Von sozialen Spannungen vor allem ist seit einiger Zeit die Rede, wenn europäische Medien über Silicon Valley berichten. Allerdings haben sich diese Spannungen bisher nur selten so deutlich manifestiert wie in den Protesten gegen die mittlerweile international berühmt-berüchtigten Busse, mit denen Google und andere Elektronik-Unternehmen täglich Hunderte Mitarbeiter von ihren Luxusapartments in San Francisco zu den Produktionsstätten fünfzig Kilometer weiter südlich transportieren. Eher indirekt spürbar sind die Spannungen einer schnell anschwellenden Migrationsbewegung, die langjährige Bewohner mit niedrigen oder auch mittleren Einkommen vom Zentrum an die Peripherie von San Francisco treibt und es zugleich immer schwieriger macht, Unterkünfte in der Nähe von großen Silicon Valley-Marken zu mieten. Denn wer auch nur durchschnittlich erfolgreich ist in der elektronischen Industrie, das ist eine selbstverständlich gewordene Voraussetzung, dessen Einkommen steigt bald in Dimensionen, wo man sich Gedanken nur noch bei exorbitanten Anschaffungen machen muss, wie zum Beispiel dem ersten Private Jet oder der Ferienwohnung in Sankt Moritz. Zwei meiner Doktoranden hingegen mussten kürzlich innerhalb weniger Tage mit ihrer kleinen Tochter aus einer vierzig Quadratmeter-Wohnung mitten in Palo Alto auf den Campus der Stanford University umziehen, weil die Miete plötzlich von etwas über tausend auf dreitausend Dollar heraufgesetzt worden war.
So sieht die eine soziale Wirklichkeit von Silicon Valley aus, die sich zu drastischer Intensität verdichtet in dem Kontrast zwischen Palo Alto und East Palo Alto auf der anderen Seite des Freeway 101, der von San Francisco nach Los Angeles führt. Palo Alto ist die Kleinstadt der Multimillionäre und Millardäre, wo gut bezahlte Professoren in fortgeschrittenem Alter mit einem Bruchteil des Einkommens leben, das für nicht wenige ihrer kaum dreißigjährigen Studenten längst als Norm gilt – weshalb die Professoren eher schnell an den üppigen Schaufenstern vorbeiziehen. Dagegen hat sich die Kriminalitätsrate von East Palo Alto in der nationalen Spitzengruppe etabliert, weil es der Polizei nicht gelingt, den Gangs vor Ort die Herrschaft über das Zentrum streitig zu machen. Die wenigen Ansätze zur Veränderung dieser ebenso zufälligen wie erschreckenden Konstellation kommen eigentlich nie aus der bundesstaatlichen Politik. Es gibt ein nicht nur sportlich erfolgreiches Box-Studio, wo afro-amerikanische Trainer bemüht sind, junge Männer und Frauen zu einem unabhängigen Leben auf der Seite des Gesetzes zu motivieren; es gibt die Einladung einiger Elternbeiräte in wohlhabenden Vierteln, Schulkinder aus East Palo Alto zum Unterricht nach Palo Alto zu bringen; und nicht nur hier gibt es die erstaunlich wirksame Initiative von IKEA, durch die Eröffnung einer typischen Riesen-Filiale in East Palo Alto die Beschäftigungssituation zu verbessern. Sozialer Protest oder soziale Politik aber haben noch nie zu den Stärken der Vereinigten Staaten gehört.
In dieser Landschaft gehöre ich zu einer Minderheit, die zwar vor den Schaufenstern von Tiffany’s oder Aston Martin kaum Halt macht, aber durch den Elektronik-Boom weder beeinträchtigt noch in Zukunfts-Euphorie gehoben wird. Aus solcher Distanz glaube ich wahrzunehmen, dass die demographische Mehrheit – anders als meine Kollegen und ich — zwar unter den Folgen der wirtschaftlichen Dynamik leidet, aber sich von ihr doch auch in einen permanenten und oft wirklich ekstatischen Zustand der Hoffnung versetzen lässt. Diese Duplizität ist es, welche Silicon Valley zur letzten Version des “American Dream” macht – und vorerst bleibt die Frage offen, ob man “letzte Version” im Sinn von “jüngster Version” verstehen soll, oder im Sinn eines “historischen Endes” dieser wirkungsmächtigen und doch meist illusionären Stimmung.
Natürlich wirkt die Hoffnung auf das viel bessere Leben als eine Ideologie der schlimmsten Art, wenn sie etwa die Bewohner von East Palo Alto blind macht für die Ungerechtigkeit ihrer existentiellen Situation – aber es trifft ebenso zu, dass die Chancen einer begabten und hart arbeitenden Schülerin aus East Palo Alto, mit einem Voll-Stipendium von Stanford oder Harvard aufgenommen zu werden und sich auf den Weg zur nationalen Elite zu machen, statistisch größer sind als die Chancen des Kinds aus einer Hartz IV-Familie, an guten deutschen Universitäten zu studieren. Mit anderen Worten: der American Dream erfüllt zwar heute (wie schon immer in seiner Tradition) vor allem eine ideologische Funktion, aber gleichzeitig hat er permanent neue institutionelle Formen hervorgebracht, welche die amerikanische Gesellschaft und das amerikanische Leben dynamisch und (im ambivalenten Sinn des Begriffs) dramatisch wirken lassen. Der “Weg nach oben” über College und Universität hat eine lange Geschichte, deren Einfluss-Möglichkeiten seit gut zwei Jahrzehnten mittels der “affirmative action” gesteigert worden sind, das heißt durch die Möglichkeit, Bewerbern aus unterprivilegierten Schichten Zulassungsvorteile einzuräumen (was allerdings inzwischen nach einem Urteil des Obersten Bundesgerichts nur noch privaten Universitäten erlaubt ist).
Spezifisch in Silicon Valley hat sich als eine andere Konkretisierungs-Form des American Dream – und sozusagen “neben” dem College-Studium – die “Start-up” Company entwickelt. Die Idee des “Start-up” (das Wort selbst tauchte erst vor wenigern Jahren auf) ist geschichtlich mit der Stanford University verbunden und mit Frederik Terman, einem charismatischen Professor der Ingenieurswissenschaften, der in den Jahren der amerikanischen Depression seine ehemaligen Studenten (unter ihnen Walter Hewlett und David Packard) zur frühen Gründung eigener Firmen motivierte und dabei erfolgreich beriet. Heute ist der Begriff für Silicon Valley und – weltweit – für die elektronische Industrie emblematisch geworden, ohne notwendig auf sie beschränkt zu sein. Start-ups sind Firmen, die – noch ohne Profit zu machen – an der praktischen Realisierung einer Idee arbeiten, für die ein breiter Markt bereitzustehen scheint. Ihre Attraktivität für Investoren hängt ab von einer spezifischen Proportion zwischen drei Faktoren: der notwendigen Investition (möglichst niedrig), der Zeit und Gewissheit ihrer Realisierung (möglichst kurz und gewiss) und dem (möglichst globalen) zukünftigen Markt.
Wer in einem Start-up arbeitet, der s scheint seine Motivation gar nicht primär aus finanziellen Erwartungen, sondern aus einer abstrakteren, gleichsam “sportlichen” Sehnsucht nach Erfolg zu beziehen. Nichts ist wichtiger für solche Träume als die sogenannten “Angel Investors,” welche Start-ups ohne Garantie zukünftiger Erfolgsbeteiligung unterstützen, weil ihnen daran liegt, ein Geschäftsklima aus vielfach differenziertem Talent und instinktiver Erfolgssehnsucht, aus kräftiger Resonanz und beständiger Großzügigkeit gedeihen zu lassen. Dieses Klima muss der Grund sein, warum mittlerweile eine dritte und schon eine vierte Generationen von Elektronik-Herstellern in Silicon Valley lebt, obwohl es doch gerade ihre Produkte ermöglicht haben, Arbeit von der Bindung an bestimmte Orte zu befreien. Ohne Zweifel hätte Mark Zuckerberg “Face Book” weiter von Boston aus steuern können – doch offenbar versprach er sich entscheidende Impulse von der Start-up Umwelt. Dass zu ihr neben dem “Glauben” an eine zündende Idee, neben der Großzügigkeit der Investoren und dem alle verbindendem Optimismus auch flache Hierarchien und die Ermutigung zu individueller Exzentrizität am Arbeitsplatz gehören, ist längst zu einem Element ain der Suppe heutigen Konversationswissens geworden.
Von jener Mehrheit der Start-up Gründer und Investoren aber, die stagnieren, an die Peripherie gedrängt werden und scheitern, hört man in Silicon Valley kaum – zu ihrer Klagemauer sind die europäischen Feuilletons und Oberseminare geworden. Doch die Unsichtbarkeit des Misserfolgs hat kaum mit Repression zu tun – und viel weniger noch entwirklicht sie diese letzte Version des American Dream. Im Gegenteil, dieses nie verordnete Schweigen gehört als eine Komponente des “positiven Klimas” in der Start-up Welt zu ihrer Wirksamkeit. Für die Erfolgreichen hingegen ist soziale Großzügigkeit (“Philanthropy” nennt man sie traditionellerweise) schon immer das eigentlich amerikanische Emblem gewesen – doch noch nie ist diese Großzügigkeit wohl so schnell und so kraftvoll zum Ursprung ihrer Möglichkeit zurückgeflossen wie im Alltag der Start-ups. Deshalb ist das schneidige Elektro-Auto TESLA dabei, die Ferraris, Porsches und BMWs bei der Elite von Silicon Valley zu ersetzen. Denn der in Silicon Valley produzierte TESLA gilt einerseits – mittlerweile nicht mehr nur in Kalifornien – als Fahrzeug der Zukunft und ist andererseits bis 2013 unter typischen Start-up Bedingungen hergestellt worden, also in einer Firma, die unter der Profitgrenze operierte. Aber auch der Kapital-Rückfluss von den Erfolgszentren des American Dream nach Stanford, seinem historischen Ausgangspunkt, ist kräftig gewachsen – so dass wir im vergangenen Jahrzehnt Harvard vom Ehrenplatz der Universität mit den höchsten Spendenaufkommen verdrängt haben.
Unterstellt ist immer, dass solche Großzügigkeit das Klima ihres Ursprungs intensivieren wird – und ihre Zyklik bleibt durchaus nicht auf die Welt der Ingenieure und Investoren beschränkt. Ohne es “empirisch” belegen zu können, spüre ich, wie jenes Klima die Welt der Geisteswissenschaften an der Universität nicht nur finanziell mit-trägt, sondern auch inspiriert. Dass zu unserer “Philosophical Reading Group,” wo wir Trimester für Trimester (“under no-credit conditions”) je einen philosophischen Klassiker in lebhaften Donnerstagabendsitzungen lesen, auch Silicon Valley-Intellektuelle (so nenne ich sie) gehören, wundert hier niemanden mehr.
Doch unter welchen Bedingungen könnte sich der täglich realer werdende Traum der Start-ups selbst zerstören – und dann zu einer “letzten Version” des American Dream im Sinn eines Endes werden? Auch dafür gibt es Prognosen, die sich hartnäckig halten – obwohl das ihnen unterliegende thermo-dynamische Bild etwas altmodisch wirkt. Es könnte sein, suggerieren sie, und es sei vielleicht gar nicht zu vermeiden, dass sich die immer schnelleren Schleifen in der Verstärkung des positiven Klimas überheizen und so mit irreversiblen Folgen implodieren. Sollte es dazu je kommen, dann werden natürlich viele intellektuelle Beobachter stolz auf ihre – Ressentiment-geladenen – Prognosen sein, und die Interpretation wird nicht ausbleiben, dass das andere Klima, das Klima des potentiellen sozialen Protests, am Ende die Welt der Start-ups zur Strecke gebracht hat. Danach müsste die Bay Area, die Gegend um die Bay von San Francisco, zu einer unternehmerischen und geistigen Wüste vertrocknen – und Silicon Valley existierte nicht mehr. Aber vielleicht könnte die der jüngste Version des American Dream ja auch eine Nachfolge finden, die ganz verschieden von den Start-ups ist. So wie die Start-ups ja nichts zu tun hatten mit ihren Vorgänger-Bewegungen, den Träumen von Hollywood oder den sich für “revolutionär” haltenden Studentenprotesten, die in den sechziger Jahren hier ihren Anfang als weltweite Bewegung nahmen.
Es muss an der Transparenz des Lichts von Kalifornien liegen, dass der American Dream sich gerade an der Westküste immer wieder erneuert hat. Eine solche Erklärung und ein solcher Glaube wären wenigstens naiv genug, um den Traum wie sein Klima am Leben zu halten Denn auf Naivität vor allem kommt es hier an.
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