Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Vernichtender Schmerz der Niederlage: über Intensität im Zuschauersport

Keinerlei Konsequenzen im Alltagsleben haben die Niederlagen ihrer Lieblingsmannschaften für Sportfans. Warum werden sie dann so oft als existentiell vernichtend erlebt (nirgends intensiver als im American Football)?

“Nach einer Niederlage gibt es nur eine Reaktion,” sagte mit dem Pathos gelassener Gewissheit ein ehemaliger American Football-Spieler, “Du spürst, es wäre besser, nie dort gewesen zu sein, wo Du verloren hast.” Ich habe nie zu einer Football-Mannschaft gehört und war schon einunvierzig, bevor ich diesen Sport wirklich kennengelernt habe, aber seit der Stanford Cardinal am vergangenen Samstag nach fünf gewonnenen Spielen zum erstenmal in dieser Saison verloren hat (in Salt Lake City gegen die University of Utah), und damit alle Chancen auf die nationale College Meisterschaft gelöscht sind, von der wir zum allerersten Mal einen, wie wir dachten, realistischen Traum geträumt hatten, seitdem bin ich so untröstlich und eigentlich unansprechbar, dass es mir vor meiner Familie, meinen Studenten und, soweit das überhaupt der Fall sein kann, sogar vor mir selbst peinlich ist. Ich hadere mit meiner Leidenschaft für diesen Sport, warum tue ich mir das an, jeden Herbst? Dann hasse mich gleich wieder für soviel Wankelmut — und es ist, als sähe man mir öffentlich die kollektive Schande der Niederlage an, nicht nur die eigene Niedergeschlagenheit.

Der spezifische Grund für den Schmerz unter uns Football-Fans ist nicht trivial, ja vielleicht sogar interessant genug, dass Nachdenken über ihn die Bitterkeit der Niederlage für Sekunden wenigstens einklammert – und ich beziehe mich weder auf die undurchschaubar-archaischen Regeln der College-Meisterschaft, die schon eine einzige Niederlage zum Ende der ehrgeizigsten Träume werden lassen, noch auf die besonderen Formen der Identifikation mit einer College-Mannschaft, von der ich ab und an Spieler aus meinen Seminaren kenne oder in der Bibliothek treffe (vor fünf Minuten sah ich den Quarterback, in einem Sessel zwischen den Regalen zusammengerollt, das Trauma des Wochenendes ausschlafen). Dass der Schmerz der Niederlage im wörtlichen Sinn “vernichtend” wirkt, hat mit der Ästhetik des American Football zu tun. Für Fußball-Zuschauer, die an andere Körper und andere Rhythmen der Bewegung gewohnt sind, mag diese Ästhetik zunächst kaum wahrnehmbar sein. Doch sie existiert — auf dem Schnittpunkt von Schach-artig analytischer Intelligenz und reiner Gewalt.

Die analytische Intelligenz wird herausgefordert durch eine große Vielfalt von besonders ausgeprägten Spieler-Funktionen mit entsprechenden Rollen-Differenzierungen. Um in einer Angriffs-Bewegung Raum zu gewinnen, hat der Quarterback als Kopf der Mannschaft im American Football drei Möglichkeiten: er kann mit einem genau – manchmal über mehr als fünfzig Yards – geworfenen Pass einen Receiver zu erreichen versuchen, der den ovalen Ball (oft gegen scharfe Manndeckung) fängt; er kann den Ball an einen Running Back weitergeben, der durch die gegnerische Abwehreihe in den freien Raum vordringt; und er kann den Ball behalten und selbst Yards gewinnen. Diese drei offensiven Optionen haben nicht nur eine spiegelsymmetrische Spezialisierung der Abwehrspieler hervorgebracht, sie erschließen auch – “auf beiden Seiten des Balls,” wie man beim Football sagt — einen Kreativraum für unendlich zu variierende Täuschungsmanöver (so tun, zum Beispiel, als würde man den Ball über fünfzig Yards werfen und ihn in Wirklichkeit unauffällig an den Running Back weitergeben). Hier liegt die Basis für die oft überwältigende strategische Komplexität des American Football. Sie erklärt, warum jede Mannschaft weit über fünfzig hochspezialisierte Spieler braucht, welche die Trainer von Spielzug zu Spielzug in je wechselnden Konfigurationen einsetzen – wie Schachfiguren eben.

Die geometrisch-gestalthafte Komplexität der verschiedenen Rollen und der aus ihnen zusammengesetzten Konfigurationen wird nun gesteigert durch jene Segmentierung des Spielflusses, an die sich Fußball-Zuschauer nur so schwer gewöhnen können. Nach Spielzügen von durchschnittlich zehn bis zwanzig Sekunden wird die Bewegung unterbrochen, sobald der ballführende Spieler mit seinem Knie den Boden berührt hat, manchmal minutenlang. Danach stehen sich das offensive und das defensive Aufgebot der Mannschaften vor dem nächsten Spielzug bewegungslos wie Skulpturengruppen gegenüber und wecken unter den Zuschauern eine atemlose Spannung von dreifacher Komplexität: wie die Mannschaften jeweils aufgestellt sind, macht es den Zuschauern erstens möglich, Hypothesen im Blick auf den nächsten (unter Hunderten von eingeübten) Spielzügen zu entwickeln; daran schließt zweitens die nie ganz zu eliminierende Frage an, ob in der je gewählten Aufstellung der Spieler ein Täuschungsmanöver liegt; und entscheidend für den Fortgang des Spiels ist dann drittens und selbstredend, ob der Mannschaft in der Offensive ihr geplanter Raumgewinn gelingt oder durch die Intervention der defensiven Spieler unterbunden wird.

Diese in den Mannschaftssportarten singuläre Komplexität aus diskreten Einheiten, welche permanent hellwache Intelligenz bei Spielern wie Zuschauern aktiviert, ist die eine — von außen fast immer unterschätzte — Dimension des American Football (welche sich übrigens empirisch in der Tatsache bestätigt, dass an den allermeisten Universitäten die Football-Spieler akademisch erfolgreicher sind als die Athleten anderer Sportarten). Dass sich diese Football-Intelligenz aber auf dem Spielfeld in der Form geregelter Gewalt artikuliert, macht die andere Zentral-Dimension des Spiels aus. American Football ist Gewalt als Kampf um die Eroberung von Räumen durch Körper gegen den Widerstand anderer Körper (und für die Gesundheit der Spieler potentiell bedrohliche Konsequenzen der Gewalt werden durch wenige, aber strikt beachtete Regeln wirksam minimiert).

Die Intensität dieses Sports entsteht also immer wieder aus der Verfugung der beiden Dimensionen, aus der Kombination von komplexitätsverarbeitender Intelligenz mit einer im Raum wirksamen Gewalt. Hinzu kommt eine Zahl von Regeln und strategischen Möglichkeiten, durch die im American Football fast jeder Spielstand bis zum Ende prekär und reversibel gehalten werden kann. Was sich auf dem Spielfeld vollzieht, ist wie eine komprimierte Version der Alltagswelt: komplex und vielfältig; konkret und gewaltsam; kontingent und bis zur letzten Sekunde immer nur vorläufig.

Der Schmerz der Niederlage aber hat im American Football — wie die Euphorie des Sieges – eben wegen des Kontrasts und der gleichzeitigen Verfugung von strategischer Intelligenz mit konkreter Gewalt eine singuläre Intensität. Verlieren ist hier immer eine Erniedrigung der Intelligenz, welche durch die zugleich erfahrene körperlicher Unterlegenheit einen Schatten von Schande hat. Und die Schande der körperlichen Unterlegenheit kann nicht durch Ansprüche auf überlegene Intelligenz ausgeglichen werden. Trostpreise auf der Seite strategischer Schönheit oder der herausragenden physischen Kraft sind nicht akzeptabel im American Football, weil die Wirklichkeit des Spiels aus der Synergie und Konvergenz beider Seiten entsteht – und deshalb werden einseitige Entschuldigungen von Spielern und Trainern stets kategorial zurückgewiesen. Eine Niederlage im American Football lässt keinen Raum zur Kompensation und keine Distanz für tröstendes Vergessen. Sie ist so gnadenlos klar und definitiv, wie das Ende einer griechischen Tragödie: man hätte dahin nie kommen sollen, wo man verloren hat.

All dies, all die Identität und spezifische Energie des American Football realisiert sich freilich in einem Rahmen, der heute jedem sportlichen Wettbewerb gesetzt ist. Gerade weil Niederlagen und Siege keine Konsequenzen außerhalb der Spielfelds haben, läßt sich ihre Faktizität, als Faktizität von insulären Ereignissen nicht umkehren oder modifizieren. Den Schmerz der Niederlage und die Freude des Sieges erleben wir beim Sport in eigentümlicher Aussschließlichkeit. Sie sind nichts als Niederlagen oder Siege – im American Football Siege ohne Skepsis und Niederlagen ohne jede Chance von Kompensation. Deshalb wird es noch Tage – vielleicht Wochen – dauern, bis die Befürchtung vorbeigeht, dass mir die Niederlage meiner Mannschaft ins Gesicht geschrieben ist.