Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Intellektuelle Leidenschaft in der Drittmittel-Welt?

Intellektuelle Leidenschaft ist zu einer Erinnerung an Vergangenheiten geworden. Das Denken soll Bedeutung durch seine Finanzierung belegen. Ist der Geist zu neuen Horizonten aufgebrochen?

Es gab eine Zeit – und sie liegt keineswegs in unsichtbarer Ferne – als die Identifikation mit intellektuellen Positionen (oder ihre Ablehnung), als die Begeisterung für ein Gedicht (oder seine Kritik) eine Sache der Leidenschaft war, weit über persönliche Beziehungen und Affinitäten hinaus. Noch vor wenig mehr als einem Jahrzehnt schien zum Beispiel für viele Geisteswissenschaftler, aber auch für nicht-professionelle gebildete Leser das Heil und die Zukunft der Menschheit im ganz wörtlichen Sinn von einer Übernahme der “Dekonstruktivismus” genannten philosophischen Thesen und Gesten Jacques Derridas abzuhängen (oder auch von ihrer definitive Zurückweisung). Daran zerbrachen damals Freundschaften und dafür wurden vielversprechende Karrieren aufs Spiel gesetzt — so wie wenig vorher in Deutschland für mehr oder weniger kritische Rückblicke auf die nationale Geschichte im “Historikerstreit;” für geschlechtspolitische Ziele; für Konzeptionen innerhalb des “Postkolonialismus;” oder, in der Zeit unmittelbar nach 1968, für die eine oder andere Variante innerhalb eines je verschiedene politische Zukunftsperspektiven eröffnenden, immer “neuen” Marxismus. Nicht die aus so vielfachen Wert- und Begründungssystemen enstandene, historisch spezifische Konfiguration des Denkens macht den Unterschied zwischen jener Vergangenheit und unserer Gegenwart aus, sondern die damals von allen denkbaren Antagonisten – stillschweigend oder explizit — geteilte Prämisse, dass es existentiell bedeutsamer sei als irgendeine andere Entscheidung, für welchen Ort an diesem Horizont intellektueller Möglichkeiten man sich engagiert. So harmlos das Thema auch sein mochte, selbst an den Reaktionen auf akademische Gastvorträge konnten sich im letzten Drittel der vergangenen Jahrhunderts die Geister nicht selten sehr heftig scheiden.

Mittlerweile aber haben wir Intellektuellen uns in einer anscheinend grenzen- und horizontlosen Ebene der ängstlichen Selbstrelativierungen verloren, die wie eine Realisierung des Nietzsche-Bilds von der “Wüste” des “Nihilismus” wirkt. Gegnerische wie eigene Ansprüche des Denkens wollen wir als “Konstruktionen” auf mehr oder weniger evidente Interessen zurueckfuehren, und jeder Schritt in diesem Sinn ist von der potentiell selbstvernichtenden Frage nach dem potentiellen “gesellschaftlichen Interesse” begleitet. Längst haben wir – nicht nur an den Universitäten – den Konkurrenzkampf um substantielle Bedeutung gegenüber den Natur-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften, vor allem aber neuerdings gegenüber den Denkformen und Entdeckungen der verschiedenen Ingenieurs-Disziplinen mit ihren evident wirkenden Ansprüchen auf “Praxisrelevanz” aufgegeben — und fühlen uns in ewig sekundäre Positionen der Defensive abgedrängt.

Die international immer matter werdenden Bemühungen um Restbestände unserer Existenzberechtigung innerhalb von Bildungsinstitutionen und Medienprogrammen haben sich in Deutschland zu der besonders scharfen Variante eines Kampfes um die sogenannten “Drittmittel” verdichtet. Seine persönliche, aber auch die Bedeutung seiner Institution und seines Fachs stellt auf diesem Markt unter Beweis, wer innerhalb genau vorgegebener Wettbewerbsbedingungen finanzielle Förderung für möglichst breit angelegte “Forschungsprojekte” einwirbt. Dies impliziert auf der einen Seite, dass intellektuell wichtig nur sein kann, was solche Mittel beansprucht und tatsächlich erhält (die Einwerbung von Drittmitteln wirkt sich direkt gehaltssteigernd aus, viel deutlicher als Publikationen oder gar Erfolg in der Lehre); und das hat auf der anderen Seite – was durchaus grotesk ist — längst zu einer Abhängigkeit des Denkens von den ins Auge gefassten institutionellen und finanziellen Ausmaßen seiner Realisierung geführt. Deshalb ist die Drittmittel-Trächtigkeit von zu verfolgenden Fragen und Themen als Motivation an die Stelle ihrer intellektuellen Faszination getreten. Als Figur des Denkers für Gegenwart und Zukunft profiliert sich nun immer deutlicher der Typ eines ehemaligen Autors und Lehrers, dessen “Anträge” wiederholt zur Gründung von “Sonderforschungsbereichen” geführt und so möglichst viele jüngere Kollegen in ein eher hartes (und meist wie Brei schmeckendes) Brot gesetzt haben. Längst ist der paradoxale – aber weitgehend durch kollektives Schweigen isolierte – Effekt dieser Situation empirisch bekannt: jene angestrengten Projekte, deren Finanzierungs-Volumen ihre “gesellschaftliche Bedeutung” belegen soll, finden weit weniger Leser-Interesse als von individuellen Autoren geschriebene Bücher und Denk-Institutionen im traditionellen Stil.

Vielleicht sind wir also am Ende einer historischen Strecke angelangt, die mit einer Explosion intellektueller Leidenschaft in der Vorgeschichte der Universität als Institution eingesetzt hatte. Im frühen zwölften Jahrhundert fühlte sich Pierre Abélard, ein junger Adliger aus der Bretagne, der zu lesen und schreiben gelernt hatte (was in seinem Stand nicht die Regel war), unwiderstehlich von der Aura theologischer Vorlesungen und Debatten an der Kathedralschule von Paris angezogen, wo zum ersten Mal die Texte und Dogmen der christlichen Tradition an den abstrakten Kriterien der Logik und der argumentativen Rhetorik gemessen wurden. Bald schon trat Abélard in Konkurrenz mit seinen Lehrern, wurde in über Jahrzehnte anhaltenden intellektuellen Machtkämpfen von der Seine-Insel der Kathedral-Schule auf das linke Ufer des Flusses und an die Peripherie der Stadt verdrängt; kehrte als der dominante Lehrer, den Hunderte neuer Schüler hören wollten, nach Paris zurück; geriet mit der Autorität des Vatikans in Konflikt und versöhnte sich – um schließlich in eine Episode erotischer Leidenschaft mit seiner Schülerin Heloïse verstrickt zu werden, welche beider Namen weit über die Geschichte der Theologie hinaus bis heute berühmt gemacht hat. Heloïse und Abélard glaubten zu wissen, dass in ihrer Existenz nicht Platz sein konnte für ein Nebeneinander von erotischer und der intellektueller Passion — und entschieden sich am Ende für voneinander getrennte Leben, was die Möglichkeit ihrer je individuellen intellektuellen Leidenschaften bewahren sollte.

Unter mehreren Perspektiven wirkt diese Geschichte emblematisch wie eine Ouverture, die der Gründung der Universität von Paris – wahrscheinlich der ältesten aller Universitäten – vorausgeht. Ihr Ursprung lag in der Intensität uhd der Ausstrahlung der Kathedralschule, welche von institutioneller Nützlichkeit und ihrer Konsolidierung denkbar weit entfernt waren. Vielmehr verwirklichten sie sich in der Brillanz individueller Denker und in ihrer Rivalität, das heißt gerade nicht unter den Voraussetzungen von breit angelegter Komplementarität oder Konsensus. Und diese in Paris konzentrierte Emergenz der Denk-Leidenschaft brachte ein Gefühl hervor, das nicht als kategorial verschieden von erotischer Leidenschaft erlebt wurde, ja mit ihr in Spannung trat und von Abélard und Heloïse am Ende im Sinne einer starken Affirmation (und nicht im Sinn von Enthaltsamkeit) der Erotik übergeordnet wurde.

Natürlich visiere ich keine Analogien zwischen der Intensität jenes historischen Moments und der Situation der Geisteswissenschaften im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert an. Der genealogische Blick soll einfach suggerieren, wie man maximalistisch die – eher lakonische – Bemerkung des Rektors meiner Universität verstehen kann, nach der die auch heute institutionell bedingungslose Bedeutung der Geisteswissenschaften darin liegt, dass sie allein die Universitäten zu Orten des Denkens, zu intellektuellen Orten, zu Orten einer spezifischen Form und einer besonderen Tonalität von Leidenschaft machen. Aber können wir diese – inzwischen von verkrampfter Selbstreflexion weitgehend absorbierte – Leidenschaft denn noch wiederfinden? Ich glaube, dass die vielfältigen Bemühungen von Geisteswissenschaftlern, ihre Stimme in den verschiedensten Ethik-Diskussionen geltend zu machen, eine Spur solch gutgemeinter Bemühungen zeichnen. Doch zu oft geht es in diesen Debatten bloß um die nachträgliche Begründung von Präferenzen und Entscheidungen, die längst gefallen sind – zugunsten einer neuen Beziehung zwischen den Geschlechtern zum Beispiel oder zugunsten eines Alltagsverhaltens, das als ökologisch verantwortungsvoll gelten kann. Solche Nachträglichkeit des Denkens hält uns wohl gerade auf Distanz von der Leidenschaft.

Eine ganz andere, durch die Offenheit möglicher Antworten bewegte Intensität spüre ich in Gesprächen, die weit entfernt sind von Zusammenhängen direkter Nützlichkeit und Praxisrelevanz. Etwa in den anhaltenden Reaktionen auf die von Heidegger vor einem halben Jahrhundert zuerst gestellte – und nun auf unsere digitale Welt zu beziehende – Frage, ob sich in den Technologien der Gegenwart das Potential eines “Wahrheitsereignisses” verberge, welches freizusetzen uns noch nicht gelungen ist. Oder in den Debatten um den evolutionären und funktionalen Stellenwert des menschlichen Bewusstseins innerhalb des Kosmos, zwischen einer Sackgasse von Exzentrizität und einer nicht mehr theologisch begründeten universalen Relevanz. Beeindruckend ist einfach die Kraft des Denkens, welche solche Themen auslösen — nicht irgendein zur Geltung gebrachter Anspruch auf vorrangige Bedeutung.

Zugleich kann niemand auszuschließen, dass sich das Denken, dass sich die intellektuelle Leidenschaft, dass sich der “Geist,” wie Hegel gesagt hätte, in institutionelle Dimensionen fortbewegt hat, welche die Geisteswissenschaften nie als die Ihren beanspruchten: in die Musik vielleicht, in den Sport als funktionsfreie Welt körperlicher Höchstleistungen – oder in das “Schreiben” elektronischer Programme, welches eher denn ein Auf-Schreiben ja möglicherweise das Gegenwarts-Äquivalent des intensiven Denkens geworden ist.