Das Gebäude der “Alten Universität” in der Mitte von Heidelberg jedenfalls ist eine für mild interessierte Touristen ausgelegte Fassade, mit einem Museumsshop, einem weder zu Stauungen neigenden noch je aussetzenden Strom von Besuchern und einer neugotisch aufgeputzten “Alten Aula,” wo neben dem Durchlauf der Führungen auch akademische Feierstunden inszeniert werden und manchmal sogar intellektuell ernsthafte Gastvorlesungen. All die gelegentlichen Professoren und Studenten dort unterstreichen nur den Status des Raums als schöne Fassade. Kein anderes Universitätsgebäude kenne ich, weder in Oxford noch in Cambridge, in Harvard, Yale oder Princeton, in Bologna, Salamanca oder Coimbra, das sich von der Innenseite seiner ursprünglichen Bestimmung weg so vollkommen nach außen wendet. Die ganze Stadt Heidelberg ist eine schöne Fassade — ohne dass ich erst einmal dem Reflex nachgeben will, zu sagen, sie sei “nur” eine schöne Fassade.
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In keiner Stadt der Welt, glaube ich voll Dankbarkeit, findet man so viele Stände und Geschäfte mit Postkarten wie in Heidelberg. Universitätsgebäude zeigen sie fast nie, doch fast immer das Schloss im roten Sandstein, mit der Brücke, wo Hölderlin gestanden sein muss, dem Neckar und einem weißen Dampfer für Leute auf “Ausflug” (wie man vor einem guten halben Jahrhundert sagte, als Heidelberg die geheime Hauptstadt eines heute “alten” Deutschland gewesen sein muss). Die eigenartig alpin wirkende und auch etwas heruntergekommene Bergbahn als früh-brutale Geste aus den sechziger Jahren verbindet deshalb die Innenstadt mit dem Schloss und trennt es von ihr. Das Schloss mag tatsächlich nur Kulisse sein: für die darüberziehenden Wolken, von denen Walter Benjamin schrieb; für die meisten Bewohner der Stadt, weil sie fast stolz darauf sind, nie auf dem Schloss gewesen zu sein; und für die Touristen, die, einmal oben angekommen, sich fragen, warum sie denn je so eine unwiderstehliche Verpflichtung fühlten, in die Leere hinter und zwischen den Fassaden zu kommen. Nur Kulisse ist das Schloss und Fassade, in aller schönen Vollkommenheit.
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Wie in Rothenburg ob der Tauber, das Heidelberg freilich die Präposition “ob” voraus hat (überhaupt Präpositionen in Deutschland: sollten Universitäten wie diese hier nicht “zu Heidelberg” heißen, wie die “zu Köln” oder “Humboldt zu Berlin”?), wie sonst jedenfalls nur in Rothenburg ob der Tauber, gibt es in Heidelberg mehrere Läden verschiedener Preisniveaus, die von internationalen Touristen als spezifisch “deutsch” identifizierte und begehrte Gegenstände regional unspezifisch zum Kauf anbieten: Lederhosen und Dirndl, Maßkrüge, Kuckucksuhren, Puppen mit Zöpfen (in brüchiger Plastik-Qualität oder Käthe-Kruse-Charme). Heidelberg ist und verkauft sich als “romantisches” Deutschland “ohne Fehl,” “romantisch” ebenfalls im unspezifischen Sinn. Heidelberg zelebriert und genießt sich in wohlig schummriger Enge hinter Butzenscheiben, welche den Blick auf die Welt aufhalten und so ersparen. Um 1815 war Madame de Staël aus Genf und Paris überzeugt und sehr erstaunt, dass hinter solchen Scheiben die brillantesten Köpfe ihrer Zeit zu denken und zu dichten vermochten.
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Wenig überraschend zunächst steht gleich hinter der “Alten Universität” ein Gebäude, das “Neue Universität” heißt, aber mit der schönen minimalistischen Form-Eleganz der zwanziger Jahre überrascht und mit der das akademische Deutschland von heute überfordernden Inschrift “Dem lebendigen Geist.” Der manchmal so bewegend inspirierte (und dafür von den Kollegen immer noch gerne abgemahnte) Germanist Friedrich Gundolf, stelle ich mir vor, sollte dort gelehrt haben, vor Hörern aus dem poetisch wogenden Männerbund um Stefan George, der wie Gundolf zu Heidelberg gehörte. Nicht mehr als die akademische Version des Heidelberg-Tourismus sind solche Bilder in meinem Kopf, Bilder, die an einem ruhigeren Tag auszumalen man sich beständig verspricht, während die moduldefinierten Studenten von heute im Stundentakt die dem “Lebendigen Geist” gewidmeten Hörsäle füllen. Wann könnte der Geist die Säle verlassen haben? Sollte es nach 1933 geschehen sein, dann ist er wohl nach der Mitte der vierziger Jahre (zusammen mit den naiv begeisterten amerikanischen Besatzern) wieder eingezogen, als sich in Heidelberg beinahe plötzlich um den damals fünfzigjährigen Philosophen Hans Georg Gadamer viele von den intellektuellen Talenten der Weltkriegsgeneration versammelten, auf der Suche tatsächlich nach dem lebendigen Geist und auf der aussichtslosen Flucht vor ihren besonderen Vergangenheiten. Münster, als die Stadt des norddeutsch-ernsten Katholizismus ein anderes Heidelberg, war auch der andere Hort und Ort des lebendig brennenden Nachkriegsgeistes – ein Ort, der heute (wenn dies überhaupt vorstellbar ist) noch sichtbarer als Heidelberg von seiner Vergangenheit überfordert wirkt.
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Mit Innenstädten, deren tonale Kohärenz etwas von Filmkulissen hat, verdichten sich in Münster und Heidelberg je besondere Stimmungen aus der Vergangenheit. Wer am Samstagmorgen in Alt-Heidelberg einkaufen will, den überfällt ab und an die lähmende Atemlosigkeit eines Fußgänger-Verkehrsstaus, wo sich nicht mehr ohne weiteres das Geschäft erreichen lässt, auf das man zusteuern will. Dazu wölbt sich eine Innenseite nach außen, die an den eher akademischen Werktagen in den Hintergrund tritt: “Wie schön es wäre,” habe ich tatsächlich im angenehmen Rhythmus des örtlichen Dialekts an drei aufeinanderfolgenden Samstagen in drei Versionen gehört, “wie schön die Stadt ohne die vielen Amerikaner und Japaner doch wäre.” Noch die Konzentration auf Japaner und Amerikaner ausgerechnet klingt im scharfen Mundgeruch der Xenophonie wie ein Anklang an die lauwarme Nachkriegszeit. Und zu welcher Gegenwart sollen die Burschenschaftler und Corpsstudenten gehören, die wochenendnachts unzeitlich patriotische Lieder mit nicht mehr gut konturierter Silbenbildung schmettern und “im Wichs,” mit ihren bunten Bändern und Mützen, immer gerade von einer “Mensur” zu kommen scheinen, von jenen Fechtritualen mit scharfen Waffen, in die eingefroren ein Patriotismus aus den Unabhängigkeitskriegen gegen den fremden Kaiser Napoleon nun schon zwei Jahrhunderte überlebt hat. All dies, Lederhosengeschäfte, banale und gehobene Xenophobie aus Gegenwart und Vergangenheit, Spurenelemente vom lebendigen Geist der Zwanziger Jahre und wohlsortierte Geschäfte in privater Hand, all das entfaltet sich und fließt entlang von Alt-Heidelbergs einziger Haupt-Straße, die ja wirklich Hauptstraße heißt, sehr schön alles, selbst wenn die Tage regnerisch sind, mit vielen Vergangenheiten, die sich so unangenehm vermischen können wie Braten- und Salatsoße auf einem Teller — und für den Geist der Gegenwart wohl schon immer zu viel.
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Wie keine andere Stadt in Deutschland ist Heidelberg imstande, dem allgemeinen Renovierungs-Furor zu widerstehen, einer Energie, die das Land immer verspätet noch aus dem Nachkrieg einholt, dem Zwang zur Begradigung und getreuen Restauration. Heidelberg aber erlaubt sich bröckelnde Hauswände, schiefe Treppen – und sogar mehrere Restaurants und ”historische Weinlokale” aus der unbestimmt permanenten Vergangenheit, deren Speisekarten von vor sieben oder acht Jahren kaum mehr lesbar sind hinter Glasscheiben, die jemand einmal wie aus Wut zertrümmert hat. Ebenso viele Häuser entlang der Hauptstraße berichten beflissen von Gästen der Stadt, vom sehr jungen Goethe auf dem Sprung nach Weimar und dem Goethe, der sich schon als Monument seiner Selbst überlebt hatte, von Clemens von Brentano mit den Texten von “Des Knaben Wunderhorn” im Kopf und auf dem Schreibtisch, von Hegel, Hölderlin, aber auch von Stefan George und Max Weber. Mit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert werden die Namen seltener und setzen fast aus, nachdem sie gerade noch zu jenen Nachkriegsjahren geführt haben, wo Studenten auf der Suche nach einem neuen Feuer im offenen Luftzug des Geistes eine Verbindung gegen den Geist der Studentenverbindungen gründeten, die “Semper Apertus” hieß, immer offen auf die Welt. Heute ist bloß noch Entrüstung gegen die Burschenschaften geblieben, eine Entrüstung aus der arrogant-hilflosen Distanz sozialdemokratistisch gestimmter Geistigkeit, die sich zu Alt-Heidelberg so verhält wie das Schloss zur Hauptstraße, zwei Kulissen, denen ein Vordergrund fehlt — zum Bespielen der Gegenwart.
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Am späten Freitagmorgen lesen wir Properz im Seminar und sehen etwas beschämt von Satz zu Satz auf die deutsche Übersetzung. Wie er sich seine Beerdigung vorstellt, beschreibt Properz, und plötzlich fährt uns eine vor zweitausend Jahren vorgestellte Zukunft in die Glieder, mit Knochen, Staub, dem Stein der Monumente — und in einer Seitenstraße der Heidelberger Hauptstraße. Sperrig mit überzeugender Eleganz ist Properz unter uns und in den Worten einer Studentin, die Désirée heißt (wie die nie geheiratete Verlobte von Napoléon Bonaparte). Am frühen Freitagnachmittag lassen wir die ganz verschiedenen Prämissen beim Lesen des späten Heidegger aufeinanderprallen, wie in jenen ritterlichen Turnieren, die es nur in der Vorstellung der Romanzen und Embleme gegeben hat. Ob diese kleinen hellen Flammen den Altheidelberger Wind von der Hauptstraße überleben werden? Der lebendige Geist hat es schwer hier, schwerer als in Bochum oder Friedrichshafen, aber ohne Chance ist er beileibe nicht. Das ist die andere Seite von Heidelberg.