Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Die süße Seite der Sklaverei: Putin oder Hartz IV zum Beispiel

Die Sklaverei ist im Westen längst abgeschafft. Geblieben ist eine eigenartige Bereitschaft zur Selbstunterwerfung: warum soviel Menschen Putin bewundern und einen behütenden Staat wünschen.

Wer in Bibliothekskatalogen oder per Google Search nach intellektuell hochkarätiger (oder bescheidener: nach “anspruchsvoller”) Literatur zum Thema “Sklaverei” Ausschau hält, gelangt schnell zu dem Eindruck, eine Niete gezogen zu haben – und kann dies als Klage über ein “Ausbleiben interessanter neuer Forschungsbeiträge” auch von akademischer Seite bestätigt sehen. Der Befund lässt sich aus einer Konvergenz ganz verschiedener Gründe erklären. Zum ersten gehört Sklaverei nun schon seit mehr als zwei Jahrhunderten zu jenen Themen, die vor allem moralische Entrüstung auslösen und fordern, was dem Interesse an offenen Fragen stets abträglich ist. Hinzu kommt ein doppelter Mangel an historischen Quellen. Seit dem Zeitalter der Aufklärung spätestens hatten Befürworter der Sklaverei natürlich allen Anlass, mit ihren Positionen und Meinungen hinterm Berg zu halten, während auf der anderen Seite den meisten Opfern dieser Institution die Schreibkompetenz fehlte, um Zeugnisse ihrer Existenz zu hinterlassen.

Zugleich eröffnen die einschlägigen Definitionen ein Feld von Phänomenen, dessen interne Komplexität dem fokussierten Suchen und Nachdenken eher abträglich ist. Denn wenn der Begriff “Sklaverei” primär auf einen irreversiblen Verlust von Handlungsfreiheit (im Sinn des englischen Begriffs “agency”) Bezug nimmt, so gibt er zugleich den Blick frei auf eine schier unendliche Bandbreite in den Graden dieses Freiheitsverlusts. Sie geht von der Subsumption eines Sklaven unter die materiellen Güter seines Herrn bis hin zur (bestenfalls metonymischen) Klage über harte Arbeit unter direkten Instruktionen als “Sklaverei.”

Intellektuell gesehen wäre es sicher produktiver, die moralisch obligatorische (und in banaler Weise fast immer auch selbstgefällige) Entrüstung über Sklaverei zu ersetzen durch ein Erstaunen über ihr restloses Verschwinden als Rechtsstatus während der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte. Denn man übertreibt wohl kaum mit der These, dass Sklaverei bis tief in die Neuzeit zum Alltag der meisten uns historisch bekannten Gesellschaften gehört hatte. Ihre Basis waren vor allem – in den je verschiedenen historischen Kontexten “natürlich” und “evident” wirkende – Ontologien der Ungleichheit. Zum Beispiel bei Aristoteles, der die Unterscheidung zwischen Seele und Körper auf den Unterschied zwischen Menschen und Tieren projizierte und dann manche Menschen, eben die “Sklaven,” der Dimension der Tiere zuschlug (Frauen wurden – als Grenzfall sozusagen – gerade noch dem Bereich der Menschen / Männer zugerechnet):

“Wo ein solcher Unterschied wie der zwischen Seele und Körper besteht oder zwischen Menschen und Tieren (wie zum Beispiel bei denen, die dazu geeignet sind, ihren Körper zu benutzen und sich auf nichts Besseres verstehen), da handelt es sich bei der niederen Gruppen um Sklaven, und für sie ist es besser, wie für alle weniger Qualifizierten, einem Herren zu unterstehen. Denn derjenige, der imstande ist, einem Anderen zu gehören und darum einem Anderen gehört, und der genug Vernunft hat, um zu verstehen, aber nicht genug, um zu besitzen, der ist nach seiner Natur ein Sklave.”

So drastisch (und “unmenschlich”) uns diese von Aristoteles gezogene Linie der Unterscheidung vorkommen mag, die primäre Wahrnehmung anderer Menschen scheint primär fast immer eine Wahrnehmung von Differenzen zu sein. Eben deshalb ist es in der Tat so erstaunlich, dass sich das Postulat der Gleichheit als unveräußerliches Gut und als Prämisse aller Menschenrechte durchgesetzt hat — gegen die Evidenz von Unterschieden. Gleichheit aber ist – innerhalb jeder Phänomenologie des menschlichen Alltags – weniger jener “natürliche Zustand,” zu dem sie erst die Diskurse der Aufklärung gemacht haben, als eine eben im wörtlichen Sinn unwahrscheinliche und deshalb um so höher zu schätzende Zivilisations-Leistung.

Wir spüren jene historische Unwahrscheinlichkeit, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie divers und oft “von weit hergeholt” manche der während des achtzehnten Jahrhunderts im Kampf für die Gleichheit konvergierenden Argumente gegen die Sklaverei heute wirken. Adam Smith etwa verurteilte die Sklaverei mit dem Argument, dass sie die Akkumulation von privatem Besitz als Chance der Leistungsmotivation und mithin als gesamtgesellschaftlich relevantem Faktor des Wachstums eliminiere; Denis Diderot auf den anderen Seite schrieb die Fähigkeit und das Recht, individuelle Freiheit zu besitzen, allein dem Staat als Souverän zu – offenbar mit dem Ziel, damit die zur Sklaverei führende Möglichkeit der Entäußerung von Freiheit auszuschließen.

Neutralisiert und auf Distanz gehalten ist unter der Prämisse und Bedingung von Gleichheit als Kulturleistung, was ich die “Süße der Sklaverei” nennen möchte. Der Aspekt taucht schon im Aristoteles-Zitat mit den Worten auf, dass es “besser sei für die weniger Qualifizierten, einem Herrn zu unterstehen.” An eine extreme Steigerungsform dieser Asymmetrie sind wir aus der Sprache der Liebe gewohnt – und dort sehen wir die “Süße der Sklaverei” keineswegs als skandalös an. Nicht nur in der deutschen Literatur des Mittelalters gibt es Verse des Minnesangs, in denen sich die Liebenden einander explizit “als Eigentum” verschreiben wollen. Dabei geht es nicht allein um die Privilegien des Besitzens, sondern ebenso deutlich um die Freude, ja um die Süße des Besessen-Werdens. Das Motiv steckt ja auch in der bis zur Banalität berühmt gewordenen französischen Beschreibung des Orgasmus als “kleinem Tod”: höchster Genuss soll darin liegen, sich dem anderen bis zur totalen Selbstaufgabe zu schenken, bis zum Verschwinden der eigenen physischen Existenz.

Diese Süße der Unterwerfung existiert nicht allein unter der ihr Risiko aufhebenden Bedingung der Wechseitigkeit (wie im Minnevers” “Ich bin Dein, Du bist Mein”), sondern auch – wie es der aufklärerische Kämpfer gegen Sklaverei und Sklavenhalter Thomas Jefferson formulierte — in der Asymmetrie und Komplementarität zwischen den “wilden Leidenschaften des aggressiven Despotismus und der selbstauslöschenden Unterwerfung.” Was aber kann, um es drastisch zu formulieren, der “Mehrwert” selbstauslöschender Unterwerfung sein? Antworten auf diese Frage lassen sich am besten einem Blick auf die Anforderungen der Handlungsfreiheit (“agency”) als Kontrasthintergrund totaler Unterwerfung abgewinnen. Handlungsfreiheit verlangt erstens beständig Entscheidungen, die sich nicht induktiv oder deduktiv herbeiführen lassen, sondern gegen einen grundlegenden Mangel an Evidenz nur mit Urteils-Kraft zu erreichen sind (und das von der deutschen Philosophie in diesem Zusammenhang immer wieder gebrauchte Wort “Kraft” verweist auf den Preis einer Anstrengung, die mit Freiheit, Entscheiden, Handeln verbunden ist). Handlungsfreiheit unter der Bedingung von Gleichheit (als Zivilisationsleistung) bringt zweitens eine psychische Verpflichtung hervor (einen “Druck” oder “Stress,” wie man in der deutschen Alltagssprache heute gerne sagt), sich mindestens auf dem Niveau “der Anderen” zu halten. Die Freuden der Selbstaufgabe stehen unter den – unwahrscheinlichen — Bedingungen der Gleicheit nicht offen. Drittens bedeutet Gleichheit als Bedingung ausbleibender Privilegien und symmetrisch verteilter Grade der Freiheit auch, dass jedes Individuum Privilegien-Absenz und eigene Freiheit nutzen soll, um seinen notwendigen Lebensunterhalt zu erwerben. Vor allem aber sind die von Freiheit und Gleichheit offiziell ausgeschlossenen Beziehungen fast ausnahmslos asymmetrische Beziehungen, das heisst: “symbotische” Beziehungen (und natürlich hat das Wort “symbiotisch” heute in diesem Zusammenhang eine absolut negative Bedeutung angenommen), Beziehungen entastet von der Verpflichtung, immer wieder neu ausgehandelt und in einer prekären Schwebe gehalten werden zu müssen – wie es bei Beziehungen unter Gleichen der Fall ist. Auch das Ausbleiben dieser Instabilität und ihrer Folgen gehört zur “Süße” der Sklaverei.

Ob es eine “Leidenschaft der Unterwerfung” war, welche die in Sklaverei geborene Sally Hemings als “Konkubine” während der dreißig letzten Lebensjahre des Witwers Thomas Jefferson genoss, werden wir nie erfahren, weil keine Äußerungen von ihr selbst überliefert sind. Hingegen wissen wir, dass Jefferson Sally Hemings per Testament seiner Tochter Martha als Eigentum vermachte, und dass sie wenige Jahre später in Virginia als freie Person zusammen mit einigen ihrer Blutsverwandten lebte, denen Jefferson im Testament die Freiheit gegeben hatte. Das während des frühenden neunzehnten Jahrhunderts gegründete, erst 1889 durch Abschaffung der Sklaverei und Einführung der Republik abgelöste brasilianischen Imperium zählte solche symbiotischen Beziehungen zwischen Sklaven und Herren unter dem Leitbegriff der “Herzlichkeit” (“Cordialidade”) explizit zu den positive Komponenten seiner Identität. Der große Anthropologe Gilberto Freyre hat das Motiv aufgegriffen und entwickelt in seinem Buch “Herrenhaus und Sklavenhütte,” das 1934 erschien und einen bis heute entscheidenden Einfluss auf das Selbstbild der Brasilianer gehabt hat. Als symbiotisch-komplementäre Beziehung zwischen dem leidenschaftlichen Despotismus und der leidenschatlichen Unterwerfung seien die erotischen Beziehuneng zwischen afro-brasilianischen Sklavenfrauen und (vor allem jugendlichen) “Herren” entscheidend für die Entwicklung der brasilianischen Gesellschaft geworden. Sie versteht sich bis heute — in ihrer entscheidenden Mehrheit und entgegen aller längst gegenläufigen Evidenz – als Verwirklichung des Prinzips der “Cordialidade” und sieht den “Mulatten” als ihre emblematische Figur an.

Natürlich ist es eine Selbstverständlichkeit wie eine Verpflichtung, Phänomene und Verhaltenstendenzen dieser Art als “ideologisch” zu denunzieren. Und sie lassen sich ja beileibe nicht auf Brasilien als einen exotischen Horizont abschieben. In der Bewunderung so vieler deutscher Wähler für die unilaterale “Entschlossenheit” in der Politik von Wladimir Putin zeichnet sich die Sehsucht nach einer “Herzlichkeit” der Unterwerfung ab; und ebenso im Bestehen auf die angebliche Verpflichtung von “Vater Staat,” allen Bürgern ein aus Steuergeldern bestrittenes minimales Einkommen zu garantieren (auch wenn Hartz IV als strukturelle Bedingung gerade nicht mit Gesten der Unterwerfung einherzugehen scheint, sondern mit strikten Forderungen staatlicher Nicht-Intervention).

Muss man dann also – in einer Gesellschaft, die demokratisch sein will – auf langfristige “Umerziehung” setzen, auf Umerziehung zur Überwindung solcher Symptome eines Nachlebens von Sklaven-Mentalität? Oder sind diese Elemente von struktureller Asymmtrie und Ungleichheit nur verdeckte Bedingungen für die Durchsetzung und Beibehaltung des Gleichheitsprinzips, weil sie – sozusagen als Gegengewichte – die Prinzipien und Institutionen von Gleichheit am Leben halten, die uns sonst tendentiell überforderten?