Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Was es ist, wie ein Vogel zu fliegen

Die Bewegungen von Tieren wecken Sehnsüchte nach einem anderen Leben. Aber können unsere Sehnsüchte und Projektionen je zu Gewissheiten werden? Lässt sich erfassen, was es ist, wie ein Vogel zu fliegen?

Ein philosophisch gestrenger oder ein pragmatischer Geist, aber das läuft ja oft auf dasselbe hinaus, ein gestrenger Intellektueller wird Fragen des Typs, was es ist, wie ein Vogel zu fliegen, schroff zurückweisen. Sie seien nutzlos, weil Menschen nie tatsächlich zu Vögeln werden können, und überschössen deshalb hoffnungslos nicht allein den Horizont unserer Erfahrung, sondern auch den unserer Vorstellungskraft. Gegenüber dem erwartbar strengen philosophischen Einwand ließe sich einwenden, dass Menschen – ganz ohne Genehmigung einer intellektuellen Zentral-Autorität – solche Fragen schon immer gestellt und beantwortet haben, wie zahllose Namen, Embleme und Metaphern in der Geschichte aller Kulturen belegen. Das unter abendländischen Rhetorik- und Grammatikspezialisten beliebteste Beispiel ist das Bild vom “Löwen in der Schlacht,” mit dem sich wahre, potentielle oder auch vermeintliche Helden immer wieder identifiziert haben. Natürlich liegt sein Ursprung in der denkbar naiven Projektion eines menschlichen Gefühls auf das Aussehen und die Bewegungen von Löwen. Doch der Hang zu solchen Projektionen ist derart universal, dass man ihn eigentlich zu den definierenden Kennzeichen des Menschseins rechnen muss – und deshalb haben Fragen wie die nach dem Fliegen der Vögel oder dem Jagen der Löwen einen philosophischen Grund und vielleicht ja sogar eine pragmatische Berechtigung.

Vor allem von der Vorstellung, was es sein könnte, wie ein Vogel zu fliegen, war ich schon immer fasziniert (was damit zusammenhängen mag, dass ich seit meiner Geburt noch keinen Tag ohne Übergewicht gelebt habe). Doch mehr als an selbstbezogener “Ursachenforschung” (wem sollte schon an meinen Gründen für diese Faszination liegen?) geht es mir um einige Gefühle, von denen ich eigenartig besessen bin. Ich sehe Möwen oder auch Pelikane über den Pazifik gleiten, zielstrebig und ohne Ziel, einen Fuß wohl über der Gischt der Wellen, und stelle mir voller Begeisterung, aber auch voller Sehnsucht vor, dass sie ihren Flug — mit minimalen Gesten — an das Herauf- und Herab der Wellen anpassen. Und dann gibt es diesen anderen Moment, wo Vögel die Spanne ihrer Flügel mächtig öffnen, ausgebreitet halten und nur manchmal mit einem kaum wahrzunehmenden Schwingen justieren, in eleganter Sparsamkeit. Oder jene Schwärme, die hoch gegen Süden oder Norden ziehen, unbeirrbar vielleicht, sich ablösend in der Führung des Zugs, mit einer Gewissheit von Richtung und Rhythmus, die uns Menschen nicht gegeben ist.

Natürlich weiß ich, dass große – und auch eher mittelmäßige – Lyriker seit Jahrtausenden solche und andere Projektionen der Imagination viel besser auf Begriffe und Metaphern gebracht habe, als es mir je gelingen kann. Doch um das lyrische Spiel von Intuitionen, Projektionen und Metaphern geht es mir nicht. Mein Traum ist, unmittelbar und ohne Zweifel zu wissen, was es ist, wie ein Vogel zu fliegen. Nicht weniger bedeutet das, als selbst ein Vogel zu sein, ausgestattet allerdings mit der unaufhebbaren Selbstbeobachtung des menschlichen Bewusstseins, ohne die das Fliegen nicht zur Erfahrung werden kann, selbst wenn ich flöge wie ein Vogel. Vor neununddreißig Jahren hat der New Yorker Philosoph Thomas Nagel – durchaus im Ernst – die Frage gestellt (und einen Essay darüber verfasst), “was es ist, eine Fledermaus zu sein” (“What Is It Like to Be a Bat”). Das “was” und das indikativische “ist” in Nagels Titel-Frage kann man assoziieren mit der Implikation, dass was hier anvisiert ist, nämlich die für jede Gattung spezifische Relation zwischen ihrem Bezug auf die Umwelt und dem Bezug auf sich selbst, immer schon ein Ding sein muss, nämlich verkörperlichte Welt-Wahrnehmung und ihre verkörperlichte Bearbeitung. Nagel wäre freilich kein zünftig-analytischer Philosoph, wenn er von seiner unseren Imaginations-Appetit weckenden Frage am Ende nicht zu dem ebenso ernüchternden wie plausiblen Schluss gelangte, dass wir Menschen nie wissen werden, was es ist, eine Fledermaus zu sein — so wie Fledermäuse nie ein Erleben vom Menschsein haben werden, weil das je andere “Sein” in diesem Sinn (Vogel-Sein, Löwe-Sein, Fledermaus-Sein oder Mensch-Sein) zwischen den verschiedenen Gattungen prinzipiell nicht nachzuvollziehen ist.

Doch es gibt eine kurze Passage in Nagels Text, nicht mehr als einen Halbsatz, wo aufscheint, wohin gelangen könnte, wer systematisch seine Vorstellungskraft einsetzte, um angeregt von ihrer Bewegung und unserem Wissen über ihre Sinnesorgane einen Eindruck davon zu gewinnen, was es ist, eine Fledermaus zu sein. Es müsse um ein “nach vorne in Bewegung geformtes” Gefühl ihrer selbst in Beziehung zur Umwelt gehen, heißt es, weil die kognitive Ausrüstung der Fledermäuse auf die Ermöglichung eines schnellen und doch kollisionsfreien Flugs im engsten Raum eingestellt scheint. Weiter geht Nagel nicht — und lässt uns dann mit dem alle Imagination lähmenden Verweis zurück, dass wir ja nicht einmal definitiv wissen, ob uns nahestehende Menschen die Welt so erleben, wie wir (je individuell) es tun.

Gewiss hat Nagel recht. Was aber, wenn man trotzdem (und im vollen Bewusstsein von der Unmöglichkeit einer definitive Antwort) weiter fragt und sich weiter vorstellt, was es sein könnte, ein anderes Lebewesen zu sein? Dann läge die wohl größte philosophische Herausforderung darin, zu imaginieren, was es sein müsste, ohne ein Bewusstsein wie das menschliche Bewusstsein zu leben – denn Verhaltensforscher der verschiedenster Schulen konvergieren in der Vermutung, dass es sich beim Bewusstsein um eine spezifisch menschliche Struktur handelt. Niklas Luhmann hat das Bewusstsein als eine Folge von ”Gedanken” beschrieben, wo der jeweils folgende den jeweils vorausgehenden “beobachtet.” Wir erleben und erfahren, was unsere Sinne wahrnehmen, weil uns diese Form des Bewusstseins darauf festlegt, auf das Wahrgenommene zu blicken. Uns vorzustellen, was es wäre, ohne diese für Menschen nicht auszuschaltende Selbstreflexivität (aus der das “Erleben” und das “Erfahren” hervorgehen) zu existieren, das mag unsere vernunftgeleitete Imagination durchaus überfordern. Immerhin gibt es Sportarten (und gewiss auch andere Formen der Praxis: das Spielen eines Instruments, stelle ich mir vor), wo manche Bewegungen begleitet sind von der intuitiven Gewissheit eines “Richtig-Seins,” das nicht erst in der Retrospektive entsteht: wenn die Vorhand beim Tennis den Ball “richtig” trifft, die Hüfte Teil eines Schwungs beim Skifahren wird, ein Läufer seinen Rhythmus findet. Vielleicht liegt in dem Glück, das wir in solchen Momenten spüren, eine Ahnung von der Normalität nicht-menschlicher Existenz.

Ein zu den Bewegungen gehörendes (statt selbstreflexiv gewonnenes) Gefühl von Richtigkeit – oder doch wohl nur: die Absenz von Alternativen — wäre das eine. Die Luft unter den Flügeln des Vogels das andere, die Luft unter den Flügeln, auf der er solider existiert, als wir Menschen mit unseren Füßen auf dem Boden des Planeten es je vermögen. Nichts Prekäres kann für einen Vogel darin liegen, sich den Bewegungen der Luft zu überlassen. Den örtlichen Bewegungen der Luft — und dem universalen Zug der Schwerkraft, wenn er sich in einen Sturzflug begibt und einen von seinen Sinnen registrierten lebenden Gegenstand zerstört und verschlingt. Erfahrungen von solchen Momenten und Erinnerungen an sie produziert die Kapazität eines Vogel-Gehirns wohl kaum, nur immer volle und gewisse Momente im Verhältnis zur Umwelt.

Es gibt ein dem Troubadour Bernard de Ventadorn aus der Provence des zwölften Jahrhunderts zugeschriebenes Lied, an dessen wunderschönem Beginn das Aufsteigen einer Lerche im Flug und dann ganz wörtlich ihr sich Fallen-Lassen assoziiert werden mit dem vollkommenen Glück der Erotik – bevor das Lied in eine lange Klage über den Schmerz der Liebe umschlägt. Dies ist das Unwahrscheinlichste und das Schönste, was unserer Existenz zu bieten hat, eine Beziehung zur Umwelt, die nicht prekär ist – obwohl sie Alternativen hat. Tiere wecken diese Sehnsucht in uns – und mit der Sehnsucht die Illusion, wir könnten wissen, was es ist, eine Lerche zu sein. Doch schon das Menschsein als verkörpertes Verhältnis zwischen Selbstbezug und Umwelt-Bezug zu beschreiben, fällt uns schwer genug – so schwer, dass es eine kanonisierte, für alle Menschen zugängliche und akzeptable Version dieser Beschreibung bis heute nie gegeben hat. Dennoch setzen wir voraus und können voraussetzen, dass die Andere und der Andere, mit denen wir leben, wissen, was es ist, das wir als “Menschsein” voraussetzen (“they know what we are talking” about,” wie man im alltäglichen Englisch oft und gerne sagt). Wechselseitig zu wissen, was wir als “Menschsein” voraussetzen, dessen sind wir sicher, weil wir den — für alle praktischen Zwecke hinreichenden und nicht zu leugnenden — Eindruck haben, unser Verhalten wechselseitig abstimmen zu können.

Dieser – eher pragmatische – Anhalts-Punkt aber scheint die Möglichkeit wieder zu eröffnen, dass wir als Menschen ahnen können, was es ist, ein Falke auf dem Handschuh eines Ritters oder etwa ein Pferd zu sein. Denn setzt nicht unser Zusammenleben mit manchen Tieren, setzt nicht unser Einfluss auf ihr und ihr Einfluss auf unser Verhalten voraus, dass zumindest ein Teil der wechselseitigen Projektionen in einer gegenüber aller Skepsis resistenten Weise “richtig” ist? Und mehr als die – für Momente zu lebende (nie aber zu er-lebende) — alternativenlose Richtigkeit von Bewegungen ist es vielleicht gar nicht, wie ein Vogel zu fliegen.