Was erstaunlich ist am allerneuesten (aber doch nicht mehr brand-neuen) Reichtum, das können ins Seniorenalter vorgerückte Erzähler ihren jüngeren Lesern am besten mit lauschigen Bildern von Weihnachten erklären. Denn wir erinnern uns ja noch an Bescherungen der frühen und späteren Nachkriegsjahre, wo sich die Geschenkauswahl strikt am praktischen Bedarf ausrichtete, mit anderen Worten: wo zu Weihnachten ein Sparziel erreicht war, mit dem das für ein ordentliches Leben Notwendige endlich abgedeckt werden konnte. Das gute Hemd und die Krawatte fürs Büro, die zwei unbeschädigten Kaffeetassen fürs Frühstück, der Anorak für Schnee und Regen. 1958 war für mich das letzte Weihnachtsjahr jener Zeit und zugleich ihr Höhepunkt: zehn Jahre alt, ging ich auf die erste Klasse des Gymnasiums (für das man damals noch eine “Aufnahmeprüfung” bestehen musste) und sollte, “um abzuspecken,” wie meine Eltern streng schmunzelnd sagten, den Schulweg nun mit dem Fahrrad zurücklegen. Also wurde dieses Fahrad “mit “Dreigangschaltung” zu meinem großen Weihnachtsgeschenk – ohne irgendwelche Sonderausstattung.
Die mir zehnjährig-molligem Gymnasiasten auf den alten Photos anzusehende Enttäuschung beweist nur, dass neue Weihnachts-Freuden schon am Horizont standen. Frivole Wünsche machten sich breit. So erzählte meine Mutter — um 1960 wohl — mit viel “modernem” Verständnis, wie sich ihre Friseuse und der Chef des Salons (seine Frau wurde als nicht weiter spezifizierter “Pflegefall” erwähnt) einen gemeinsamen Heiligabend im Hotel der neuen Autobahnraststätte gönnen wollten – von den Tannen des Spessarts nur ein paar Parkplätze entfernt. Zu jenen fortgeschrittenen Wirtschaftswunderzeiten heimste unsere Mutter selbst alljährlich schweren Schmuck zu Weihnachten ein, und mein eigenes Crescendo waren “immer bessere” Photo- und Schmalfilmausstattungen, die mich bald nur noch überforderten. Diese Weihnachts-Epoche der exzessiven Wunscherfüllung wurde dann seit den siebziger Jahren Zug um Zug von einer bis heute anhaltenden Gegenwart verdrängt, welche Geschenke zu einer Herausforderung für die Geistreichen macht.
Denn als Standard gilt seither in jener immer breiteren Mittelklasse, welche die Globalisierung von Tokio bis Santiago de Chile getragen hat, dass man sich jeden aufkommenden Wunsch sofort (oder doch wenigstens innerhalb eines Monats) vom laufenden Budget erfüllen kann. Selbst den nächsten Bildungsurlaub, den nächsten Designer-Anzug und das nächste Auto. Jene anderen Objekte der Begierde aber, die uns vor ein paar Jahrzehnten noch exzentrisch und deshalb besonders begehrenswert schienen, den Sportwagen, den Pelzmantel oder die Rolex, hat eine neue, vor allem ökologische Vernunft inzwischen weitgehend aus der Imagination verdrängt. Und weil sich deshalb der Horizont unserer Wünsche und der Horizont des finanziell Möglichen auf einem (beständigen, doch kaum je erwähnten) Konvergenzkurs bewegen, kann man heute zu geschenkträchtigen Feiertagen entweder bei Verwandten und Freunden auf einen als “tief” geltenden Entschluss des Verzichtes hoffen oder muss sich der beinahe unmöglichen Herausforderung stellen, mit Geschenken schlummmernde Bedürfnisse nach bisher Unbekanntem zu wecken (nach Bird-Watching zum Beispiel, kunstvoller Druckgraphik, einem Squash-Kurs oder Fashion aus den siebziger Jahren) — was oft genug schief geht.
Gewiss, selbst in reichen Gesellschaften wird es weiterhin Frustration über unerfüllte Wünsche geben, von den wirklich Armen der Welt ganz abgesehen. Ich behaupte ja nur, dass (erstens) jene immer deutlichere Konvergenz unserer Bedürfnisse mit den Möglichkeiten ihrer Befriedigung strukturell und begrifflich einer klassischen, durchaus auch sozialistischen Vorstellung von Reichtum und Glück entspricht; dass (zweitens) diese Konvergenz an sich schon eine Form des neuesten Reichtums ist; und dass (drittens) in ihrem Erreichen als historischer Schwelle eine bemerkenswerte Entwicklung unserer Gegenwart liegt.
Noch erstaunlicher wirkt angesichts solcher Wunschlosigkeit (welche ihr sprichwörtliches Glückversprechen kaum je einlöst), die heute obsessiv dokumentierte Tatsache, dass sich Spitzen-Vermögen immer weiter vom — seinerseits deutlich angehobenen — Durchschnitt entfernen. Zweistellige Milliarden-Gewinne pro Jahr sind höchstens noch kurzer Erwähnung wert, und angesichts einer sich einstellenden Rekord-Sucht wird die Frage nur selten gestellt, welche Wunsch-Phantasien denn Geld-Volumina dieser Art überhaupt freisetzen können — oder wie sich ein Leben mit fünf Millarden von einem Leben mit fünfzig Milliarden Vermögen (Dollars, Franken, Euro oder Pfund — darauf kommt es nicht an) unterscheidet. Steht dahinter tatsächlich die so gerne beschworene “Gier” der Reichen, oder stoßen ihnen solche Einkünfte einfach zu?
Aus dem Mund der selbst Milliarden-schweren Oprah Winfrey hörte ich einmal die verhaltene Klage, dass sie (noch) nicht jedem Einwohner ihres Bundesstaats ein ansehnliches Auto schenken könne – wie es Bill Gates aus dem Staat Washington sehr wohl möglich sei. Doch ein solch ostentatives Massen-Geschenk kommt als Entlastung nicht wirklich in Frage, weil die Mega-Reichen einem Druck ausgesetzt sind, der dem Weihnachts- und Geschenkdruck in der Mittelklasse überraschend ähnlich ist. Stabilen politischen Einfluss können sich Multi-Milliardäre unter dem allgegenwärtigen Medien-Auge einer Ressentiment-geladen auf Gleichheit pochenden Mehrheit ohnehin nicht mehr erstehen (selbst in Russland scheitern solche Ansätze an der Eifersucht der politischen Machthaber). Denn für jede Gattung sichtbaren Besitzes und sichtbarer Privilegien stehen heute wirksame Diskurse der Kritik bereit, so dass ein ruhiges Leben — als akzeptable oder gar sympathische “Mitbürger” — nur solche Mega-Reiche genießen dürfen, die sich im geschlossenen Horizont der eher bescheidenen, immer schon erfüllbaren Wünsche bewegen (oder wenigstens zu bewegen scheinen).
Mit dem allergrößten Teil ihres Vermögens aber, den sie nicht investierend aufs Spiel setzen wollen, stehen sie unter der Erwartung und in der Konkurrenz, durch geistreich-größzügige Schenkungen auf sich aufmerksam zu machen. So kaufen sie – im Original – dieselbe Kunst, die sich Mittel-Reiche in Reproduktionen von hoher Qualität leisten, und stellen sie dann gerne in Museen zu freiem Eintritt aus; sie unterstützen (vor allem in den Vereinigten Staaten) jene Bildungsinstitutionen, denen die Mittel-Reichen ebenso dreistellige Spenden pro Jahr überweisen; und sie engagieren sich in hochherzigen Projekten zur nachhaltigen Überwindung von Armut, wie sie auch der Mittelklasse am Herzen liegen.
Auf ein eigenartiges Paradox will ich hinaus: während der finanzielle Abstand zwischen der (heute fortschreitend globalen) Mittelklasse und den Mega-Reichen nur weiter wächst, gleichen sich ihre Lebensformen mehr und mehr an, sogar bei der Verwendung der so verschieden bemessenen finanziellen Resourcen. Liegt dies an mangelnder Phantasie der ganz Reichen (die auf Mitleid natürlich kein Anrecht haben) – oder ist es ein Endsieg der Mittelklassen-Mentalität?
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1955, als deutsche Weihnachtsgeschenke noch den Prioritäten des Alltags gehorchten, publizierte der marxistische Exzentriker Herbert Marcuse “Eros and Civilization,” ein Buch, in dem er die damals jüngsten Entwicklungstendenzen des Kapitalismus beschreiben und analysieren wollte. Mit Erstaunen registriere ich, wie einige seiner Thesen und Beobachtungen Lebensformen der Welt von 2014 zu treffen scheinen. Auf jede allzu deutlich spürbare soziale Ungleichheit und das in ihr liegende Potential an Protest und Widerstand, behauptet Marcuse, reagiere der Kapitalismus mit Schüben der Vernunft, deren Funktion Freuds Begriff vom “Realitätsprinzip” entspräche. Deshalb habe sich tatsachlich eine Gesellschaft herausgebildet, in der mehr Bedürfnisse befriedigt und weniger Frustrationen spürbar seien als je zuvor.
Die seit der Aufklärung verheißene Freiheit aber (oder kollektives wie individuelles Glück) ergibt sich aus dieser Entwicklung nicht. Was genau jene wirkliche Freiheit und jenes wirkliche Glück sein könnten, von denen Marcuse ebenso engagiert wie vage spricht, bleibt unklar in seinem Buch. Jedenfalls haben sich Glück und Freiheit nicht eingestellt in der immer vollkommeneren Erfüllung traditioneller Glücks-Versprechen. Dies vor allem anderen macht den Skandal des neuesten Reichtums aus.