisteswissenschaften” in Stanford berichte, dann soll dies keineswegs als Akt des Protests oder als Ausdruck von Empörung verstanden werden. “Wer anfängt, muss auch aufhören können,” sagte der große Niklas Luhmann gerne mit der bei ihm so gängigen Aufwertung von Banalitaten durch einen Hauch von Ironie — und meinte damit: alle Phänomene, die einen Anfang gehabt haben, zum Beispiel Institutionen, gelangen eines Tages unvermeidlich und unumkehrbar an ihr Ende. Wer Teil oder Ort eines solchen Endes ist (wie – aus meiner Sicht — Stanford im Fall der Geisteswissenschaften), kann also durchaus in Anspruch nehmen, im wörtlichen Sinn “fortschrittlich” zu sein. Faszinierend finde ich in diesem Zusammenhang die Frage, ob denn irgendein gebildeter Zeitgenosse das Ende – oder, dramatischer gesagt: den Tod – der Geisteswissenschaften bemerkte, wenn es tatsächlich dazu käme. Wer außerhalb der Geisteswissenschaften würde sie denn je vermissen? Eine solche Überlegung impliziert natürlich, dass einige der Themen und Fragen, mit denen die Geisteswissenschaften manchmal ein Publikum außerhalb ihrer institutionellen Grenzen erreichen, von der akademischen Welt als Produktionsbasis unabhängig sind. Anders gesagt: von Literatur zum Beispiel oder von Geschichte, wäre auch dann noch die Rede, wenn die Geisteswissenschaften nicht mehr existierten.

Doch auf welches Ereignis beziehe ich mich, wenn ich von einem möglichen Ende der Geisteswissenschaften schreibe? Um meine kleine Geschichte verstehen zu können, muss man wissen, in welchem Sinn “College” – als akademische Institutionsform, die es eigentlich nur in den Vereinigten Staaten und an einigen Orten in England gibt – vom überall sonst dominierenden modernen Verständnis der Universität abweicht. Die vier Jahre College zwischen dem High School-Abschluss (im Normalfall mit achtzehn Jahren) und einem praktischen Berufsleben (oder dem Beginn einer möglichen zweiten Phase des Studiums, die dann berufsorientiert ist) sind mit einer klassischen Funktionsvorstellung assoziiert, die sich am besten in dem deutschen Begriff von “Bildung” fassen lässt. Idealerweise soll der College Student durch ein universell angelegtes Programm von Lehrveranstaltungen und Aktivitäten zu einer komplexeren Persönlichkeit werden. Erst nach zwei Jahren wählt er in diesem Bildungs-Kontext einen Schwerpunkt (“Major”), aber selbst der Major ist nicht mit einem berufsbezogenen Studium zu verwechseln.

Im vergangenen Jahrzehnt nun sind die traditionellen Konzeptionen des College – und hier vor allem die geisteswissenschaftlichen Lehrangebote — herausgefordert worden von Studenten, die (offenbar nicht selten unter dem Druck ihrer Eltern) dieses Curriculum in eine Vorphase der Berufsausbildung überführen. Wer zum Beispiel später Medizin oder Jura studieren möchte (was im Rahmen des College nicht möglich ist), für den liegt es nahe, “Human Biology” oder “Political Sciene” als Major wählen. Da sich aber geisteswissenschaftliche Seminare kaum je als Vorphase auf eine an sie anschließende praktische Berufsausbildung zuordnen lassen, sind ihre Belegzahlen infolge des gegenwärtigen ”vorberuflichen Trends” seit einiger Zeit stetig und stellenweise sogar drastisch zurückgegangen.

Dies ist eine komprimierte Beschreibung der spezifischen Voraussetzungen, unter denen vor einer Woche ein international renommierter Kollege aus dem Computer Science Department in Stanford bei einer Sitzung der Fakultät für fremsprachliche Literaturen sprach. Die Zahl der Majors in Computer Science, berichtete der für seine geisteswissenschaftlichen Sympathien bekannte Professor, sei während der letzten Jahren mit so ungeahnter Intensität gestiegen, dass seine Abteilung dieser Tendenz nun entgegenwirken wolle und nach Entlastung suche, weil sonst mittelfristig Forschung und (zumal bei Ingenieuren) auch persönliche Geschäftsinteressen zu kurz kämen. Darüber hinaus sei man besorgt, dass die Verwirklichung der College-Idee mit dieser neuen Konzentration auf Computer-Berufe nicht mehr zu vereinbaren ist. Der gegensteuernde Vorschlag seines Departments sei deshalb, von der strukturellen Möglichkeit eines “Major / Minor” (Hauptschwerpunkt und Nebenschwerpunkt] als Studienprogramm Gebrauch zu machen: “Computer Science” (Major) verbunden mit “German Studies,” zum Beispiel, mit “French,” “Italian” (und so weiter) als möglichen “Minors.” Da das Gesamtvolumen der zu belegenden Vorlesungen und Seminare bei einem ”Major / Minor” kaum höher liegen soll als bei einem einfachen ”Major,” würde damit für das Computer Science Department eine gewisse Lehrentlastung eintreten, während die Literatur-Departments eine neue und wahrscheinlich wirksame Möglichkeit hätten, dem sie bedrohenden Studentenschwund entgegenzuwirken. Schließlich käme die Universität so der klassischen College-Konzeption wieder etwas näher.

Meine Literatur-Kollegen haben diesem Vorschlag begeistert zugestimmt, und der beschriebene “Major / Minor,” da gibt es keinen Zweifel, wird bald zum Studienangebot von Stanford gehören. Für meinen Teil kann ich ihren Enthusiasmus zwar verstehen und beinahe auch nachvollziehen, doch ich denke, dass die definitive Entscheidung in dieser Hinsicht – aus der Retrospektive einer gar nicht allzu fernen Zukunft – als Beginn eines freundliche Endes der Geisteswissenschaften gesehen werden wird. Denn die neue – und ohne jeden Zweifel gut gemeinte — Konfiguration weist den Geisteswissenschaften ja unumkehrbar den Status einer “schönen Nebenbeschäftigung” zu (ich habe bei der Diskussion letzte Woche das englische Wort ”amenity” verwendet), vergleichbar den Lehrinhalten der deutschen “Volkshochschule” oder der amerikanischen “Continuing Education.” Das ist der Status von Interessen und Aktivitäten, die das Leben schöner oder gar lebenswerter machen sollen, ohne existentiell in seiner Mitte stehen zu dürfen – so wie etwa Briefmarkensammeln, Orchideen-Züchten oder Tennis.

Und was wäre dagegen denn einzuwenden – zumal in dieser strukturellen Maßnahme doch zweifellos die größte denkbare Chance liegt, ein institutionelles Überleben der Geisteswissenschaften mittelfristig zu sichern? Soll man Studenten eher weiterhin mit einem Versprechen auf Berufschancen in die Welt der Geisteswissenschaften locken, wie sie – das wissen wir ja alle – nicht wirklich gegeben sind? Wenn ich die “Major / Minor”-Lösung als ein freundliche Ende der Geisteswißenschaften interpretiere, so beziehe ich mich – nostalgisch natürlich – auf historische Momente, wo Philosophie und Literatur, Geschichte, Sprachen, Musik oder Kunst für einen Abschnitt des Lebens wenigstens im Zentrum der existentiellen Leidenschaften stehen konnten, wo sie sich zur Besessenheit steigern durften, ganz und gar unabhängig vom Stellenwert ihrer potentiellen Funktionen im Alltagsleben.

Ich stelle mir jene Jahre aus der Vorgeschichte der Universität Paris im frühen zwölften Jahrhundert vor, die ich vor einigen Tagen für eine Gruppe von Studenten im ersten College-Jahr zu vergegenwärtigen versucht habe, jene Jahre, als die damals ganz neue intellektuelle Geste des Petrus Abelardus, Texte der christlichen Veröffentlichung mit den Instrumenten der antiken Logik “dialektisch” zu erschließen und zu deuten, Hunderte, ja vielleicht Tausende von Manuskriptlesern aus ganz Europa fazinierte und nach Paris zog; ich denke an jene geistige Stimmung wechselseitiger Inspiration zwischen jungen und älteren Generationen im Seminar, die Wilhelm von Humboldt erwecken wollte, als er um 1810 über die Gründung einer Universität nachdachte; aber auch an die mit Passion und Schärfe geführten Debatten unter Professoren der Berliner Hochschule, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zur Konstitution der “Geisteswissenschaften” als Fächerverband führte; ich erinnere mich an den jugendlich übersprühenden akademischen Marxismus von 1968 und an die selbstverliebt-freche Melancholie der frühen Dekonstruktion.

All dies waren, meine ich, Momente geistiger Intensität, wie sie sich nicht mehr ereignen werden in einer Zeit, wo die Einwerbung von Drittmitteln wichtiger geworden ist, als die Fragen, um derentwillen man sie einwerben sollte; wo man als Geisteswissenschaftler – selbst in Stanford – bescheiden genug geworden ist, um sich anzufreunden mit der Rolle des kultivierten und allerseits angesehenen Pausenclowns.

Warum ich über dieses Ende mit soviel Affekt schreibe? Weil ich glaube, dass ein Ende in Würde und Stolz (und ich will diese Begriffe weder allzu sehr strapazieren noch durch Anführungszeichen relativieren) einem Über-Leben auf Gnade und an der intellektuellen Peripherie vorzuziehen ist, als existentielle Möglichkeit jedenfalls. Institutionell hingegen sieht der neue Major / Minor wie eine vielversprechende Lösung aus.