Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Frühlingslicht und Licht des Anfangs

Jedes Jahr gibt es die Euphorie eines ersten Frühlingstags. Angesichts unserer technologisch erarbeiteten Unabhängigkeit von der Natur ist das erstaunlich. Was hat es auf sich mit dem Licht für die menschliche Existenz?

Es gibt einen Morgen jedes Jahr, an dem wir sicher wissen, dass der Winter vorbei ist. Dunkle und nasskalte Tage, die noch folgen, kommen zu spät, sie ändern nichts mehr daran, dass unsere Erwartung und Sehnsucht nun auf die Wärme gestellt sind und auf immer mehr Licht. Der Winter ist “alt” geworden, wie es im Osterspaziergang von Goethes “Faust” heisst. Verglichen mit vergangenen Kulturen ist unser Alltagsleben – zumal in den nördlichen oder südlichen Breiten – soviel unabhängiger von den Jahreszeiten und ihrem Wetter geworden, dass der verbliebene Moment der Frühlings-Euphorie eigentlich erstaunlich ist und schön. Schön wie eine Erinnerung an archaische Formen des Lebens und daran, dass dieses Leben immer noch abhängt von der Natur, so sehr wir uns auch mit der Zivilisation an ihrer Peripherie eingerichtet haben – oder das wenigstens glauben. Im Mittelalter gehörte fast unvermeidlich ein “Natureingang,” ein Lob und ein Gruß an den Frühling, zur Gattung der Liebesgedichte, weil das Erwachen von Zärtlichkeit, Sehnsucht und Begierde — nicht allein in den Liedern der Lyrik — wie der Teil eines kosmischen Wiederwachens des Lichts und der Farben erlebt worden ist. Und ganz wird der Impuls dieses Moments aus unserem Leben nie schwinden.

Manchmal verbinden wir die Gewissheit des ersten Frühlingstags auch mit einem Geruch, dem Geruch der frisch wachsenden Pflanzen wohl — aber was ihn vor allem ausmacht, ist das Licht. Dabei ist schwer zu sagen, was sich denn Jahr für Jahr und immer wieder ändert mit dem ersten neuen Licht. Naturwissenschaftlich gesehen ist keine andere Voraussetzung des Lebens so elementar wie das Licht – denn das Verlöschen der Sonne in einer Zukunft, die kosmologisch gesehen gar nicht so weit entfernt von uns ist, steht unverrückbar als die letzte denkbare Grenze für das Überleben der Menschheit. Ohne Licht gibt es keine Menschen – und dass allein das Licht uns Leben gibt, durchdrang mit den Symbolen einer liebend-umarmenden Energie die Religion des Pharaos Echnaton und seiner Frau Nofretete , welche – niemand wusste je zu erklären warum – schon nach wenigen Jahren erlosch. Über diesen Rahmen und über die Grenze des Sonnen-Verlöschens hinaus helfen auch das moderne Wissen und Weltbild kaum weiter, wenn wir uns fragen, was es denn mit dem Licht auf sich hat für unsere Existenz. Andererseits vergreift man sich angesichts einer solchen Frage leicht an all zu erhabenen Worten, die schnell und fast unvermeidlich ins Banale kippen.

Die Schwere und Schwäche der philosophischen Begriffe kann zusammen mit der existentiellen Irrelevanz der meisten naturwissenschaftlichen Fakten selbst für Agnostiker ein Anlass sein, auf “Genesis” zurückzukommen, auf den fundamentalisten aller Texte in unsrer Kultur. Denn sein Schöpfungsbericht nennt ja das Licht nah beim Anfang und erzählt in einer Weise von ihm, die uns verstehen hilft, warum wir nur im Licht zuhause sein können:

“Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde aber war wüst und leer. Finsternis lag über dem Abgrund, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.
Da sprach Gott: “Es werde Licht!” Und es ward Licht. Gott sah, dass das Licht gut war, und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es ward Abend, und es ward Morgen: erster Tag.”

Wir mögen – aus unserer “modernen” Perspektive – unterstellen, dass diese ersten Sätze des Alten Testaments eine Frage enthalten, die implizit bleibt und nie eine Antwort findet (deshalb wohl hat es Zeiten gegeben, wo es verboten war, sie zu stellen). Das ist die Frage, warum ein monotheistischer – also ein vollkommener und sich selbst genügender – Gott, dessen Ewigkeit der Zeit der Welt vorausgeht und folgen wird, überhaupt die Welt erschaffen hat (genügt er sich doch nicht selbst?). Bevor er dem Licht den Befehl gab, zu erscheinen und zu scheinen, hatte er schon den Himmel und die Erde erschaffen, als die “Substanz” und das Etwas, welches sich aus dem Nichts erhebt und gegen das Nichts steht. Was soll nun mit dem Ereignis des Lichts in diese elementare Welt der Substanz kommen? Die Antwort muss heißen, dass erst mit dem Licht die Phänomene einen Ort bekommen. Denn vor dem Licht war die Erde ja “wüst und leer,” sie war ein “Abgrund.” Selbst der Geist Gottes hatte noch nicht den Himmel als seinen Ort: er “schwebte über den Wassern,” die es (genau genommen) noch gar nicht gab, weil Gott erst später ein “Firmament” schaffen sollte, das “scheidet zwischen Wasser und Wasser.”

Mit dem Licht aber werden Himmel und Erde zu getrennten Räumen – und zu einem gemeinsamen kosmischen Raum. Deshalb, weil das Licht einen Raum und Räume schafft und so allen Phänomenen ihren Ort gibt, sah Gott, “dass das Licht gut war” (als sei er sich der Konsequenzen seines zweiten Schöpfungsakts gar nicht im voraus bewusst gewesen). Und erst das Licht als Ereignis des zweiten Schöpfungsakts ermöglicht es Gott, den dritten Akt zu vollziehen, nämlich zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden und so die Zeit zu schaffen. Damit gewinnt der Prozess des Schöpfungswerks endlich seine eigene Struktur, die eine Struktur von Zeitlichkeit ist: “es ward Abend, und es ward Morgen: erster Tag.”

Für die Naturwissenschaften sind all diese Schlüsse ohne Sinn – denn aus ihnen wäre ja zum Beispiel zu folgern, dass das dunkle Universum selbst keine räumliche und keine zeitliche Dimension sein kann. Doch existentiell, glaube ich, bleibt der Inhalt von “Genesis” bis heute gültig. Ohne Licht hat unser Leben keinen Raum und auch keine Zeit, und deswegen erleben wir die Rückkehr des Lichts nach dem Winter jedes Jahr voller Euphorie, als eine Bejahung und Stärkung des Lebens. Das ist die existentielle Wahrheit des Lichts.

Aus dem Zusammenspiel einer Vielfalt von Bedingungen aber, die der Natur und nicht unserer Existenz entspringen – Meereshöhe, Luftfeuchtigkeit, Breitengrad – wird dieses eine belebende Licht, das Licht des Echnaton, an je verschiedenen Orten (die es selbst erst erschafft) in eine Vielfalt von Tönen gebrochen. Über mehr als dreihundert Tage im Jahr trifft es unsere Landschaft im Norden Kaliforniens und unser Leben ganz direkt, ohne durch Wolken dringen zu müssen, die sich jeden Morgen schon wie eine dichte grau-weiße Decke über den Pazifik zurückgezogen haben. Vom mittleren Morgen bis zur Abenddämmerung gibt dieses Licht den Gestalten ihren Ort und scharfe Konturen, fast zu scharf und zu stark, um die Farben der Dinge gelten zu lassen. Eher versetzt die Energie des Lichts die Konturen in ein kaum spürbares Vibrieren, durchdringt und verklärt ihre Dinge mit Helligkeit und umgibt sie mit einem violetten Saum. So wie in dem zigarettenlangen Moment, für den ich nach dem vorausgehenden Satz mein Büro verlassen habe und vor der Universitätsbibliothek Studenten Basketball spielen sah: hart gegen die Sonne gezeichnete Silhouetten, wie perfekte Maschinen, und zugleich beinahe von ihr durchdrungen, als Ahnung behende verklärter Engel. Danach fühlt sich der Schatten des Gebäudes an wie ein kühles Grab.

In Kastilien verbreitet sich an den Abenden jener violette Saum der Dinge sehr schnell zur Schwärze der Nacht — nur für wenige Minute treten vorher die Farben der Landschaft, der Häuser und der Kleider hervor. Als Moment von Veränderung und Bewegung ist die Dämmerung der Moment der Farben. Edward Hopper, ein amerikanischer Meister der Farben, hat nur wenige Bilder gemalt, welche nicht die Dämmerung des Morgens oder des Abends inszenieren, und vielleicht ist es ihr Zwielleicht, das seinen oft so monumentalen Gestalten ihre verhaltene Lebendigkeit gibt.

Über das Licht zu denken und zu schreiben, ist so schwer, weil es als Ursprung von Raum, Zeit und Leben all dem vorausgeht, wofür wir Worte haben.