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Frankfurt Airport und der fleißige Geruch des Wirtschaftswunders

Einige deutsche Städte, vielleicht nicht zufällig die größten von ihnen, haben eine historisch entstandene Form und identitätsstiftende Stimmungen, die ihnen eine Aura von Geschlossenheit geben. München zum Beispiel ist bis heute geprägt von Straßenzügen und Gebäuden, die im neunzehnten Jahrhundert für die Haupstadt eines Reichs im katholischen Südosten von Mitteleuropa entstanden waren. Hamburgs nördliche Eleganz entspringt aus der Offenheit des Hafens und dem Nebeneinander einer proletarischen Tradition mit dem großbürgerlich-protestantischen Stil des Handels. In Berlin vernarben Spuren von zwei verlorenen Weltkriegen, die dort ihren Ausgang nahmen, auf dem Ruecken des Gründerzeit-Imperialismus.

Typischer für die alte Bundesrepublik zumindest waren Städte wie Köln, Stuttgart oder Frankfurt, wo die auf Stil kaum bedachte Hektik des Wirtschaftswunders in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die vom Bombenkrieg hinterlassenen Lücken ohne Bedacht und ohne Rücksicht auf historische Monumente mit immer mehr Häusern füllte, die der wirtschaftlichen Expansion ihrer Gegenwart nachkommen sollten. Als die Energie jener Expansion nachließ, waren die Stadt-Zentren gezeichnet von den Spuren einer fleißiger Zeit, die nicht zurückblicken wollte und kaum vorausblicken konnte, mit kleinlichen Formen und blassen Farben, versammelt in urbanistischer Klaustrophilie. So sind das Wirtschaftswunder und mit ihm ein Schweißgeruch seiner Beflissenheit in diesen Städten zum Paradox einer ganz eigenen Monumentalität geworden, zur Monumentalität einer Zeit, die sich Monumente nicht zutraute.

In Frankfurt am Main findet man Viertel dieses Stils in aller pittoresken Ausführlichkeit, doch der Status der Stadt als einer der zentralen europäischen Finanzplätze hat die sonst begrenzte Dynamik des Wirtschaftswunders dort länger am Leben gehalten — und über sich selbst hinausgetragen. Das mag der Grund sein, warum es allein in Frankfurt unter allen deutschen Städten eine “Skyline” gibt, welche bedeutende Architekten inspiriert hat – und es war neben der geographischen Lage wohl eben diese Energie, welche den Flughafen von Frankfurt über alle deutschen Flughäfen hinauswachsen ließ. Im Gegensatz zur “Skyline” aber, die mit dem zwischen Wolkenkratzer und bundesgartenschauhafter Aussichtsterasse unentschiedenen “Henninger Turm” (einschließlich des ehrgeizig nach ihm benannten Radrennens) ihren Ausgang nahm und dann tatsächlich eine Form fand, hat sich im FraPort bis heute das Wirtschaftswunderprinzip fortgesetzt, zukunftsblind immer nur dem neuesten Bedarf hinterherzubauen.

Mitte der fünfziger Jahre, als meine Eltern wochenends nach Frankfurt fuhren, um das sie noch überraschende Geld großstädtisch auszugeben, waren ein Milchshake im Dachgartencafé des Flughafens und der Blick auf die ersten DC 3s und Super Constellations der gerade wieder gegründeten Lufthansa die höchsten meiner Volksschülerträume. Bald sollte dort Elvis Presley landen, um seinen Militärdienst in der Nahe von Bad Nauheim abzuleisten. Der Film “GI Blues” arrangierte fuer ihn ein Deutschland der Kleinstädte um eine Frankfurter Szene, zu deren neureicher Opulenz das berüchtigte Bahnhofsviertel gehörte. Dort hatte die Karriere der Rosemarie Nitribitt begonnen, um über ihren schwarzen Mercedes 190 SL mit roten Ledersesseln moralkonform zum gewaltsamen Tod zu führen.

Schon 1962 aber schoss der Ehrgeiz meines Vaters über Frankfurt hinaus. Ich durfte Alex, seinen litauischen Freund aus den Nachkriegsjahren, besuchen, der nach Toronto ausgewandert war und es dort zu Wohlstand gebracht hatte. Auf neue Reisegelüste dieser Art hatte inzwischen der Bau der heutigen Halle A reagiert, deren Anzeigetafel mit den sich drehenden Buchstabenklötzen wie das Versprechen auf eine utopische Zukunft wirkte. So aufregend war es noch, für einen Flug mit der Boeing 707 nach Kanada einzuchecken, dass der Besitzer des Reisebüros meine Eltern und mich kostenlos nach Frankfurt begleitete.

Zweiundfünfzig Jahre später schaue ich immer noch alle paar Monate auf die anscheinend selbe Anzeigetafel, aus Nostalgie eher als um das Gate zu einer Flugnummer zu finden. Denn sie ist das Emblem des Frankfurter Flughafen-Labyrints geworden, in dem sich ungezählte historische Schichten aus ungezählten “Erweiterungsphasen” überlagern. Sie alle waren zu schnell und zu bloß reaktiv geplant, um jene Reste der Vergangenheit zu eliminieren, die der jeweiligen Erneuerung nicht im Weg standen, oder um auch nur die allernächste Zukunft vorwegzunehmen; und sie alle konvergieren bis heute in dem Gefühl, dass Baustelle, Improvisation und Vorläufigkeit täglich neu zum Syndrom eines Dauerzustands zusammenwachsen. Die monumentale Anzeigetafel, immer andere und immer längere Rolltreppen, eine schier endlose Unterführung mit ihrer müden Kopie der Beleuchtung von O’Hare in Chicago, der Skytrain zwischen den Terminals, der Z-Bereich für die Flüge in die USA – keine dieser Maßnahmen hat je die Passagiere vor dem Zeitverlust der Außenpositionen, langen Fußwegen und vor plötzlichen Staus an den Sicherheits- oder Passkontrollen bewahrt. Nur in Frankfurt ist die Flughafenverwaltung noch nicht dazu gekommen, die fremdsprachigen Standard-Ansagen von ihrem heftigen deutschen Akzent zu befreien (“Pleace don’t leaf your luggich unattentet”), obwohl doch gerade in Deutschand bemerkenswert viele junge Leute bemerkenswert viele Sprachen so gut beherrschen.

Es gibt noch einige andere Flughäfen im internationalen Verkehr, wo jede weitere Erweiterung zu spät kommt und mit allen vorigen Erweiterungen oder Umbauten in einer Kontinuität von wachsendem Chaos konvergiert. Der Kennedy Airport in New York war so ein Fall – und ist deswegen wohl aus den Routen der meisten großen Fluglinien gestrichen worden. Die Entropie von London Heathrow oder von Benito Juárez in Mexiko Stadt überbietet Frankfurt spielend — aber ich reagiere anders auf sie. Assoziiert man das Chaos von Heathrow mit der Komplexität des Commonwealth? Nehme ich das Chaos in der mexikanischen Hauptstadt hin, weil ich – voller Herablassung – ihren Bewohnern die Lösung einer komplexen Organisationsaufgabe ohnehin nicht zutraue? Oder fühle ich mich, ohne es zu wissen, verantwortlich für Frankfurt, weil ich kaum hundert Kilometer entfernt geboren bin? Das Chaos dort, meine ich, hat ein ganz anderes, ein Wirtschaftswunder-Gefühl, weil es nicht – wie Heathrow zum Beispiel oder Benito Juárez – in aggressiver Gelassenheit auf sich selbst reagiert. Schilder mit den Wörtern “We apologize for the Inconvenience” gehören zu allen Flughäfen heute, aber nur Frankfurt scheint immer noch an dem Traum und der Fleißaufgabe zu hängen, nach der nächsten Bauphase endlich ein wohl funktionierender, angenehmer, vielleicht sogar schöner Flughafen zu sein.

Der Eindruck erinnert mich an eine peinliche Szene aus “GI Blues,” wo Elvis mit dem schwersten amerikanischen Akzent “Muß I denn, muß I denn zum Städtele hinaus” singt. Southern Gospel, die Energie des Rock and Roll und die GI-Uniform passten damals schon so wenig zur spätest-romantischen Lieblichkeit, wie sich heute ein internationaler Flugplatz in die Äppelwoi-Stimmung des Nitribiit-Jahres 1957 drängen lässt. Oder würde ich die große Anzeigetafel in Halle A und den Geruch des Wirtschaftswunders vermissen, wenn ich sie je überleben sollte?

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