Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Demut im Trend!

Im Sport ausgerechnet macht sich plötzlich der fast ausgemusterte Begriff "Demut" wieder breit. Wem aber sollen wir nach dem Tod Gottes demütige Unterwerfung schulden? Etwa den Siegern der Campions League?

Zuerst nahm ich an, es sei ein neues, aber an sich ganz plausibles Element im Repertoire der Stilgesten von Karl-Heinz Rummenigge, der den in der Jugend erworbenen Spitznamen “Rotbäckchen” noch heute als mächtiger Boss des reichsten und derzeit weltweit erfolgreichsten Clubs seines Sports überzeugend — und manchmal im wörtlichen Sinn sichtbar — verkörpert. Unvergessen bleibt die Episode von einem großen Beckenbauer-Geburtstag, als Rummenigge zu Ehren des Jubilars ein angeblich mit Herzblut geschriebenes Gedicht zum Besten gab, das sich dann als Plagiat von der Website einer pensionierten Hobby-Poetin erwies. Wer wäre nicht errötet, als die wahre Autorin bald schon ihre Finanz- und Authentizitäts-Ansprüche geltend machte.

Rummenigge bringt mich fast immer ins Schwärmen, was vielleicht der Effekt einer psychischen Verschiebung ist: ich lasse mich vom Verwaltungspersonal der Bayern gerne beeindrucken, solange ich als Anhänger des schwarz-gelben Antagonismus ihrer Mannschaft jene Bewunderung nicht zollen kann, die sie nun schon seit einiger Zeit verdient. Eigentlich wollte ich ja mit der Bemerkung angefangen haben, dass es mich zwar einen Moment aufhorchen ließ, aber dann doch nicht sehr wunderte, als ich den nicht nur virtuell meist rotbäckigen Karl-Heinz Rummenigge das Wort “Demut” sagen hörte — Demut, wie er sie sich selbst, seinen Spielern und wohl auch den beim Feiern eigenartig zurückhaltenden Bayern-Fans im Anblick eines Jahrhundert-Erfolgs nahelegte. Zu “verordnen” ist mittlerweile — angesichts der bleibenden Verwundung von Uli Höneß — die Sache von Matthias Sammler geworden. Eine Empfehlung von Demut hingegen, das klingt wie Rummenigge (und wird sich vielleicht auch ins stürmisch wachsende Deutsch-Vokabular des Lyrik-Liebhabers Guardiola einschmiegen), etwas betschwesternhaft also oder wie ein Fastenprediger aus der Gegend von Paderborn, der es nötig hat, fehlendes Charisma mit besonders guten moralischen Absichten auszugleichen.

Dann fiel mir allerdings auf, selbst aus der kalifornischen Ferne des eigenen Alltags, dass “Demut” über Rummenigge hinaus längst zu einem Trendwort in der Champions League- und Bundesliga-Berichterstattung geworden ist, schnell die Sprache der Sportredaktionen erobert hat und sich nun auch im deutschen Feuilleton breit macht (je linker, so mein Eindruck, desto deutlicher). Allenthalben kommt es zu Demuts-Empfehlungen und Demuts-Beschwörungen, selbst dort, wo der Begriff bis vor kurzem undenkbar gewesen waere. Was gemeint ist, bleibt bei aller Verwunderung offensichtlich und ist zu banal, um Einwände zu provozieren. Man soll im Moment der größten Erfolge, um mehr geht es kaum, die Möglichkeit eines Abschwungs oder einer Katastrophe nicht aus dem Blick verlieren — einmal weil sich unbeliebt macht, wer die eigenen Siege für unvermeidlich hält, aber auch weil solche Exzesse im Selbstgefühl das Eintreten der nächsten Niederlage fast immer beschleunigen. Diese auf je spezifische soziale Umwelten bezogene Einstellung hätte man früher “Bescheidenheit” genannt. Wie aber unterscheidet sich Demut von Bescheidenheit?

Demut erinnert – ganz wie seine Äquivalente in anderen Sprachen (zum Beispiel das latenische Wort “humilitas”) – nicht nur an Religion, sondern ist tatsächlich ein genuin theologischer Begriff. Nach Auskunft des “Lexikons für Theologie und Kirche” wie des “Historisches Wörterbuchs der Philosophie” galt sie schon im nach-exilischen und dann verstärkt im taldmudischen Judentum als eine Tugend, mit der sich Menschen in ihre bedingungslose Unterlegenheit gegenüber Gott finden konnten. Auf den alttestamentarischen Gott selbst wurde das Prädikat folgerichtig nie angewandt. Das Erbe ging in die christlichen Evangelien ein (vor allem bei Matthäus und Markus) — mit der theologisch entscheidenden Differenz, dass dort der Gottessohn Christus gerade dadurch zugleich zum “Menschensohn” wird, dass er an der Demut der Menschen teilhat, einschließlich der zu ihr gehörenden existentiellen Angst und Gottesfurcht. “Meister der Demut” nannte der Kirchenvater Augustin den Erlöser Jesus Christus, das heißt “Meister” derer, die “nicht gelobt werden wollen.” Zwölfhundert Jahre später schloss Martin Luther einen möglichen Stolz auf Demut als Tugend mit der Bemerkung aus, “rechte Demut wisse nie, dass sie demütig ist.” Am Ausgang der Aufklärung haben dann Denker wie Kant oder Hegel den Begriff verweltlicht, ohne seine Bedeutung grundlegend zu verändern. Demut könne zwar nie als Haltung gegenüber anderen Menschen eingefordert werden, sehr wohl aber als Norm im Verhältnis zum Gesetz oder zur Geschichte gelten, als dem Subjekt kategorial übergeordneten Dimensionen.

Die aufbrechende Demut Rummenigges und der neuen deutschen Linken macht solche übergeordneten Dimensionen und die im Verhältnis zu ihnen geforderte Unterwerfung nicht explizit, doch ich befürchte, dass in diesem Wortgebrauch eine – vorbewusste – Sehnsucht nach absoluter Autorität ihren Ausdruck findet. Nach dem Gewinn des Super-Bowls oder einer “World Series” stehen die Besitzer amerikanischer Sport-Unternehmen (von “franchises” ist dort immer die Rede und schon lange nicht mehr von “Clubs”) nicht an, ihren Spielern, ihren Trainern und Gott (stets in dieser Reihenfolge) für den Erfolg zu danken, den sie vor allem für selbst-verdient halten — ohne auf seine Abhängigkeit von jener Trinität der Unterstützung zu vergessen. Den Spielern, den Trainern und Gott zu danken, das klingt – nicht nur in europäischen Ohren – sehr wuchtig, aber auch viel weniger verzagt als die neue Champions League-Rede von der Demut. Friedrich Nietzsche, der Hoffnungen auf starke Formulierungen selten enttäuscht, hat deutlich gemacht, was einen irritieren kann an jener als Tugend daherkommenden Verzagtheit. Er nannte Demut einen ”Deckmantel für die feige Furchtsamkeit, dem Geschick mit Gelassenheit entgegenzusehen.”

Seit der Zeit Nietzsches, seit dem späten neunzehnten Jahrhundert also, kann man in den westlichen Kulturen – im auch privat sehr stark säkularisierten Europa wie in den privat viel stärker religiös gebliebenen Nationen Nordamerikas – öffentlich nicht mehr die Existenz Gottes voraussetzen. Dies hat keineswegs zu einem Gefühl vollkommener menschlicher Souveränität geführt (Nietzsche spielt ja auf das “Schicksal” als eine nicht kontrollierbare Instanz an), aber doch – außerhalb kirchlich institutioneller Kontexte wenigstens — die Möglichkeit weitgehend eingeklammert, Unterwerfung und Demut positiv zu bewerten. Ein Ethos der Öffentlichkeit als Sphäre bürgerlicher Interaktion in Freiheit setzt Bescheidenheit voraus und ist als durch und durch säkulare Institution mit Demut nicht zu vereinbaren – davon gingen schon die Bürger der antiken griechischen Stadtstaaten aus. Zur Freiheit als existentieller Form gehören hingegen – ganz im Sinn Nietzsches – die Bereitschaft und der Mut, ”dem Geschick mit Gelassenheit” und offenen Augen ”entgegenzusehen.” Damit kompatibel wäre wohl noch Spinozas Begriff von der Demut als “Traurigkeit, die daraus besteht, dass der Mensch sein Unvermögen betrachtet.”

Nichts ist den Rummenigges unserer Zeit weniger zuzutrauen als Traurigkeit, die aus einem Blick in den Abgrund menschlichen Unvermögens entsteht. Wenn die – in Deutschland zumindest – neuerdings um sich greifende Rede von der Demut irgendeinen Symptom-Wert hat, dann liegt er wohl in einer eigentümlichen Zwischen-Haltung, welche auf Blindheit gegenüber sich selbst angewiesen ist. Man möchte einerseits die Errungenschaft der bürgerlichen Säkularsierung in Anspruch nehmen dürfen, das heißt eine Unabhängigkeit gegenüber allen existentiell übergeordneten Ansprüchen und Dimensionen. Andererseits fällt es – zumal Individuen mit hoher psychischer Durchblutungsintensität – sehr schwer, in der Kälte und Unsicherheit einer Welt ohne absolute Autorität zu leben. Mit diesen beiden, sich eigentlich einander ausschließenden Seiten einer neuen existentiellen Situation ist der Begriff “Demut” durchaus vereinbar.

Er passt zu einer Gesellschaft, wo die Ansprüche auf individuelle Unabhängigkeit ins Exzessive schießen, während die Erwartungen auf Versorgung durch den Staat absolut geworden sind. Karl-Heunz Rummenigge als Prophet eines post-säkularen Deutschland?