Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Zeit ohne Leidenschaft / Zeit für Balzac

"Leidenschaft" klingt heute wie ein Begriff aus ferner -- und eher peinlicher -- Vergangenheit. Könnte dies ein Grund sein, sich in das Werk von Honoré de Balzac zu vertiefen, dem grossen Romancier der Leidenschaften?

“Leidenschaft” gehört jetzt zu jenen Begriffen die für ausgemustet ansieht und ausgemustert stehen lässt, wer intellektuell auf sich hält. Nach abgegriffener Individual-Romantik in Plüsch klingt das Wort, wie Romantik, die nicht besser wird durch einen Hauch von Erinnerung an den Existentialismus von vor sechzig Jahren (wer “Leidenschaft” sagt, wird dann Peinlichkeits-steigernd auch noch vom “Schicksal” reden).

Solches Taxieren des Prestige-Kurses einzelner Wörter kann man (auf langen Flügen in Economy zum Beispiel) weiter- und überspielen zu einer Art Patience ohne Karten. Wenn “Leidenschaft” als Angebot und Dimension zur Beschreibung psychischer Situationen unrettbar veraltet wirkt, dann sind die Begriffe “Identität” und “Trauma” Teil eines gegenwärtigen Standards. Auch sie führen wie ein blasses Halo die intellektuelle Stimmung ihrer Ursprungs mit sich. “Trauma” kommt aus jener kurzen Zeit der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, wo zum ersten Mal psychoanalytische Konzepte populär wurden, welche dann ihrerseits beginnnende, noch sehr scheue Versuche beförderten, die eigene Gegenwart im Verhältnis zu den Jahren des Nationalsozialismus zu denken. “Identität” hingegen klingt nach den sachlichen siebziger und achtziger Jahren, nach Niklas Luhmann etwa – obwohl gerade er darauf bedacht war, für diesen Begriff keinen Platz zu lassen in seinem fabelhaften Begriffsgebäude. Zu einer “kollektiven Identität” sollte und wollte man damals unbedingt gehören, wobei nie ganz klar wurde, warum eigentlich — während inzwischen die potentielle Gegen-Frage im Vordergrund steht, ob nicht viel weniger greifbar und also auch weniger manipulierbar lebt in der elektronischer Welt, wer keine oder nur eine flache Identität hat. Stark im Kommen (aber wohl noch nicht auf dem potentiellen Popularitäts-Zenith angekommen) ist schließlich “Intensität.” Nach Momenten der Intensität sehnt sich der auf allen Seiten so sozialdemokratisch gepolsterte Bürger im ereignisarmen Europa, nach einer kräftigen Steigerung des immer Selben also (und wenn das Wort demnächst mehr als bloß ein Geheimtip ist, dann wird eine Doktorarbeit entdecken, dass Gilles Deleuze – selbst der ewige Geheimtip im Intellektuellen-Ranking – schon vor fünfzig Jahren auf “Intensität” gesetzt hatte).

Aber warum dann doch nicht gleich “Leidenschaft,” wo es schon um existentielle Steigerung geht? “Intensität,” so heißt eine mögliche Antwort, wirkt neutraler, lässt – anders gesagt – nicht die altertümliche Rüstung romantischer Individualpsychologie auf die Szene des Denkens zurückkehren. Außerdem haben wir uns allzu sehr an Billigstversionen des Wortes “Leidenschaft” gewöhnt. Heute gilt man als “leidenschaftliche Skifahrerin,” “leidenschaftlicher Weinkenner,” oder auch (in selteneren Fällen) als “leidenschaftlicher Leser.” Das bedeutet, “Leidenschaft” ist zu einer Art Präfix heruntergekommen, das soviel wie “Amateur-“ bedeutet und betont, wie bestimmte Aktivitäten oder bestimmtes Wissen “nur zum Spaß” kultiviert werden. Verlorengegangen ist die Dimension des “Leidens” an solcher Hingabe, das über den Ursprung vom lateinischen Wort “passio” ja auch in den Synonyma der meisten anderen europäischen Sprachen gegenwärtig bleibt. Vielleicht ist der schön-paradoxale Gedanke, dass die Existenz etwas zu gewinnen hat von einer Schicht des Leidens, unannehmbar geworden für die verwöhnten Psychen auf dem alten Kontinent.

Genau dies gäbe es neu zu erfahren in einer Lektüre der großen Romane von Honoré de Balzac – und zwar ganz selbstverständlich, wenn nicht Balzac selbst (ebenso wie die Leidenschaft) zu einer flachen Erinnerung an Subjekt-ekstatische Vergangenheiten geworden wäre. Dabei setzte sein explizites Programm auf einer der “Leidenschaft” genau entgegengesetzten begrifflichen Seite ein. In dem ehrgeizigem Vorwort (“Avant-propos”) zu dem Projekt eines Systems von Romanen, das er, sich mit Dante vergleichend, “La Comédie humaine” nannte und in dem er die Totalität der französischen Gesellschaft seiner Lebenszeit (der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts) als “ihr Sekretär” darstellen wollte, orientierte sich Balzac am Modell der Zoologie. Dass die Umwelt jede Tier-Gattung präge, gelte auch auf die verschiedene Grundtypen der Menschheit — hinzu komme allerdings der Komplexitäts-Moment des “Zufalls.” Glücklicherweise haben Balzacs Romane diese potentielle Leerstelle des Zufalls mit einer literarischen Phänomenlogie der Leidenschaften ausgefüllt (was dem Autor selbst, dem vielfache – nicht nur schriftstellerische — Leidenschaften nur wenig Zeit zur Reflexion ließen, kaum bewusst gewesen sein dürfte).

An das Programm einer Systematik milieugeprägter sozialer Typen hat sich Balzac allerdings nur zu Beginn der “Comédie Humaine” gehalten. Die Familie Grandet in “Eugénie Grandet” aus dem Jahr 1833, seinem ersten bei Kritikern wie Lesern erfolgreichen Roman, illustriert mit geduldigem Detailaufwand die geistige und räumliche Enge einer provinziellen Oberschicht. Eugénie, die einzige Tochter eines mit seiner Geld-Monomanie überaus erfolgreichen Vaters, schenkt ihr Herz und einen Teil ihrer Erbschaft dem aus Paris in ein bis dahin immer nur gleiches Leben stoßenden Cousin Charles, wartet dann über lange Jahre auf seine Rückkehr – und wird im Moment der unvermeidlichen Enttäuschung zu einer ebenso herben wie wohltätigen Dame der Provinz-Welt. Eine eigentümliche Melancholie geht aus von dieser Romangestalt, die an ihrer geduldig ertragenen Treue nicht zerbricht.

Wahre Leidenschaft hingegen, glaubte Balzac, sei immer zerstörerisch, zerstörererisch für die Gestalt, in der sie sich konzentriert, und zerstörerisch für deren Opfer. Dies gerade bewahrheitete sich noch nicht in der maßlosen Gier des Vaters Grandet und in Eugénies enttäuschter Liebe – da ja sowohl das Vermögen wie das Ansehen der Familie Grandet bewahrt bleiben. Die leidenschaftliche Liebe eines anderen, wenige Jahre später erfundenen Vaters aber, die Liebe des Vaters Goriot zu seinen beiden Töchtern, richtet nicht bloß sein Vermögen, sondern auch seine Existenz zugrunde. Nachdem er ihnen den Aufstieg in die höheren Schichten einer für ihn neuen (nun bürgerlichen-dynamischen) Gesellschaft ermoglicht hat, wartet der Vater Goriot in einer frugalen Pension bis zu den Stunden des Sterbens vergeblich auf ihren Besuch. Wie er so geben auch die von Ressentiment getriebene Cousine Bette und der Cousin Pons, ein leidenschaftlicher Sammler, die Titel für “ihre” Romane vor, in denen besonders deutlich wird, wie Leidenschaft die soziale Umwelt zersetzt.

Mit “Illusions Perdues” und “Splendeurs et misères des courtisanes,” Balzacs längsten Romanen, wo er das Erzähl-Verfahren der Wiederkehr von Protagonisten auf die Spitze treibt, werden die Leidenschaften der Protagonisten unspezifischer, impulsiver bis zur Unendlichkeit (schon aus diesem Grund allein kann der Autor seine Helden nicht mehr verabschieden) und schließlich tödlich. Bereits in “Le Père Goriot” war ein junger Mann mit dem Namen Rastignac aufgetaucht, der den sozialen Aufstieg um jeden Preis, der Paris erobern wollte wie ein “Raubvogel seine Beute” — und darin (meist auf Kosten der anderen) erfolgreich war. In “Illusions perdues” scheinen sich dann Rastignacs Leidenschaft und die Leidenschaft von Lucien de Rubempré, einem talentierten jungen Dichter aus dem provinziellen Angoulème, ganz ähnlich zu entfalten. Doch Lucien ist weniger kompromisslos und vor allem selbstverliebter als Rastignac und muss gescheitert in die Heimat zurückkehren, wo inzwischen die Folgen seiner Leidenschaft Schwager und Schwester in Armut gestürzt haben.

An der Schwelle jenes Roman-Moments der Selbstmordgedanken nimmt sich Luciens und seiner finanziellen Sorgen ein Mitglied des hohen Klerus mit spanischem Namen an. Doch dieser Name fungiert als Maske. Der “Abbé Carlos Herrera” ist (in Balzacs fiktionaler Wirklichkeit) Vautrin, alias Jacques Collin, ein ehemaliger Galeerensträfling, der als genialer Spekulant zu beträchtlichem Reichtum gekommen ist, und für eine Zeit schon den gesellschaftlichen Aufstieg von Rastignac begleitet hat. Lucien wird Vautrins ganzer Lebensinhalt. Zur Erfüllung der erotischen Träume des Schützlings bringt Vautrin die schöne Esther in sein Leben; und zugleich will er ihm die Einheirat in den Hochadel ermöglichen. Doch das komplexe Meister-Projekt scheitert, Vautrin und Lucien werden verhaftet und weil Lucien – anders als Vautrin — dem Druck der scharfen Polizei-Verhöre nicht gewachsen ist, erhängt er sich in seiner Zelle. Dieses Ereignis zerstört für immer Vautrins Existenz: “Kein Tiger, dessen Junge entführt wurden, hat je im Dschungel Indiens einen so schrecklichen Schrei ausgestoßen wie Jacques Collin.’”

Wenn auch Vautrin aus den Verhören in einer wahrhaft romanhaften Wendung schließlich als Polizeipräfekt von Paris hervorgeht, so lindert dies doch keinesfalls den Wund-Schmerz seiner Leidenschaft – deren Energie von außen zu kommen scheint, vage bleibt und deshalb umso ekstatischer wirkt. Balzac — oder genauer: der immanente Roman-Erzähler – geht so weit, wie es die Konventionen seiner Zeit erlaubten, um dem Leser zu suggerieren, dass Vautrin von Zuneigung, Sorge und homoerotischer Begierde getrieben und eben deshalb von Luciens Selbstmord zerstört wurde. Sein Über-Leben war nichts als stoisch ertragene Qual.

Zugleich spürt man in Balzacs die Leidenschaften beschwörender Sprache oft den heißen Atem einer Hast, eines Getriebenseins und die Spuren einer prekären Existenz. Denn die explizit beschriebenen Leidenschaften seiner Helden scheinen von den Niederlagen, Frustrationen und Wunden aus Balzacs eigenem Leben durchdrungen. Obwohl er schon unter seinen Zeitgenossen Ansehen und sogar einen gewissen literarischen Respekt genoss, scheiterten immer wieder seine hochfliegenden Projekte, es zu mehr Reichtum und Status zu bringen. Deshalb war Balzac zu einem seine Gesundheit ruinierenden Rhythmus des Romanschreibens (und Kaffee-Trinkens) gezwungen — und fand bis wenige Monate vor seinem Tod mit einundfünzig Jahren auch keine Ruhe in einer Jahrzehnte währenden Liebe zu Ewa Hanska, einer seine Romane – und bald auch ihren Autor — bewundernden Dame aus der Gegend des Schwarzen Meers.

Balzacs Werk muss im vergangenen halben Jahrhundert viel von der Faszination verloren haben, die ihm seit der Mitte seines eigenen bis zur Mitte des vorigen Jahrhundert entgegengekommen war. Vielleicht ist es den Lesern unserer Gegenwart einfach zu beschwerlich geworden, sich auf einen Autor einzulassen, dessen Signatur schiere – verbale wie emotionale — Exuberanz war. Wir haben zwar immer mehr Zeit zu lesen, aber finden es doch immer schwieriger, einfach viel zu lesen – und niemand richtet sich in Balzacs Welt ein, der nicht viele Hunderte von Seiten vrschlungen hat. Was können wir erwarten von jener Welt, deren realhistorischer Horizont mittlerweile in so weite Ferne gerückt ist, dass wir sie nicht mehr als Beginn unserer eigenen Welt identifizieren?

Vielleicht hilft eine Analogie. Je dysfunktionaler unsere Körper für eine Existenz werden, die sich heute vor allem als Fusion aus Bewusstsein und Software vollzieht, desto attraktiver scheint es, diese Körper durch selbstgesetzte Herausforderungen von der Schärfe eines Marathonlaufs in Wachheit und am Leben zu halten. Ähnlich mag es mit den Leidenschaften gehen. Gerade weil unser Alltag sie unter Kontrolle bringt und einklammert (was erklärt, warum “Leidenschaft” auf den ersten Blick so altmodisch wirkt), könnte unsere Gegenwart eine Zeit für die Lektüre von Balzacs Romanen mit ihrem heftigen Atem der Leidenschaft sein – bis hin zu den Leidenschaften, deren Ursprung und Begierde verborgen bleibt. Große Literatur hat schon immer dafür gesorgt, dass ihre Leser nicht die Dramen des Leben versäumen.