Anmerkung: Ausnahmsweise wurde dieser Beitrag bereits am Donnerstag im Feuilleton von FAZ.NET veröffentlicht – und intensiv diskutiert.
Die Worte „unter dem Strich“ tauchen heute in der deutschen Sprache auf wie eine Selbstermahnung — wenn man sich angesichts der noch nicht in Erfahrung überführten Komplexität einer Situation zur Konzentration auf die zu ihr gehörenden „unumstößlichen Tatsachen“ als erste Orientierung verpflichten will. Ich vermute (ohne dafür „unumstößliche„ Beweis-Gründe zu haben), dass dieser Ausdruck auf das synonyme, sehr geschäftlich klingende „bottomline“ im amerikanischen Englisch zurückgeht und daher wahrscheinlich schon seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, seit der Zeit der amerikanischen Besetzung des Landes, im Deutschen zirkuliert.
Als eine solche Situation schwer entwirrbarer Komplexität erweist sich derzeit die politische und kulturelle Krise in der Ukraine, denn es gibt keine Begriffe, die unmittelbar adäquat für sie wirken. „Unter dem Strich“ ist hier bloß auf eine einzige Reaktion als „harte Tatsache“ schon seit Jahren Verlass: in der deutschen Öffentlichkeit bewährt sich (entgegen den außenpolitischen Maßnahmen der Regierung) unterschwellig, aber deutlich eine Sympathie für die Position Russlands und für den politischen Stil von Wladimir Putin. Nur einer von fünf Deutschen, so hört und liest man, hält die nach der Annexion der Krim nun über Russland verhängten westlichen Sanktionen für berechtigt.
Post-nationale und post-ideologische Stimmung
Doch warum ist es – vor und neben dieser eigenartig spontanen „Sympathie“ – so besonders schwierig, die Situation in der Ukraine zu beurteilen? Offenbar wird hier der Schwund des Vertrauens auf zwei von der Aufklärung ererbte und bis vor kurzem für absolut gültig gehaltene Zentralbegriffe der politischen Bewertung deutlicher sichtbar als je zuvor. Weder der Begriff der „Volkssouveränität“ noch jener des „Völkerrechts“, mit denen – zumal in Europa – politische Kommentatoren und die sprichwörtlich „mündigen Bürger“ noch zu den Zeiten des arabischen Frühlings und ohnehin des zweiten Irak-Kriegs so gerne hantierten, greifen im Blick auf die ukrainische Lage.
Plötzlich ist die Zuversicht bei der Deutung des politischen Willens hinter der eher freundlichen Revolution geschwunden, mit der die Ukrainer ihren barocken, Fußball-verrückten und Moskau-freundlichen Präsidenten aus Donezk in Exil schickten. Und muss man sich andererseits nicht doch auch fragen, ob Putin vielleicht recht hat, wenn er behauptet, jene Bewegung sei „vom Westen“, speziell von der Europäischen Union auf den Weg gebracht und „manipuliert“ worden? Wer will entscheiden, ob die von ihm im Blick auf die deutsche Geschichte explizit so genannte „Wiedervereinigung“ der Krim mit Russland nicht einem genuinen Mehrheitswillen entspringt? Und wie steht es mit den Wünschen und Träumen der Russisch sprechenden Bevölkerungsmehrheiten in den ostukrainischen Industriestädten Charkiw und Donezk? Wollen sie, wie viele westliche Kommentatoren unterstellen, tatsächlich ukrainisch bleiben?
Weder die pro-russischen noch die pro-westlichen Positionen verfügen über hinreichend demographische Evidenz, um ihren jeweiligen Interpretationen der Situation wirklich trauen zu dürfen. Dies hat zu tun mit einer politischen Lage, die typisch ist für unsere – deutlicher denn je seit dem achtzehnten Jahrhundert – post-nationale und post-ideologische Stimmung. Die Unterscheidung zwischen “pro-russisch” und “pro-westlich” bringt möglicherweise nicht einmal regional auf dem ehemaligen Territorium der Ukraine deutliche politische Mehrheiten hervor. Sie erfasst Sympathien für die eine oder die andere Seite, aber keine Leidenschaften mehr. Niemand ist heute bereit, für das russische Reich oder für die West-Orientierung der Ukraine zu sterben, und diese post-ideologische Gelassenheit ist ja durchaus kein Einzelfall.
Eine Deutung mit Unterhaltungswert
Damit verliert aber auch der Begriff des „Völkerrechts“ seine vermeintliche Trennschärfe – um die es ohnehin schon immer bescheiden bestellt war für einen Rechtsstandard, der sich nirgends durchsetzen ließ und deshalb nicht viel mehr war als ein Legitimationstitel für die politische Korrekten. Vielleicht ist es endlich Zeit, sich zu einer zunächst radikal wirkenden – aber dringend anstehenden – Realisierung zu zwingen: der seit langem so beliebte Bezug auf das Völkerrecht hat weder analytisch noch moralisch irgendeine Funktion bewahrt. Dies hat natürlich nicht wenig mit der Erfahrung zu tun, dass auch der Westen – und insbesondere die Vereinigten Staaten – das „Völkerrecht“ je nach Bedarf entweder zur eigenen moralischen Rechtfertigung benutzen oder ganz einfach ignorieren. Denn Gefahren für eine angeblich unterdrückte Minderheit, zu deren Schutz militärische Interventionen nötig sein sollen, lassen sich ja beliebig erfinden, zumal in einer Zeit, wo wir skeptisch gewordenen sind gegenüber der Möglichkeit, einen Mehrheitswillen überhaupt zu erfassen.
Sobald man versucht, intellektuelle, ideologische und politische Szenen nach diesem Kollaps der Dimensionen „Volkssouveränität“ und „Völkerrecht“ einzuschätzen, bietet sich zunächst eine – gar nicht unbedingt zynische – Variante mit besonderem Unterhaltungswert an. Wie wäre es denn, wenn heute allein die – östlichen wie westlichen – Politiker selbst an jene Werte glaubten, in deren Namen sie zu handeln behaupten? Wie wäre es, wenn wir Wladimir Putin im Ernst als selbstlosen Interessenvertreter der unterdrückten pro-russischen Mehrheiten in der Ukraine ansähen, und Angela Merkel wie Barack Obama die entsprechende Rolle auf der westlichen Seite zutrauten? Was sollten schon, wenn man an eine “Ehrlichkeit” der Politiker partout nicht glauben will, ihre anderen, heimlichen und wirklichen Interessen — zum Beispiel — im Blick auf die Situation der Ukraine sein?
Bewunderung, Befürchtung und Abneigung
Wer sich allerdings die Zeit nimmt, mit den elektronischen Reaktionen auf die ukrainische Krise – vor allem in Deutschland – vertraut zu werden, wird sehr bald wahrnehmen, dass dort eigentlich niemand den Politikern und „den Medien“ solche Ehrlichkeit zutraut. Im Gegenteil, das Wort, welches am direktesten die neue Volks-Stimmung zu repräsentieren scheint, ist die allerseits beliebte Fäkalinjurie „verarscht“. Ein grundlegendes, ja als Verhalten tatsächlich systematisches Misstrauen der breiten Öffentlichkeit ist der Preis geworden, den Medien und Politiker nun endlich für eine über Jahrzehnte kultivierte Tendenz zahlen müssen, ihre Kunden und Wähler zur Haltung eines pseudo-überlegenen „Durchblickens“ zu ermutigen.
Aber was muss sonst noch alles eingegangen sein in diese Rolle und Stimmung frustrierter Illusionslosigkeit, damit eine derart massive Mehrheit den über Russland verhängten Sanktionen ihre Zustimmung versagt? Eine differenzierte empirische Analyse brächte wohl eine Vielfalt heterogener Motive zutage. Etwa einen grundlegenden und durchaus auch außerhalb Deutschlands existierenden Vorbehalt gegen die Europäische Union, von der man auf internationaler Bühne nicht mehr vertreten sein möchte; eine nicht bloß schweigende Bewunderung für Wladimir Putin, weil er sich – in bewusstem Kontrast zur Europäischen Union – nicht scheut, „Außenpolitik“ in jenem prägnanten und traditionellen Sinn zu praktizieren, der militärische Macht als Instrument einschließt; hinzu kommt die Befürchtung – und wohl auch Überschätzung – der Abhängigkeit von Erdgas und anderen Rohstoffen aus Russland. Vor allem aber gehört zu dieser Haltung ein in seinen Ursachen und Wirkungen selbst komplexer Anti-Amerikanismus.
Welt-Verschwörungstheorie mit Durchblicker-Attitüde
Deshalb ist die Vermutung gewiss realistisch, dass in Deutschland vergangene amerikanische Militärinterventionen Protest und Empörung auf demselben demographischen Niveau ausgelöst haben (und weiter auslösen würden), auf dem Putins Krim-Annexion derzeit Zustimmung findet. Über die Ursprünge dieser Lage kann man endlos spekulieren. Wer sich dabei für eine Version psycho-freudianischer Logik entscheidet, wird zu der These gelangen, dass eine breite narzisstische Kränkung zum Nährboden des allgemeinen Anti-Amerikanismus in Deutschland geworden ist. Was man den Vereinigten Staaten als von der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ererbtes Über-Ich nicht vergeben will, sind die immer neuen Wellen begeisterter Assimilation von Lebens-, Stil- und Technologieformen, die in Amerika erfunden wurden (bis in gängige Wendungen der Alltagssprache hinein, wie wir gesehen haben). Denn diese Begeisterung widerspricht einer Selbstwert-Prämisse, nach der Europa weiterhin das Kreativ-Zentrum der Menschheit sein muss. Nirgends wird dies deutlicher als in den elektronischen Lebensfomen, die Europa bis in seine Poren durchdrungen haben – und die zugleich in den vergangenen Monaten stärker denn je „von den Medien“ zum Instrument eines zugleich fortgesetzten und neuen amerikanischen Imperialismus dämonisiert worden sind. Auf dieser Ebene schlägt der gekränkte Kollektivnarzissmus jetzt in die Atmosphäre einer Welt-Verschwörungstheorie mit Durchblicker-Attitüde um, drastischer gesagt: in politisch-populistischen Morast.
Gibt es etwas zu lernen aus dieser Entwicklung für die politische Klasse und für die Medien-Intellektuellen in Deutschland? Nicht zu übersehen ist, dass der über Jahrzehnte zur Beförderung eigener politscher Zwecke akkumulierte Bodensatz nun nicht ohne weiteres plötzlich saniert und durch klassische politische Grundwerte ersetzt werden kann. Diese Einsicht steigert sich zum wirklichen Dilemma in einer Gegenwart, welcher zugleich der Glauben an die praktische Kraft des Prinzips “Volkssouveränitet” verloren geht. In diesem Sinn ist außenpolitisch einfach nicht deutlich genug, welche Teile der Gesellschaft und welche Interessen man in der Ukraine unterstützen soll, während innenpolitisch der beschriebene Meinungs-Morast jeden Rekurs auf den Willen der deutschen Mehrheit verbietet. Sind wir so tatsächlich – unter dem Strich — in einer post-politischen Welt angekommen? Oder musste Politik schon immer mit solchen Widersprüchen leben — und in solchem Morast waten?